Die wirtschaftliche Entwicklung, die zur Krise geführt hat

Die Illusionen platzen

Das System des Chavismo hat zwar die Armutsrate gesenkt, aber ein wirtschaft­liches und soziales Desaster hervorgebracht, das zumindest längerfristig sein politisches Überleben bedroht.

Es läuft nicht rund im Land der »bolivarischen Revolution«. Selbst Heinz Dieterich, der ehemalige Berater des im vorigen Jahr verstorbenen Hugo Chávez und Verfasser des Buchs »Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts«, kommt ins Zweifeln. Chávez’ Nachfolger, Präsident Nicolás Maduro, bezeichnete er der Website Latina-press.com zufolge als »orientierungslosen Dilettanten mit einer mittelmäßigen Truppe«, nur eine »Regierung der nationalen Rettung« unter Einbezug der Opposition könne das Land noch vor einem Bürgerkrieg bewahren.
Das mag übertrieben erscheinen. Noch hat die venezolanische Regierung die Kontrolle über die Polizei und das Militär, die offizielle Politik der »Informationshegemonie« nutzt die Staatsmedien für Propaganda, parastaatliche Milizen dienen als Truppen fürs Grobe. Anders als 2002, als Demonstrationen und ein stillschweigend von der US-amerikanischen Regierung unterstützter Putschversuch des Militärs Chávez kurzfristig aus dem Amt drängten, und anders als 2003, als die Opposition versuchte, die Ölindustrie, sozusagen das ökonomische Herz des Rentiersstaats, lahmzulegen, scheint die Regierung Generäle und Ölarbeiter derzeit im Griff zu haben.
Es ist vor allem das wirtschaftliche und soziale Desaster, das zumindest längerfristig das chavis­tische System bedroht. »Diese tropische Möchtegern-Alternative zum Kapitalismus ist eine Mumie«, so Rory Carroll, Autor des Buchs »Comandante: Hugo Chávez’ Venezuela«, im Observer. »Sie ist mit einer existentiellen Bedrohung konfrontiert, nicht durch Jugendliche, die auf den Plazas Parolen skandieren, sondern durch die Tatsache, dass Venezuela eine chaotische, bröckelnde, dysfunktionale Ruine ist.«
Die offizielle Inflationsrate von 56 Prozent im Jahr 2013 ist eine der höchsten der Welt. Um die Inflation einzudämmen, führte die Regierung dem Economist zufolge ein neues Gesetz ein, das Firmenprofite auf 30 Prozent der Kosten begrenzt; bei Überschreitungen drohen lange Gefängnisstrafen. Der Wert der venezolanischen Währung kollabiert. Seit Jahren findet eine schleichende Deindustrialisierung statt, nach Angaben von Carlos Larrázabal, dem Präsidenten des venezola­nischen Industrieverbandes Conindustria, vom Sommer 2013 wurden in den vorangegangenen 13 Jahren 5 000 Betriebe geschlossen, die Industrie befinde sich auf dem Stand von 1973. Es gibt Engpässe bei Brot, Mehl, Fleisch, Toilettenpapier und anderen Gütern des täglichen Bedarfs, stundenlanges Schlangestehen beim Einkauf prägt den Alltag. Ausländische Fluggesellschaften haben scharfe Restriktionen bei Ticketverkäufen verhängt, weil ihnen die Regierung mehr als drei Milliarden Dollar schuldet. Autoersatzteile sind schwierig zu finden, Autobatterien werden zum bevorzugten Ziel nächtlicher Raubzüge. Zeitungen schließen aus Mangel an Papier. Der venezolanischen Infrastruktur, einst vorbildlich in Südamerika, mangelt es an Investitionen und Instandhaltung, stundenlange Stromausfälle sind eine Folge davon. Zudem hat die Kriminalitäts­rate eine schwindelerregende Höhe erreicht. Die Mordrate ist eine der höchsten der Welt, NGOs schätzen sie auf 25 000 pro Jahr, schätzungsweise 97 Prozent der Morde bleiben ungestraft.
Aber die staatliche Ölindustrie spült weiterhin Milliarden in die Staatskassen; mehr als 90 Milliarden Dollar waren es 2012, während sich die Importe auf knapp 60 Milliarden beliefen. Ein ökonomischer Kollaps ist so schnell nicht zu erwarten, solange der Ölpreis hoch bleibt. Und mit der aus dem hohen Ölpreis resultierenden stattlichen Ölrente ließ sich langfristig die Armutsrate senken, von etwa 50 Prozent der Bevölkerung im Jahr 1998, als Chàvez das erste Mal zum Präsidenten gewählt wurde, auf etwa die Hälfte 2012.

