Die Affäre um Sebastian Edathy

Vom Staatsbürger zum Sexmonster

Die Affäre um Sebastian Edathy zeigt: Geht es um »Kinderpornographie«, gilt die Unschuldsvermutung nicht mehr.

Am 5. April 2010 hatte ein engagierter Bürger im Internet eine persönliche Begründung für die Notwendigkeit der Vorratsdatenspeicherung hinterlassen: »Auf meinen Namen wurde vor ca. ­einem Jahr über das Internet bei einem recht bekannten Flensburger Erotikversand eine künst­liche Vagina bestellt, über deren Eintreffen in meiner Privatwohnung ich sehr überrascht war. Ist es legitim, herausfinden zu wollen, ob der Besteller identifiziert werden kann? Ich meine: Ja.« Der Autor war ein besonders engagierter Bürger: Bundestagsabgeordneter der SPD, Mitglied des Fraktionsvorstands und Sprecher der Arbeitsgruppe Rechtsextremismus. 2005 war er zum Vorsitzenden des Innenausschusses gewählt worden. Auf abgeordnetenwatch.de hatte er versucht, einem anderen engagierten Bürger die Sorgen über ein in obrigkeitsstaatlicher Überwachung versinkendes Europa zu nehmen.

Dieser wackere Sozialdemokrat, Sebastian Edathy, war offensichtlich vom Glauben beseelt, Gesetz und Ordnung seien Garanten der Freiheit der Einzelnen, solange diese sich nur legal verhielten. Die Öffentlichkeit verfolgte gebannt, wie ihm dieser Glaube Kraft bei der Ausübung des Vorsitzes im NSU-Untersuchungsausschuss verlieh, wie er mutig und eloquent zugleich die Finger auf eitrige Wunden des Rechtsstaats legte, wie er Ignoranz, Schlamperei und Auf-dem-rechten-Auge-blind-Sein der Sicherheitsorgane aufdeckte. Auch hier vergaß er selten den Hinweis, wie segensreich flächendeckende Datenspeicherung sich auf die Ermittlungen hätte auswirken können.
Nun steht Edathy selbst als Objekt der von ihm befürworteten Internetüberwachung da. Makabere Ironie ist, dass der Skandal um seine Person inzwischen gar als Rechtfertigung für die Vorratsdatenspeicherung dient. Eine böse Ironie stellt Edathys öffentliche Metamorphose vom Staatsbürger und Saubermann zum »Sexmonster« dar. Böse im Wortsinne, weil die gegen ihn von Medien, Politik und Publikum erhobenen Vorwürfe des Konsums von Kinderpornographie offenbar aber jeglicher sachlicher Grundlage entbehren, böse auch, weil die hierzulande mehrheitlich herrschende Mentalität den Slogan »Todesstrafe für Kinderschänder« nur deshalb nicht zu adaptieren wagt, weil er von der geächteten NPD stammt. Edathy jedenfalls scheint zu wissen, dass die justitielle Verlautbarung, gegen ihn liege – zumindest bislang – nichts »strafrechtlich Relevantes« vor, nicht ihr Papier wert ist. Er halte sich im Ausland auf, sei vorerst nicht zur Rückkehr bereit, da er um sein Leben fürchte, teilte er im Interview mit dem Spiegel mit.
Für das Publikum begann alles am 10. Februar. Staatsanwälte und Beamte des niedersächsischen LKA drangen in fünf Privat- und Arbeitsräume Edathys ein. Rein zufällig war bei einer Durchsuchung ein Mitarbeiter des lokalen Kraut- und Rübenblattes Die Harke zugegen, der das Vorgehen der Beamten durch ein Fenster fotografierte. Tags darauf erlangte Die Harke überregionale Bedeutung mit der »Information«, es gehe um »Kinderpornographie«. Als Quelle wurden »SPD-Kreise« genannt. Einen weiteren Tag später meldete der NDR einen staatsanwaltschaftlichen »Anfangsverdacht«, Edathy sollte im Internet »Nacktaufnahmen von Kindern zwischen 8 und 14 Jahren« geordert haben. Sie zitierten aber auch einen Durchsuchungsbeschluss, demzufolge dem gesichteten Material »die Legalität offenbar ausdrücklich bescheinigt« wurde.

