Die Massenproteste in Venezuela

Klasse gegen Klasse

Seit zwei Wochen gehen in Venezuela Menschen gegen die Politik der Regierung auf die Straße. Auf die Massenproteste reagiert die sozialistische Führung mit Repression, die rechte Opposition stellt sich als Demokratiebewegung dar.

Blockierte Straßen, mindestens zehn Tote und Hunderte Verletzte. Das ist die Zwischenbilanz der Proteste der vergangenen Wochen in Venezuela. Seit Mitte Februar finden im ganzen Land fast täglich Demonstrationen gegen die Regierung von Nicolás Maduro statt. Am Wochenende demonstrierten erneut hunderttausend Menschen, teils für, teils gegen die sozialistische Staatsführung. Präsident Maduro gerät immer stärker in Bedrängnis, für diese Woche rief er zu einer »nationalen Friedenskonferenz« mit »allen sozialen und politischen Sektoren« auf. Ob die von ihm als »faschistisch« bezeichnete Opposition auch eingeladen wird, ließ er offen. Bisher reagierte der Nachfolger von Hugo Chávez auf die Proteste vor allem mit Repression. Vergangene Woche verlegte er ein Fallschirmjägerbataillon ins Grenzgebiet zu Kolumbien, wo eines der Zentren der Proteste liegt, und drohte damit, den Ausnahmezustand in der Region Táchira auszurufen.
Glaubt man den Vertretern der Bolivarischen Revolution, handelt es sich bei den Protesten um einen Putschversuch »nazi-faschistischer« Kräfte, die mit finanzieller Unterstützung der USA den revolutionären Prozess in dem südamerikanischen Land gewaltsam beenden wollen. Folgt man den Aussagen der Opposition, steht in Venezuela derzeit die Bevölkerung im Namen der Freiheit und der Menschenrechte gegen die »Diktatur« auf. Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. »Das einzige, wofür wir in der Schlange stehen wollen, ist, Maduro den Arsch zu versohlen.« Dieser Spruch auf einem Schild, das bei einer der Demonstrationen getragen wurde, kommt dieser Wahrheit wohl am nächsten. Denn er bringt sowohl die allgemeine Unzufriedenheit als auch eine der Hauptursachen für die Proteste auf den Punkt. Die Inflation liegt bei über 50 Prozent, grundlegende Produkte wie Kaffee, Öl und Klopapier sind nur schwer zu bekommen. Der Mangel bestimmt den Alltag vieler Menschen.
Neben der ökonomischen Situation besteht der zweite wesentliche Grund für die Unzufriedenheit in der alltäglichen Gewaltkriminalität, die schon seit geraumer Zeit außer Kontrolle geraten ist und auf die weder Chávez noch seine Nachfolger Maduro eine Antwort parat hatten. 2013 war das bisher schlimmste Jahr, mit 25 000 Toten steht das Land unabhängigen Angaben zufolge an Platz zwei in der weltweiten Gewaltstatistik. Im Januar traf es die Schauspielerin Mónica Spear, Miss Venezuela des Jahres 2004, die während einer Autopanne zusammen mit ihrem Ehemann vor den Augen der fünfjährigen Tochter erschossen wurde. Nachdem Maduro den Doppelmord anfangs mit dem schlechten Einfluss der Telenovelas erklären wollte, sah er sich bald gezwungen zu reagieren und verabschiedete einen Zehn-Punkte-Plan zur Bekämpfung der Krimina­lität. Da hatten die Proteste bereits begonnen.

