Islamistische Angriffe in Nigeria

Terror den Hütten

Die islamistische Sekte Boko Haram intensiviert im Norden Nigerias ihre Angriffe. Über die Struktur der Organisation ist weiterhin wenig bekannt.

Die Angreifer kamen am späten Nachmittag in die Kleinstadt Konduga bei Maiduguri im Nordosten Nigerias. Mallam Baba Abubakar, ein Bewohner Kondugas, berichtete der nigerianischen Tageszeitung Vanguard von zwei gepanzerten Truppentransportern, fünf in den Tarnfarben der Armee bemalten Pick-ups und fünf Motorrädern; ihre Besatzung war gut bewaffnet und hatte auch selbstgebaute Sprengsätze dabei. Es war ihr leicht möglich, die Sicherheitskräfte auszuschalten, bevor sie gegen die Bevölkerung vorging. Mindestens 39 Menschen sollen bei dem Angriff am Dienstag voriger Woche getötet worden sein, der der islamistischen Sekte Boko Haram zugeschrieben wird. Eine Moschee, der Markt und Hunderte Häuser wurden zerstört. Nur zwei Tage darauf töteten mutmaßliche Islamisten neun Soldaten in einem Hinterhalt, als diese sich auf dem Weg zu einem Einsatz befanden. Derzeit befinden sich die Islamisten, die ihre Hochburg im Nordosten Nigerias haben, eindeutig in der Offensive. Bereits im Januar verloren bei einer Attacke auf das Dorf Kawuri 85 Menschen ihr Leben. Am Samstag töteten Boko-Haram-Kämpfer im Dorf Izghe nahe der Grenze zu Kamerun über 100 Menschen.

Der Staat und seine Sicherheitskräfte hatten dem Ansturm der Islamisten bisher wenig entgegenzusetzen. Oft sind ihre Gegner, die sich derzeit vor allem auf die ländlichen Gegenden im Norden Nigerias konzentrieren, um dem Verfolgungsdruck in den großen Städten zu entgehen, besser ausgerüstet und motivierter als die Joint Task Force (JTF), eine Spezialeinheit der Armee. Mitte Januar feuerte Präsident Goodluck Jonathan die Leitung des Militärs. Einen Erfolg im Kampf gegen Boko Haram hat Jonathan bitter nötig. Wirtschaftlich und bei der Korruptionsbekämpfung hat der Präsident wenig vorzuweisen, und seine Gegner – auch in den eigenen Reihen – wetzen im Vorfeld der Wahlen 2015 bereits die Messer. Zusätzlich erschwert wird die Aufstandsbekämpfung dadurch, dass für führende Militärangehörige und zivile Berater die Verlockung groß ist, Mittel aus dem Sicherheitsbudget zu entwenden und sich daran zu bereichern (Jungle World 42/2013). Bereits im Krieg gegen die Rebellen im ölreichen Nigerdelta, der durch eine Amnestie und Demobilisierung 2009 vorerst beendet wurde, war das eine gängige Praxis, die zur Verlängerung des Kriegs beitrug. Auch das oft rücksichtslose Vorgehen der JTF kostet regelmäßig Menschenleben. Viele Einwohner der Region haben vor dem Militär ebenso viel Angst wie vor den islamistischen Aufständischen und arbeiten aus Furcht vor Vergeltung nicht mit der Armee zusammen.
Nach Informationen der Gesellschaft für bedrohte Völker sind seit der Verhängung des Ausnahmezustands in den Bundesstaaten Borno, Adamawa und Jobe Mitte Mai 2013 mehr als 1 500 Menschen umgebracht worden. »Mit ihren Angriffen wollen die islamistischen Kämpfer Chaos und Terror verbreiten, um die staatliche Ordnung zu gefährden«, so der Afrika-Referent der Organisation, Ulrich Delius. »Zwar sind die Boko-Haram-Kämpfer von ihrem Ziel, der Schaffung eines Gottesstaates, heute weiter denn je zuvor entfernt«, so Delius. »Aber den nigerianischen Sicherheitskräften ist es trotz des Einsatzes oft brachialer Gewalt nicht gelungen, den Terror der Sekte einzudämmen.«
Zugleich sehen sich Muslime, die im christlich geprägten Süden des Landes wohnen und arbeiten, immer stärkerer Verfolgung ausgesetzt. Im Bundesstaat Rivers im Nigerdelta etwa wurden knapp 300 Menschen festgenommen, weil ihnen die Unterstützung Boko Harams vorgeworfen wurde. Nach ihrer Freilassung mussten sie Rivers in Richtung Norden verlassen.

