Internet-Zensur in der Türkei

Netz mit doppeltem Boden

Wie das neue Internet-Gesetz in der Türkei die Meinungsfreiheit bedroht.

Mehmet Baransu ist ein eifriger Twitter-Nutzer. Seine Kommentare zielen kurz vor den Kommunalwahlen am 30. März auf die Istanbuler Stadtverwaltung der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). »Die Stadtverwaltung pumpt vor den Wahlen Meerwasser in die Staudämme, damit die Leute an eine gute Wasserversorgung glauben«, behauptet er. Das Thema Wasserversorgung spielt im Wahlkampf eine wichtige Rolle. Die Wasserknappheit in den großen Städten der Türkei hat in der Vergangenheit immer wieder zu Problemen geführt, Programme zu deren Lösung sind ein Schwerpunkt im Wahlkampf der Islamisch-Konservativen.
Istanbul gilt bei den Kommunalwahlen als beispielhaft für die Stimmung in der gesamten Türkei. Seit dem Skandal um die Korruptionsvorwürfe gegen Regierungsmitglieder und ihre Angehörigen sinkt die Zustimmung zur AKP. Mehmet Baransu sitzt hinter einem großen Schreibtisch mit Panoramablick auf den Bosporus. Durch seine Recherchen ist der Enthüllungsjournalist zu einer wichtigen Person geworden. Er weiß, wer wann seine Frau betrogen hat und in welcher Pralinenschachtel wie viele Dollarscheine für welches schmutzige Geschäft übergeben wurden. »Meine Verbindungen sind weitverzweigt, ich gehe strategisch vor«, brummt der 36jährige, der hinter seinem Computer hockt. Der Journalist schreibt für die Tageszeitung Taraf (»Seite«), er moderiert eine Fußballsendung und wird gerne in politische Talkshows eingeladen. Außerdem betreibt er die Website »Yeni Dönem« (Neuer Abschnitt). Momentan ist die Seite in der Türkei nur über Proxyserver zu erreichen. »Meine Seite war eine Woche online«, erzählt der dunkelhaarige, drahtige Mann, »da explodierte der Korruptionsskandal.« An dem Wirbel war er nicht ganz unbeteiligt: Auf seiner Website erschienen am 17. Dezember Fotos und Tonaufnahmen, die den Korruptionsverdacht gegen die damaligen Minister Zafer Çağlayan (Wirtschaft), Egemen Bağış (Beziehungen zu Europa) und Muammer Güler (Inneres) erhärteten und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machten. »Meine Seite brach in kürzester Zeit einen Klickrekord von dreieinhalb Millionen. Eine halbe Stunde nach der Veröffentlichung der Bankdaten von Zafer Çağlayan und einer Tonaufnahme, auf der zu hören war, wie der Politiker eine Schmiergeldzahlung akzeptiert, wurde meine Seite attackiert. Ich konnte plötzlich nichts mehr hochladen. Eine Stunde später wurde die Seite gesperrt. Ich habe mich dann bei der Behörde für Telekommunikation (TİB) beschwert und die Seite war kurzzeitig wieder online, am Abend haben sie sie endgültig gesperrt.«
Baransu ist stolz auf seinen Coup und wütend auf die Zensur, die ihn und seine Arbeit lahmgelegt hat. Die Werbeverträge, die der umtriebige Journalist schon eingefädelt hatte, sind geplatzt. Viele Klicks, viel Geld und die Unabhängigkeit von Medienkonzernen sind der Traum vieler Journalisten in der Türkei, deren Medien mittlerweile in zwei Lager gespalten sind, in die Anhänger der AKP und in die Gemeinde von Islamistenführer Fethullah Gülen. Baransu legte Einspruch bei Gericht ein. Am 24. Januar wurde entschieden, dass die Blockade seiner Website gegen die Verfassung und seine Persönlichkeitsrechte verstößt. »Ich verklage sie alle auf Entschädigung«, sagt er. Ob er damit Erfolg haben wird, ist fraglich. Auch wenn die Blockkade von Baransus Seite noch vor Inkrafttreten des neuen Internetgesetzes erfolgte, wird die türkische Justiz das Internet zukünftig wie eine potentielle terroristische Schläferzelle behandeln, die es zu stoppen gilt. Das Gesetz sieht vor, dass Seiten, die schädliche, sexuell provizierende, gewaltverherrlichende und die Persönlichkeitsrechte anderer verletzende Inhalte haben, ohne Gerichtsbeschluss blockiert werden können. Vor allem der letzte Punkt ist der AKP wichtig. Peinliche Politikervideos, Fotos und andere Dokumente können künftig ganz legal gesperrt werden. Das soll vor allem Websites wie die von Mehmet Baransu treffen.