Auf den ersten Blick setzt sich derzeit dieselbe Auseinandersetzung fort, die Venezuela bereits seit der demokratischen Machtübernahme von Chávez im Jahr 1999 prägt. Auf der einen Seite stehen nach wie vor die sozialistische Staatsführung und die Anhänger der Bolivarischen Revolution, von denen viele aus den unteren Schichten der Gesellschaft stammen. In Massendemonstrationen verteidigen sie derzeit den »Frieden« und die »Revolution«. Auf der anderen Seite steht die Opposition, die bei den derzeitigen Protesten vor allem von Studierenden angeführt wird. Sie besteht vorrangig aus Angehörigen der Mittel- und Oberschicht und ist mehrheitlich prokapitalistisch bis rechtskonservativ.
Wobei sich tatsächlich der eine oder andere Faschist unter ihnen tummelt, wie das Beispiel von Lorent Saleh zeigt. Zuletzt war er vergangene Woche in der Presse zu sehen, wie er als Vertreter der venezolanischen Studentengruppen an einem Treffen mit dem Friedensnobelpreisträger und ehemaligen Präsidenten Costa Ricas, Óscar Arias, teilnahm, der nach dem Wunsch der Opposition einem internationalen Konfliktlösungs­team vorstehen soll. Im Juli vorigen Jahres hatte Saleh sich noch in Kolumbien als Redner an der Gründung der Nationalistischen Allianz für die Freiheit, einer offen neonazistischen Gruppe, beteiligt, wie die kolumbianische Tageszeitung El Espectador berichtete.
Nach eigenen Angaben steht die Opposition für Frieden, Demokratie und ein Ende der Gewalt ein. Bereits mehrfach hat sie jedoch versucht, ihre Ziele durch gewaltsame Putschversuche zu erreichen. Im Unterschied dazu scheinen die Proteste diesmal vielerorts spontaner entstanden zu sein und tatsächlich auch einen sozialen Charakter zu besitzen. Die repressive Antwort des Staates hat die Proteste erst richtig entfacht und stellt derzeit das einende Moment der Demonstranten dar, die keineswegs alle den konservativen Parteien und Gruppen zuzuordnen sind. Da es aufgrund des dogmatischen Revolutionsdiskurses jedoch keine organisierte progressive oder linke Opposition in Venezuela gibt, schafft es die prokapitalis­tische Rechte derzeit, sich an die Spitze der Proteste zu stellen.
»Die wirkliche Gefahr besteht nicht in der venezolanischen Rechten. Die eigentliche Gefahr liegt in einer schwierigen Wirtschaftslage, und die so geschaffene Realität ist ein Schlag in unser Gesicht«, schrieb der linke venezolanische Journalist Ronaldo Muñoz auf dem sonst sehr regierungsfreundlichen deutschen Internetportal Amerika 21. Dies aber will Maduro nicht sehen. Auf die zunehmende Kritik am Mangel grundlegender Produkte wie Toilettenpapier antwortet er bisweilen mit Aufrufen, den »extremen Konsum« zu bekämpfen und moderater zu leben. Die Ignoranz der Regierung gegenüber den realen gesellschaftlichen Problemen sowie ihr wiederkehrendes Gerede von einer »ausländischen Verschwörung« und dem »Faschismus«, die hinter allen Problemen stünden, stärkt die Opposition.
Diese weiß die Unfähigkeit der sozialistischen Staatsführung und deren repressive Konfliktlösungsstrategie für sich zu nutzen. Nachdem ein Haftbefehl gegen den Oppositionspolitiker Leopoldo López von der Partei Voluntad Popular (Volkswille) als vermeintlichen Rädelsführer der Proteste erlassen worden war, machte dieser aus seiner Festnahme eine Propagandashow. Bevor er sich der Polizei stellte, hielt er in der Hauptstadt vor Tausenden Menschen eine Rede, verabschiedete sich von seiner Frau, die ihm ein Kreuz umhängte, und ließ sich dann mit Blumen in der hochgereckten Faust abführen. Er stehe auf der richtigen Seite der Geschichte und werde weiter gegen die Diktatur kämpfen, verkündete López, der bereits 2002 am misslungenen Putschversuch gegen Chávez beteiligt war, aus dem Gefängnis. Maduro hat der rechten Opposition zu einer Stärke verholfen, die sie derzeit aufgrund interner Streitigkeiten zwischen López und dem bisherigen Oppositionsführer Henrique Capriles aus eigener Kraft nicht erreicht hätte.

Der Konflikt in Venezuela wird nicht nur auf der Straße, sondern auch in den Medien ausgetragen. Auf Twitter überbieten sich Anhänger der Opposition mit brutalen Bildern, auf denen vermeintliche Opfer von polizeilicher Repression zu sehen sind. Vergangene Woche ging für kurze Zeit ein unscharfes Foto durchs Netz, das angeblich zeigte, wie zwei Polizisten in Uniform einen oppositionellen Studenten in der Öffentlichkeit zum Oralsex zwingen. Tatsächlich aber war das Foto aus einem US-Pornofilm entnommen. Andernorts wurden Gewaltbilder aus Ägypten und Syrien als Belege für die brutale Unterdrückung in Venezuela veröffentlicht. Trotz der Manipulationen und der politischen Instrumentalisierung der Auseinandersetzungen gibt es keine Zweifel am gewalttätigen Vorgehen der Sicherheitskräfte. Im Internet lassen sich zahlreiche Bilder und ­Videos von bewaffneten Regierungsanhängern und Polizisten finden, die am Rande von Demonstrationen Studenten verprügeln, mit scharfer Munition schießen und Häuser auf der Suche nach Demonstranten stürmen. Dazu verbreiten bewaffnete Verteidigungskomitees der Revolution, die sogenannten colectivos, auf Motorrädern Angst in den Straßen.
Und während auf der Straße die Polizei mit Gummigeschossen und Tränengas Versammlungen auflöst, behaupten regierungstreue Fernsehsender, es sei alles ruhig. Es gibt Berichte von Zensurversuchen im Internet, dem Sender CNN wurde wegen »Kriegspropaganda« kurzzeitig die Lizenz entzogen. Die unklare Informationslage heizt die Stimmung in dem stark polarisierten Land, in dem von beiden Seiten Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung benutzt wird, zusätzlich an. Unter den zehn Toten finden sich sowohl Anhänger der Regierung als auch der Opposition. Beide Lager schreiben sich gegenseitig die Verantwortung zu.

Noch nicht einmal ein Jahr nach dem Tod von Chávez droht das Land an seinen ungelösten Konflikten zu zerbrechen. Die Krise könnte die Befürchtungen vieler Chavistas bestätigen, dass der »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« ohne Chávez nicht lebensfähig ist. Jedoch war es nicht, wie vielerorts mit seinem Ableben im März vergangenen Jahres erwartet oder befürchtet worden war, ein lange geplanter Putschversuch der rechten Opposition, der zur Staatskrise führte, sondern die seit Jahren angestaute Unzufriedenheit über die schlechte wirtschaftliche Lage, die Korruption und die Gewalt, die das Land fest im Griff haben.
Die Verehrung des Comandante Chávez war oftmals stärker als diese Unzufriedenheit. Er war eine Identifikationsfigur und konnte vor allem den unteren Schichten das Bild vermitteln, er sei einer von ihnen. Maduro schafft dies nicht. »Ohne Sozialismus kein Maduro, ohne Maduro kein Sozialismus«, so ein Slogan auf dem größten chavistischen Internetportal Aporrea.org. Ein etwas hilflos wirkender Versuch, den Mythos Chavéz auf den uncharismatischen Staatschef zu übertragen. Die Taktik scheint nicht aufzugehen.