Über den Charakter und die Struktur von Boko Haram, die sich selbst Jama’atu Ahlis Sunna Lid­da’awati wal-Jihad (Versammlung der Menschen in der Tradition der Bekehrung und des Jihad) nennt, sind sich Beobachter der Situation im Norden Nigerias uneinig. Während die meisten in- und ausländischen Medien von einer relativ geschlossenen, homogenen Organisation ausgehen, betonen andere den Franchise-Charakter von Boko Haram. Wegen fehlender Informationen müsse man davon ausgehen, dass sich einige rein kriminell motivierter Gruppen unter dem Label Boko Haram betätigten und zum Beispiel Banküberfälle und Raubzüge organisierten.
Der Nordosten Nigerias ist ein ideales Umfeld für diese Gruppen. Der Staat ist – insbesondere außerhalb der großen Städte – hier so gut wie nicht präsent, die Politik ist durch Korruption und eine gehörige Portion Gewalt gekennzeichnet und die Nachbarländer Tschad, Niger und Kamerun bieten sich als Rückzugsgebiete an. Boko Haram stellt den Kampf gegen die Korruption und den Machtmissbrauch, angeblich eingeführt und akzeptiert vom globalen Westen, in den Mittelpunkt ihrer Propaganda.
Die Organisation wurde 2002 in der Stadt Maiduguri gegründet. Religiöser Anführer der ungefähr 200 Hochschulabsolventen und arbeitslosen Jugendlichen, die sich ihr anschlossen, war damals Mohammed Yusuf. Mitte 2003 zog sich die Sekte in eine entlegene Gegend des Bundesstaats Yobe zurück und etablierte dort ein Camp. Als Reaktion auf die Bestrebungen der Armee, das Camp aufzulösen, attackierten die damals Taliban genannten Islamisten Polizeistationen und staatliche Einrichtungen. Doch schließlich mussten sie kapitulieren und zerstreuten sich zunächst. Mohammed Yusuf wurde zur Fahndung ausgeschrieben und suchte angeblich Asyl in Saudi-Arabien. Auf Vermittlung des Gouverneurs von Borno konnte er nach Nigeria zurückkehren und seine Unterweisungen im islamischen Recht fortsetzen. Mehrere Male wurde Yusuf verhaftet, doch noch bestand er nach eigenen Auskünften auf einer gewaltfreien Errichtung eines islamischen Staats im Norden Nigerias.
2009 markierte einen Wendepunkt in der Geschichte der Organisation. Teilnehmer einer Beerdigungszeremonie und die Polizei lieferten sich tagelang Kämpfe in Maiduguri, Yusuf und Dutzende seiner Mitstreiter wurden auf einer Polizeistation erschossen (Jungle World 32/2009). In der Folge eskalierten sowohl die Angriffe der Islamisten als auch das Vorgehen der Polizei und des Militärs. Boko Haram tauchte in den Untergrund ab, und im Juni 2010 erklärte sich Abubakar Shekau, der Stellvertreter Yusufs, zum neuen Anführer der Gruppe. Rache für Yusuf fungierte nun als weitere Motivation für die Reste der Gruppe, den Kampf gegen den Staat auszuweiten.

So wenig man über die Organisation und die Struktur von Boko Haram weiß, so unklar sind die internationalen Verbindungen der Gruppe. Einzelne Mitglieder kämpften wohl in Nordmali, wo 2012 Tuareg und Islamisten die Macht übernahmen, und brachten von dort aus Waffen ins Land, die aus libyschen Arsenalen stammten. Gelegentlich wird von Kontakten zu dem in der Sahel operierenden al-Qaida-Ableger und zur somalischen al-Shabaab berichtet.
Doch der brutale Aufstand der Islamisten im Norden Nigerias ist überwiegend ein nigerianisches Problem. Letztlich ist nicht auszuschließen, dass einflussreiche Politiker Teile der Truppe oder das Label Boko Haram für ihre Interessen nutzen, indem sie Konkurrenten ausschalten lassen und eine allgemeine Unsicherheit aufrechterhalten, die die Zentralregierung diskreditieren soll. Bereits 2012 meinte der Schriftsteller Wole Soyinka: »Jene Leute, die Boko Haram auf die Nation losgelassen haben, sind Politiker. Sie sind diejenigen hinter Boko Haram. Diese Minderheit ist fokussiert, sehr mächtig und sehr reich.« Diese Behauptung ist bis heute nicht belegt. Es wäre jedoch angesichts der politischen Zustände in Nigeria keine Überraschung, wenn sie der Wahrheit entsprechen würde.