Margarita López Maya im Gespräch über die gesellschaftlichen Konflikte und das Erbe des Chavismo

»Die Hälfte der Bevölkerung wird ausgegrenzt«

Die Proteste gegen die Regierung und die Repression in Venezuela sind ein Ausdruck der tiefen gesellschaftlichen Konflikte, die das Land ein Jahr nach dem Tod von Hugo Chávez prägen. Der Chavismo trägt eine große Mitschuld an der derzeitigen Situation, meint Margarita López Maya, Professorin für Sozialwissenschaften an der Universität Central von Venezuela und eine der bekanntesten Analytikerinnen der politischen Verhältnisse des Landes.

Kein Tag vergeht derzeit in Venezuela ohne Demonstrationen. Auch am Samstag gingen wieder Zehntausende auf die Straße. Die einen, um sich den seit fast drei Wochen demonstrierenden Studenten anzuschließen, die anderen, um die Regierung von Nicolás Maduro zu unterstützen. Wie ist die Lage jetzt?
Es hat am Samstag wieder große Demonstrationen gegeben, in Caracas, aber auch in verschieden Universitätsstädten Venezuelas und auch im Ausland. Dazu aufgerufen hat neben Studenten­organisationen auch das Oppositionsbündnis, »Mesa de Unidad Democratíca« (Tisch der demokratischen Einheit), und dessen zentrale Botschaft war eine der Verständigung und des friedlichen Protests. Die Demonstrationen von Samstag waren ein großer Erfolg, sie waren friedlich und viele Menschen haben sich dabei in weiß gekleidet, um ihrer pazifistischen Gesinnung Ausdruck zu verleihen. Es sind auch keine bewaffneten Gruppen aufgetaucht, nichts ist in dieser Richtung ist passiert.
Auch die Regierung von Nicolás Maduro hatte ihre Anhänger auf die Straße gerufen, so dass sich zwei Demonstrationszüge mit mehreren Zehntausend Menschen durch Caracas bewegten. Warum hat sich die Polarisierung in zwei Lager so verschärft?
Seit 1999 ist diese Polarisierung quasi ein Kennzeichen Venezuelas und sie hat ihren Ursprung in den teils sehr aggressiven Reden des am 5. März 2013 verstorbenen Staatspräsidenten Hugo Chávez, aber auch in der Rhetorik der Opposition. Seit 1999 ist es nicht gelungen, diese Polarisierung zu überwinden. Auftrieb hat die Spaltung durch die teils sehr aggressiven Reden von Staatspräsident Maduro erhalten, der seit seinem Amtsantritt im April vergangenen Jahres immer mehr versucht hat, die Kontrolle im Land zu erhöhen. Angesichts der gravierenden öko­nomischen Krise, die Venezuela gerade erlebt, und der sich verschärfenden sozialen Probleme, die sich in zunehmender Kriminalität niederschlagen, war das ­sicherlich keine glückliche Strategie. Daraus resultiert eine immer größer werdende Unzufriedenheit – nicht nur in den antichavistischen Kreisen. Das zeigen die Studentenproteste, aber eben auch die Wahlergebnisse. Auch die Bevölkerungsschichten, die den ehemaligen Präsidenten Hugo Chávez unterstützt haben, sind heute alles an­dere als glücklich mit der ökonomischen Situation in Venezuela. Ich denke nicht, dass die aggressive Rhetorik Maduros hilft, die Lage zu entschärfen. Das Gegenteil ist der Fall und das hat zur Radikalisierung der Proteste beigetragen, denn auf beiden Seiten gibt es radikale Kräfte.
Die Regierung, beziehungsweise Präsident Maduro, hat Oppositionsführer Leopoldo López als Drahtzieher hinter den Protesten bezeichnet und einen Haftbefehl gegen ihn erlassen. Anfang vergangener Woche hat sich López schließlich gestellt und sitzt nun im Gefängnis. Ist ein einzelner Oppositionspolitiker in der Lage, über fast zwei Wochen die landesweiten Studentenproteste zu koordinieren?
Nein, natürlich nicht, aber Leopoldo López hat sich zum Gegenspieler der Regierung aufgeschwungen, ebenso wie die konservative Abgeordnete María Corina Machado. Beide gehören zu den Hardlinern der Opposition. Demgegenüber stehen die etwas moderater auftretenden Vertreter des »Tisches der demokratischen Einheit«. Die agieren weniger polarisierend.
