Die Neuregelung der Sterbehilfe

Die Angst kleiner machen

In Deutschland wird heftig über die gesetzliche Neuregelung der Sterbehilfe gestritten. Doch was denken diejenigen, denen in der öffentlichen Diskussion automatisch der Wunsch nach Sterbehilfe unterstellt wird? Ein Besuch bei drei Bewohnerinnen und Bewohnern eines Hamburger Hospizes.

Manchmal verändert sich das Leben innerhalb weniger Sekunden völlig. Träume, die vorher noch erreichbar schienen, zerplatzen. Und mitunter wird ein schrecklicher Satz bittere Realität: »Ich bin noch zu jung zum Sterben.« Das Leben von Dirk Bublitz änderte sich am 11. Juni 2013 fundamental. Zuvor hatte der 50jährige arbeitslose Publizist schon einige Monate lang das Gefühl verspürt, dass irgendetwas nicht stimmte. Im Mai vergangenen Jahres war er nach einem Schwächeanfall gar nicht mehr auf die Beine gekommen und lag nur noch apathisch im Bett.

»Per Notarzt bin ich dann am 11. Juni in das Agaplesion-Krankenhaus in Hamburg gefahren worden«, erzählt Bublitz. Dort vermuteten die Ärzte zunächst einen akuten Darmverschluss, operierten Bublitz und entdeckten während des Eingriffs einen fortgeschrittenen Darmkrebs. »Doch nach der OP ging es mir wieder richtig gut, so dass ich auch die angeratene Chemotherapie erstmal vor mir hergeschoben habe«, berichtet der Hamburger. Er feierte, reiste und blieb bis August seinem alten Leben verhaftet. Noch packte ihn auch keine Eile, seine gesammelten Texte unbedingt noch zu Lebzeiten herauszugeben.
Im September begann dann die rasante gesundheitliche Verschlechterung. Die zweite Operation fand statt. »Die habe ich auch zuerst einmal vor mir hergeschoben. Ich hatte noch einen Termin beim Jobcenter, mein Personalausweis war abgelaufen und musste erneuert werden. Alltägliche Dinge halt, die erledigt werden mussten«, sagt Bublitz. Für ihn war die Verschiebung der Operation auch aus heutiger Sicht die richtige Entscheidung. Bis Januar 2014 wurde Bublitz noch sieben weitere Male im Krankenhaus behandelt, bis die Ärzte ihm schließlich nahelegten, er solle sich nach einem Hospiz umsehen.
Die Entscheidung traf der 50jährige innerhalb einer Stunde. Er entschied sich für das Hospiz der gemeinnützigen Organisation »Hamburg Leuchtfeuer«. Der altehrwürdige Bau an der belebten Simon-von-Utrecht-Straße in Hamburg-St. Pauli war früher ein Nebengebäude des Israelitischen Krankenhauses. Seit 1998 ist er der Sitz des Hospizes. Es bietet elf schwerkranken Menschen Platz in der letzten verbleibenden Zeit ihres Lebens. »Die durchschnittliche Verweildauer unserer Bewohner liegt bei vier Wochen. Und obwohl es ein Ort des Sterbens ist, ist es zugleich ein sehr lebendiger Ort«, sagt Mareike Fuchs, die Leiterin des Hospizes.
Jeder Bewohner richtet sich sein Zimmer nach seinem Geschmack ein. Dirk Bublitz hat nur wenige persönliche Gegenstände mitgebracht. Seine Duftlampe ist ihm wichtig, sie verbreitet einen angenehmen Rosenduft im Zimmer. Ansonsten sind die Wände kahl, kein Foto oder Bild hängt an der Wand. So richtig abschließen mit seinem Leben kann Bublitz noch nicht. »Ich will auf jeden Fall vorher meine Texte herausgeben«, bekräftigt er im Gespräch. Ob die Zeit reicht, ist ungewiss.