Die Armen stellen eine wichtige Klassenbasis des Chavismo dar, neben einem Teil der Intelligenz, des Militärs und der Mittelklasse. Er ist – trotz seiner sozialistischen Rhetorik – dem Phänomen des lateinamerikanischen Populismus zuzuordnen, der Ernesto Laclau zufolge von drei Merkmalen geprägt ist: erstens der permanenten Anrufung des Volkes, das angeblich in einem »Antagonismus« zu einem Teil der herrschenden Klasse steht, in Venezuela zum alten Establishment aus Christ- und Sozialdemokratie mitsamt Unternehmern. Zum zweiten fußt der Populismus auf einer politischen Allianz mit klassenübergreifendem Charakter, der sich in Venezuela allerdings nicht wie in Argentinien unter Perón – der stark mit faschistischen Ideologien sympathisierte – auf die gewerkschaftliche Arbeiterbewegung stützt, die in den korporatistischen Staat überführt wurde, sondern auf die Armen, die mit der Ölrente klientelistisch bedient werden. Das dritte Merkmal ist eine charismatische Führerfigur, die notwendig ist, weil eine straffe Organisation wegen der heterogenen Klassenbasis kaum herzustellen ist. Stammt diese Führerfigur aus dem Militär, handelt es sich um den Caudillo.

Chávez war ein solcher klassischer Caudillo, auch wenn er nicht durch einen Putsch, sondern durch Wahlen an die Macht kam. Er stärkte den Autoritarismus, indem er die Grenzen zwischen den staatlichen Gewalten verwischte, und dieser Autoritarismus wurde und wird weiterhin durch den Militarismus gestärkt, der mit einer Wiederbelebung des traditionellen Etatismus flankiert wird.
Das lässt sich an den staatlichen Institutionen Venezuelas illustrieren. Die Regierung war noch nie so aufgebläht wie heute, mit rund 100 Ministern und Vizeministern, darunter seit Herbst auch das von Maduro eingeführte »Vizeministerium für das höchste Glück des Volkes«, das für die Koordination sozialstaatlicher Programme zuständig ist; sein orwellscher Name sorgte für Hohn und Spott. Zwar hatte Chávez mit Maduro einen Zivilisten als Nachfolger bestimmt, doch der Einfluss des Militärs ist unter Maduro weiter gewachsen. Das »zivil-militärische Bündnis«, das Chávez zufolge das Volk und die Armee im Namen der »bolivarischen Revolution« eint, hat dazu geführt, dass Angehörige des Militärs, seien sie aktiv oder im Ruhestand, Le Monde zufolge etwa 25 Prozent der Ministerportefeuilles besetzen, der Innenminister Miguel Rodríguez und der Finanzminister Marco Torres etwa sind Generäle der Reserve. Darüber hinaus finden sich zahlreiche Offiziere an der Spitze der öffentlichen Unternehmen; in zehn Monaten soll Maduro nach Schätzungen der lokalen Presse gut 350 Angehörige des Militärs auf Schlüsselpositionen gehievt haben.
Ihm bleibt auch kaum etwas anderes übrig, angesichts dessen, dass sein größter Rivale im Zentrum des Chavismo Kapitän Diosdado Ca­bello ist, der »Pate« Venezuelas mit einem angeblichen Vermögen in dreistelliger Millionenhöhe, dessen Machtbasis das Militär und die Vereinigte Sozialistische Partei ist, als deren Vizepräsident er fungiert. Maduro hingegen hatte sich als Außenminister unter Chávez profiliert und die Allianzen mit den Regimes in Iran, Syrien, Weißrussland und den lateinamerikanischen Partnern der »bolivarischen Revolution« geschmiedet – Argentinien, Bolivien, Ecuador, Nicaragua und vor allem Kuba; er galt nach dem Tod von Chávez als Wunschkandidat der Castro-Brüder.
Doch anders als Chávez, der seine Gefolgschaft mit stundenlangen Fernsehauftritten bei Laune hielt, ist der hölzerne Maduro alles andere als ein großer Kommunikator. Deshalb stellt sich dem Chavismo das Problem, wie seine heterogene Klassenbasis ohne eine charismatische Führungsfigur zusammengehalten werden kann. Und dieses Problem könnte angesichts der sich kumulierenden Effekte von Inflation, Versorgungsengpässen und ausufernder Kriminalität, die keineswegs nur die Mittelklasse treffen, sondern sich auch verheerend auf die Armen auswirken, drängend werden. Am Montag wurden in Armenvierteln in Caracas erste Barrikaden gesichtet.