Die Regierung von Nicolás Maduro hat vergangene Woche einen Zehn-Punkte-Plan zur Bekämpfung von Kriminalität vorgelegt und der Opposition Gespräche angeboten. Warum ist die Initiative fast erfolglos geblieben?
Weil es keinen ehrlichen Dialog gibt. Präsident Maduro hat zwar einige Schritte gemacht, um ­einem der gravierenden Probleme Venezuelas, der Kriminalität, zu begegnen, aber der Wille zum Dialog geht ihm ab. Venezuela gehört heute zu den gefährlichsten Ländern der Welt, die Mordrate im Lande ist dreimal so hoch wie der lateinamerikanische Durchschnitt. In Caracas haben wir derzeit eine Quote von rund 100 Morden pro 100 000 Einwohnern. Das ist kein neues Phänomen, aber diese Gewalt ist unter der Regierung von Hugo Chávez und Nicolás Maduro weiter ­gestiegen und dafür tragen sie eine Mitverantwortung. Der Grund ist einfach: Die Regierung hat zwar immer wieder zum Frieden aufgerufen, ist aber gegen die bewaffneten Gruppen nicht vorgegangen. Sie hat deren Mitglieder nicht entwaffnet und der Justiz übergeben.
Es hat in den vergangenen Wochen mehrfach Angriffe mit Schusswaffen auf Demonstra­tionen von Studenten gegeben. Dafür werden Anhänger der Regierung, darunter auch die Colectivos, verantwortlich gemacht. Gibt es konkrete Beweise dafür und woher kommen die Waffen?
Die Waffen wurden, zumindest teilweise, von der Regierung ausgegeben, um die Revolution zu verteidigen, sie wurden aber nie wieder eingesammelt. Dadurch hat die Regierung der Straflosigkeit Vorschub geleistet und bei den Angriffen auf die Demonstrationen von Studenten wurden mehrfach Schusswaffen eingesetzt, wie zahlreiche Fotos und Video belegen. Doch in diesen Fällen wurde eben nicht ermittelt und mit dieser Ungleichbehandlung sinken die Chancen auf eine Verhandlungslösung. Es bedarf eines ehrlichen politischen Willens, um die Krise beizulegen. Derzeit gelten die nationalen Gesetze nur für einen Teil der Bevölkerung, die einen werden für ihre Taten bestraft, gegen andere wird noch nicht einmal ermittelt. Es gibt paramilitärische Gruppen, die der Regierung nahestehen, aber ihre eigenen Ziele verfolgen, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass die Regierung direkt zu Straftaten gegen die Opposition aufruft.
Gibt es auch Colectivos unter den paramilitärische Gruppen?
Ja, aber mir gefällt die Bezeichnung Colectivos in diesem Zusammenhang nicht, denn es ist ein sehr generalisierender Begriff. Dazu zählen eben auch viele sozialen Gruppen, die sich in Freiräumen engagieren und mit den bewaffneten Paramilitärs nichts zu tun haben. Diese sind meiner Meinung nach schlicht außer Kontrolle geraten, sie geben aber vor, die bolivarische Revolution zu verteidigen.
Die negative wirtschaftliche Bilanz der Regierung Maduro ist ein Grund für die Proteste. Warum greifen die von der Regierung eingeleiteten Reformen nicht?
Weil sie die strukturellen Probleme der venezolanischen Wirtschaft nicht lösen. Venezuela lebt allein von der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, ist eine Rentenökonomie und es wurde trotz aller Ankündigungen nicht geschafft, die Landwirtschaft zu reaktiveren. Die Regierung hat zwar zahlreiche Programme in diesem Bereich angeschoben, aber die Bauern immer wieder kontrolliert und schikaniert. Man hat versucht, den Agrarsektor wie eine Kaserne zu managen. Auch die Industrieproduktion ist seit 1999 um rund die Hälfte gesunken, so dass wir uns in einer gravierenden ökonomischen Krise befinden.
Ich denke, dass die Regierung der Komplexität der ökonomischen Prozesse nicht gewachsen ist und das zeigen auch die nackten Zahlen. Von 100 US-Dollar, die über die Exporte ins Land kommen, entfallen 95,5 US-Dollar auf den Erdölexport. De facto exportiert Venezuela kaum etwas anderes als Erdöl – genau das wollte die bolivarische Regierung aber ändern. Aber heute importieren wir 60 bis 70 Prozent unserer Nahrungsmittel aus Kolumbien, Brasilien, Argentinien und den USA und sind weit davon entfernt, uns selbst versorgen zu können, wie es einst einmal anvisiert worden war.