Über Sterbehilfe spricht der eingefleischte Altonaer offen. Er selbst bringt das Gespräch auf das Thema und zeigt sich unschlüssig. Zwar hätte er gern theoretisch die Möglichkeit, in die Schweiz zu fahren. Manchmal wünscht er sich diese Möglichkeit der Sterbehilfe auch in Deutschland. Doch für ihn käme es derzeit nicht in Frage, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen. »Ich kann doch noch klar denken und will meine Texte veröffentlichen«, begründet Bublitz seine Meinung. Und im Hospiz fühlt er sich gut aufgehoben.
Ähnlich sieht dies auch Claire-Marie Döring. Für die 65jährige käme Sterbehilfe überhaupt nicht in Frage. »Ich möchte leben, werde aber sterben. Bei Menschen, die Sterbehilfe wünschen, ist dies andersrum«, sagt sie. Sie verurteile aber niemanden, der sich Sterbehilfe wünscht oder sie in Anspruch nimmt. Seit dem 13. Dezember ist sie nun schon Bewohnerin im Hospiz. Und obwohl der Tag ein Freitag war, sei es für Claire-Marie Döring ein Glückstag, denn sie habe ihre Entscheidung, ins Hospiz zu gehen, nicht bereut.
Auch für sie hat sich das Leben schlagartig geändert. Doch für die ehemalige kaufmännische Angestellte kam dies nicht völlig überraschend. Vor zwölf Jahren war sie schon einmal an Krebs erkrankt. Der Brustkrebs galt schließlich als geheilt und Döring richtete sich auf eine zweite Chance ein. Im Hinterkopf blieb aber die Angst, dass der Krebs zurückkommen könnte. Und das tat er. Zwei inoperable Tumore in der Lunge und den Bronchien, lautete die Diagnose.
Dörings Zimmer wirkt gänzlich anders als das von Bublitz. Fotos an der Wand erinnern an die Liebsten, die Tochter kommt täglich vor oder nach der Arbeit vorbei. Und Döring setzt sich viel klarer mit dem Tod auseinander. Das Personal im Hospiz hilft ihr dabei. »Es ist immer jemand zum Reden da. Man hat nie das Gefühl, allein zu sein«, sagt sie. Hier sieht auch Mareike Fuchs eine Stärke des Hospizes. »Die Angst vor dem Sterben, die Angst vor dem Alleinsein und vor Schmerzen ist ungemein groß. Und diese Angst versuchen wir, klein zu machen«, erläutert sie. Die Angst verschwinden zu lassen, sei ein Ding der Unmöglichkeit. Aber man könne sie beherrschbar und kleiner werden lassen.
Christa A.* hilft ihr Glaube an Gott, um mit der Angst besser klarzukommen. Sie vertraut darauf, dass »Gott es schon richten« wird. »Klar habe ich mehr Angst als Vaterlandsliebe. Und sterben muss ich alleine. Aber hier im Hospiz habe ich keine Angst vor dem Alleinsein«, sagt die 85jährige. Stolz erzählt sie, dass sie beim Axel-Springer-Verlag dafür zuständig war, dass immer die Welt auf Flugreisen vorrätig war.
Das Alleinsein und die Schmerzen, da sind sich auch Verbände wie der Deutsche Hospiz- und Pal­liativverband e. V. sicher, sind die größten Ängste Todkranker. Und sie führen oft dazu, dass sich Patienten die Sterbehilfe herbeiwünschen. Christa A. ist diese Möglichkeit auch durch den Kopf gegangen, sie hat den Gedanken dann aber schnell verworfen. Dank einer guten Schmerztherapie ist sie so gut wie schmerzfrei.

Alle drei Bewohner befinden sich in den letzten Wochen ihres Lebens. Und alle drei haben trotz völlig unterschiedlicher Lebensläufe und Lebensalter gemeinsame Themen: beispielsweise die Angst vor dem Tod und den Wunsch, vorher noch »alles zu regeln«. Dirk Bublitz plant sehr detailliert seine Beerdigung. Der staatliche Friedhof in Altona nimmt auch Atheisten wie ihn auf. Seine Grabrede – eine kämpferische, wie er sagt – schreibt er selbst. Christa A. möchte noch alles in Ruhe regeln. Claire-Marie Döring wünscht sich eine Seebestattung an der Stelle, an der auch ihr Mann bestattet wurde. An der Wand hängen viele Fotografien mit Meeresmotiven, mal ruhig, mal stürmisch. »Ich liebe das Meer. Egal ob ruhig oder tosend!« sagt die 65jährige.
Es wird Abend auf St. Pauli. Während draußen das Leben tobt, bleibt es ruhig im Hospiz. Christa A. bekommt Besuch von den Kindern, Claire-Marie Döring guckt noch etwas fern, bei Dirk Bublitz schaut der Schmerztherapeut kurz vorbei, in Zivil, nicht im weißen Kittel. Nach dem Erscheinungstermin des Artikels in der Zeitung erkundigt sich keiner der drei. Die Zeit ist eine viel zu unplanbare Größe geworden.

* Vollständiger Name ist der Redaktion bekannt.