In den vergangenen Tagen kam es immer wieder zu Protesten gegen das Gesetz. Vor zwei Wochen versammelten sich Hunderte von Journalisten in Istanbul und appellierten an Präsident Abdullah Gül, nicht zu unterzeichnen und stattdessen sein Veto einzulegen. Nachdem Gül vergangene Woche kein Veto einlegte, sondern nur ein paar Modifikationen angemahnt hat, protestierten am Wochenende Tausende Menschen in Istanbul gegen die Kontrolle des Internet. Internetnutzern wird lediglich im Falle einer Zensur ihrer Inhalte der Gang vor Gericht ermöglicht, um die Sperrung aufheben zu lassen. Statt der ursprünglich nötigen richterlichen Anweisung einer Sperrung muss nun der User nachträglich tätig werden, um seine Inhalte wieder online stellen zu können. Wie der Fall von Mehmet Baransu zeigt, kann es vorkommen, dass auch der richterliche Beschluss zur Aufhebung der Zensur von den Behörden ignoriert wird. Das in der Türkei quirlige Internet, das als Katalysator der Gezi-Protestbewegung gilt, kann so ins Brieftaubenzeitalter zurückversetzt werden.
Die türkische Seite »Haramzade« (Sünder) verbreitet noch schärfere Angriffe auf die AKP als Baransu. Der Twitter-Account der Seite wurde immer wieder gesperrt, sie erscheint aber immer wieder unter einem leicht modi­fiziertem Namen. Die Seite »Haramzade« gehört vermutlich zu den Produkten der im Internet ebenfalls sehr aktiven Gülen-Gemeinde. Seit die im Polizeiapparat und der Justiz dominante Gülen-Bewegung die Korruptionssvorwürfe gegen die AKP öffentlich macht und Journalisten wie Mehmet Baransu mit Material versorgt, tobt die Auseinandersetzung auch im Internet. Der Journalist verhehlt gar nicht, dass er die auf seiner Seite veröffentlichten Informationen, Fotos und Tonaufnahmen von Informanten aus der Staatsbürokratie zugespielt bekam: »Bestimmte Leute wissen, dass ich keine Angst habe, brisantes Material zu veröffentlichen. Deshalb kommen sie zu mir.« Der Enthüllungsjournalist ist eine Art Paparazzo mit politischem Kalkül. Die türkische Öffentlichkeit ist seit Jahrzehnten mit einer die Medien kontrollierenden Staatsmacht konfrontiert. Das türkische Militär diktierte jahrelang einen bestimmten Jargon, der juristisch abgesichert wurde. Begriffe wie »kurdische Gebiete« oder »Revolutionäre« waren verboten. Der militärische Geheimdienst setzte Experten für Propaganda in den Medien ein, die halfen, seine Politik durchzusetzen. Die AKP hat diese Strukturen demontiert und ihre eigenen installiert. So unterhält die AKP ein Heer von 6 000 Online-Aktivisten, die AKP-Gegner im Internet aufstöbern und attackieren und im Dienste der Islamisch-Konservativen Netzpropaganda und Falschmeldungen verbreiten. Heute sind negative Nachrichten über Erdoğan, die AKP und ihre Korruptionsskandale verpönt. Mehmet Baransu hat auch das Militär, Korruption im türkischen Fußball und vieles andere angeprangert, er verhehlt seine Sympathien für die Gülen-Gemeinde nicht und profitiert von den Informationen, die ihm zugespielt wurden. »Die Gülen-Gemeinde sagt, dass diejenigen zur Rechenschaft gezogen werden müssen, die für den Diebstahl der Regierung verantwortlich sind«, erklärt er resolut und beton, dass das Verhalten der Regierung unmoralisch und korrupt sei und er dies gerne publiziere.