Warum schaffen es die Verantwortlichen trotz ausreichend vorhandener Mittel nicht, die ­venezolanische Ökonomie zu reaktivieren?
Es herrscht eine sehr ideologische Mentalität in den Ministerien vor, die auf Kontrolle und häufig auch auf direkte Konfrontation mit den Unternehmen setzt. Denen werden beispielweise Gewinnspannen und teilweise auch Preise vorgeschrieben. Damit werden ökonomische Aktivitäten erstickt.
Wie beurteilen Sie denn die Bilanz der Regierung von Nicolás Maduro nach gut zehn Monaten im Amt?
Maduro hat von Beginn an auf mehr Kontrolle gesetzt. Dadurch verengt sich der Spielraum im ökonomischen wie politischen Bereich, wodurch die Unzufriedenheit merklich angestiegen ist. Parallel dazu ist eine Zunahme der Korruption zu verzeichnen, die auch dazu beigetragen hat, dass die staatliche Infrastruktur weiter beschädigt wurde. So bricht zum Beispiel die Stromversorgung immer wieder zusammen und wir haben Probleme in allen möglichen Versorgungsbereichen. Maduro hat für mehr Autoritarismus und mehr Repression gesorgt und Leute mit Aufgaben betraut, die ihnen absolut nicht gewachsen sind. Posten werden nicht nach Qualifikation, sondern nach politischer Loyalität vergeben. So gibt es zum Beispiel keine kohärente Wirtschaftspolitik.
Sehen Sie die Chance für einen Dialog zwischen Regierung und Opposition?
Nicolás Maduro verweigert sich dem Dialog, obwohl rund die Hälfte der Bevölkerung mit seiner Politik nicht einverstanden ist. Präsident Maduro grenzt faktisch die Hälfte der Bevölkerung aus, er will nicht begreifen, dass sich die Bevölkerung artikulieren muss, und so unterdrückt er Demonstrationen und Proteste. Auch die Medien sind schon lange keine zuverlässige Informationsquelle mehr, weil sie sich größtenteils in den Händen der Regierung befinden.
Maduro behauptet, die Proteste würden von den USA unterstützt und von »Faschisten« ­organisiert.
Das ist der typische polarisierende Diskurs der Regierung. Doch die Studenten sind vor knapp drei Wochen auf die Straße gegangen, vor allem weil die staatliche Gewalt gegen Regierungskri­tiker zugenommen hat und auch vor den Universitäten nicht halt macht. Das war der Auslöser für die Studentenproteste. Zwar gibt es Studenten, die sich auf die Seite der Opposition geschlagen haben, aber grundsätzlich bringt die Studentenbewegung ihren Protest auf die Straße, weil sie kaum einen anderen Weg hat, sich zu artikulieren.
Die Nationalgarde wurde eingesetzt, um die ­Situation unter Kontrolle zu bringen. Birgt das ein Risiko, dass die Gewalt weiter eskaliert?
Ja, die Gefahr, dass es zu weiteren Toten kommt, wird dadurch größer. Bisher sind acht Menschen gestorben, doch die Zahl könnte steigen. Der Einsatz der Nationalgarde und der politischen Polizei, die beide bewaffnet sind, ist eigentlich mit der Verfassung nicht vereinbar. Trotzdem sind sie im Einsatz und es gibt Videos, die zeigen, dass die Waffen auch eingesetzt wurden. Das ist verboten. Es gibt zudem Videos und Fotos, die zeigen, dass die Nationalgarde und die Polizei nicht gegen die paramilitärischen Gruppen vorgehen, die auf Seiten der Regierung stehen. Allerdings gibt es auch in der Opposition radikale bewaffnete Gruppen. Man darf aber nicht vergessen, dass es die Aufgabe der staatlichen Sicherheitskräfte ist, die Demonstrationen zu schützen. Dieser Auf­gabe sind sie mehrfach nicht nachgekommen, wie die Bilder bewaffneter Motorradfahrer zeigen, die in Demonstrationen hineinfuhren.
Sehen Sie einen Weg aus der Krise?
Der einzige Wege ist der Dialog zwischen Regierung, Opposition und Studentenorganisationen, denn es ist unmöglich, ein politisches Projekt gegen den Widerstand der Hälfte der Bevölkerung durchzusetzen. Das ist auch ein Grund für die Militarisierung der bolivarischen Revolution. In der Nationalversammlung sollte endlich ein Dialog über die politische Zukunft des Landes aufgenommen werde. Die internationale Gemeinschaft sollte in dieser Richtung Druck ausüben.