Nun schwoll das bisherige mediale Murmeln zum schrillen Gekreisch an. Der populäre Rechts­idealist, der schon bei der ersten Erwähnung eines Verdachts erledigt war, wurde zur unheimlichen Figur. Hatte er nicht sein Mandat und die damit verbundenen Ämter niedergelegt? Hatte er sich nicht krankgemeldet? Hatte er sich nicht auch privat zurückgezogen? Nun wusste man offenbar, warum. Wer angenommen hatte, der Abgeordnete habe aus Verbitterung über seine Nichtbeachtung bei der Postenvergabe in der Großen Koalition resigniert, konnte sich einem perfiden Täuscher aufgesessen fühlen. Schließlich hätte man ihm ja keinen Posten geben können, bei den Neigungen! Aber wusste man das? Schon im November? Belastendes Material war nicht gefunden worden. Daraus konnte nur folgen, dass der Verdächtige es in Sicherheit gebracht oder vernichtet hatte. Also war er gewarnt worden. »Strafvereitelung« von höchster Stelle!
Bevor die Rede zwangsläufig auf einen »Kinder­porno-Ring« in Regierungskreisen kommen konnte, wurde rasch ein Bauernopfer dargebracht: Der Landwirtschaftsminister musste gehen. Denn selbstverständlich hatte Hans-Peter Friedrich (CSU), der vormalige Innenminister, seinen Kollegen Sigmar Gabriel (SPD) über »Erkenntnisse« in Sachen Edathy informiert und dieser hatte sie an seinen administrativen Vollstrecker Thomas Oppermann weitergegeben, damit nichts die Stabilität der Großen Koalition gefährde. Geradezu gehorsam wie ein Sozialdemokrat akzeptierte Friedrich seinen Rauswurf und sprach im ZDF-Morgenmagazin den bislang einzigen aufrichtigen Satz in der Affäre: »Wenn es ein Gesetz gibt, das mich zwingt, Schaden vom deutschen Volk nicht abzuwenden, dann muss man das Gesetz sofort abschaffen.« Eine Hamlet-Figur, die sich gedanklich im Zweifelsgestrüpp von Deutschland hier und Rechtsstaat da verheddert, hat jedoch keinen Platz in der deutschen Politik. Am markantesten hatte dies der Fraktionsvorsitzende der Linkspartei, Bernd Riexinger, zum Ausdruck gebracht. Er bezeichnete Friedrichs Entlassung als »notwendigen Akt politischer Hygiene«, dem weitere folgen müssten.
Der Tag des Bauernopfers war auch ein Tag der Justiz. Oberstaatsanwalt Jörg Fröhlich hatte in Hannover zur Pressekonferenz geladen. Die versammelte Medienmeute war aufgeregt. Diesmal freilich vermochte sie ihre Enttäuschung kaum zu verhehlen. Zwischen dem 21. Oktober 2005 und dem 18. Juni 2010 soll Edathy bei einer kanadischen Internetfirma, gegen die im vergangenen Jahr wegen Verbreitung von Kinderpornographie vorgegangen wurde, insgesamt 31 »Filme und Foto-Sets« bestellt und diese 29 Mal per Postsendung und zwei Mal online erhalten haben. Das inkriminierte Material zeige im »ermittlungstechnischen« Sinne nur Aufnahmen der »zweiten Kategorie«. Zur »ersten Kategorie« zählten pornographische Aufnahmen im traditionellen Sinne, zur »zweiten Kategorie« gehörten »nichtpornographische Nacktaufnahmen« von Kindern und Jugendlichen. Bei diesen Aufnahmen komme es »nicht zu sexuellen Handlungen« und es gebe auch »keine Fokussierung auf den Genitalbereich«, wie die SZ berichtete. Andere Blätter schrieben, Fröhlich habe »nackte Jungen im Alter zwischen neun und 13 Jahren« erwähnt, »ohne sexuelle Handlungen, aber ›mit Bezug auf Genitalien‹«, wie die Taz verbreitete. Selbst der Oberstaats­anwalt kam nicht umhin, über einen »Grenzbereich« und die »schwierige Wertungsfrage« zu schwadronieren. Im Klartext: Er hatte nichts in der Hand. Dennoch habe er beherzt handeln müssen, denn »kriminalistische Erfahrung« zeige, dass Konsumenten der »zweiten Kategorie« häufig auch solche der »ersten« seien. Hätte er solcherart Proportionalrechnung beispielsweise auf das Verhältnis von Koranlesern und poten­tiellen Jihadisten angewandt, wäre längst vom ehemaligen Oberstaatsanwalt Fröhlich die Rede. »Die wollen einfach mehr«, interpretierte jedoch nicht nur die Boulevardpresse seine Ausführungen.

Doch auch Edathys Handeln lässt Raum für ­Interpretationen. Angenommen, die derzeitige öffentliche Erzählung über seine sexuelle Präferenz stimmt, dann benahm er sich sehr vorsichtig: Er mied direkte Kontakte zu den Objekten seines Begehrens, bei seinem Foto- und Filmkonsum achtete er offenbar stets auf die strikte Einhaltung der Grenze von »zweiter« und »erster« Kategorie. Doch warum kam der Anhänger einer rigiden Internetüberwachung niemals auf den Gedanken, dass die befürworteten Maßnahmen auch ihn einmal betreffen könnten? Warum engagierte er sich nicht einfach als ehrenamtlicher Betreuer in Freizeit, Sport und Spiel? Und warum entschloss er sich nie zum Eintritt in einen der Opferverbände, wo er legitim und unbehelligt ganz nah am Objekt des Interesses hätte sein können, und das guten Gewissens, weil als Ankläger und nicht als Beschuldigter? Schon Sigmund Freud gelangte zu der Einsicht, wer verstärkten Drang nach Pornographie verspüre, bemühe sich am besten um eine Anstellung bei der Zensurbehörde. Sollte Edathy die Treibjagd überleben, dann wird er auf diese Fragen vielleicht antworten.