Von Kabataş am Bosporus sind es mit der Metro nur drei Stationen bis nach Mecidiyeköy, dem ewig verstopften Geschäfts- und Medienzentrum der Stadt. Der Istanbuler Trump Tower besteht aus zwei gläsernen Wolkenkratzern. Nedim Şener sitzt im 14. Stock des Business-Zentrums in der Redaktion der Zeitung Posta. Seit er zusammen mit seinem Kollegen Ahmet Şık angeklagt wurde, Mitglied der Geheimorganisation »Ergenekon« zu sein und ein Jahr lang in Untersuchungshaft saß, ist der investigative Journalist desillusioniert, aber er lässt sich nicht einschüchtern. Kürzlich wurde erneut ein Verfahren gegen ihn eingeleitet, weil er in einer Talkshow gesagt hatte, er glaube an keine »Säuberungsaktion durch schmutzige Hände«. Er publiziert seit 20 Jahren Berichte über Korruption in der Türkei. »Was wir gerade erleben, ist ein Machtkampf zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung. Beide sind aber Teil des selben politischen Lagers und teilen die selbe Mentalität. Macht und Geld wollen sie. Jahrelang hat die Gülen-Bewegung die Korruption nicht beanstandet. Jetzt schießt sie zurück, weil die Regierung versucht, ihren Einfluss im Bildungssektor zu begrenzen.« Auslöser der Enthüllungskampagne gegen die AKP war die von der Regierung vergangenes Jahr forcierte Schließung von Nachhilfeschulen, die auf die Universitätsaufnahmeprüfung vorbereiten. Die im Bildungsbereich aktive Gülen-Bewegung nutzte sie als Kaderschmieden und konnte viele Absolventen in einflussreiche Positionen bringen. Şener wurde selbst ein Opfer dieses Netzwerkes. Der investigative Journalist hat ein Buch über die Beteiligung der Gülen-Bewegung im Polizeiapparat an der Ermordung des armenischen Journalisten Hrant Dink geschrieben. Die gegen ihn angestrengten Gerichtsverfahren endeten jedoch mit Freispruch. Schließlich stand der renommierte Journalist im Zentrum eines anderen Prozesses, in dem es um denselben Kreis und dessen mörderischen Machenschaften ging. Jene Personen, die er als Teil des Dink-Mordkomplotts beschreibt, sollten nun Teil seines eigenen Netzwerkes sein, er selbst wurde bezichtigt, einer ihrer Anführer zu sein. Şener sitzt zwar nicht mehr im Gefängnis, die Anklage läuft aber weiter, 15 Jahre Haft fordert die Staatsanwaltschaft. Şener betont zugleich, dass es wichtig sei, im Ausland nicht den Eindruck zu erwecken, die Meinungsfreiheit in der Türkei sei erst durch die jüngsten Entwicklungen bedroht. Etwa 35 000 Websites seien in der Türkei ohnehin dauerhaft gesperrt: »Um die Meinungsfreiheit in der Türkei war es schon immer katastrophal bestellt, es wird nur einfach immer schlimmer, und die neuen Technologien bieten die Möglichkeit für umfassenden Machtmissbrauch.«
Auf der Website von Mehmet Baransu können diejenigen, die über einen Proxyserver ins Internet gehen, den neuesten Skandal nach­lesen. Nachdem Staatspräsident Gül das Internet-Gesetz gebilligt hat, soll er auf Twitter Hunderttausende Follower verloren haben. Die AKP soll versucht haben, dies zu kaschieren, indem sie Scheinidentitäten auf Twitter installiert hat. Eines steht fest: Das türkische Netz ist eines der am stärksten manipulierten und kontrollierten weltweit.