Selbstorganisation und Proteste in Bosnien-Herzegowina

Wo die Logik beginnt

Nach den militanten Revolten vom 7. Februar artikuliert sich der Protest gegen die Regierung und die wirtschaftliche Dauermisere in Bosnien-Herzegowina nun in Versammlungen, die im ganzen Land stattfinden.

Der Literaturnobelpreisträger Ivo Andrić beschrieb sein Herkunftsland einst mit den Worten: »Dort, wo die Logik endet, beginnt Bosnien.« Jedes Lehrbuch über das politische System dieses Staats sollte mit diesem Zitat beginnen. Über 100 Minister, zehn unabhängige Kantone, drei Präsidenten und zwei nationale Entitäten – das alles in einem Land mit 3,8 Millionen Einwohnern. Seit nunmehr fast 20 Jahren siecht Bosnien-Herzegowina vor sich hin. Nationalismus, Korruption, unbezahlte Gehälter, eine Jugendarbeitslosigkeit von 60 Prozent. Und doch blieb es ruhig. Die Menschen erinnern sich noch an den Krieg, der in den neunziger Jahren zur Auflösung Jugoslawiens führte, und vielen war noch die fragilste Stabilität lieber als ein Aufflammen neuer Konflikte. Der Friedensvertrag von Dayton ist Fluch und Segen zugleich. Dayton beendete den Krieg und schuf zugleich einen Staat, der zum Scheitern verurteilt ist. Das Einwilligen in den Status quo folgte einer Gewohnheit. Die jeweilige nationalistische Führung im Land hat ihre Bürger nie nach ihrer Meinung gefragt. Sie hat Stimmungen geschürt, meist gegen die jeweils anderen Bevölkerungsgruppen.

Mit diesem Status quo sind viele nicht mehr einverstanden. Lange angestaute Wut hat sich entladen. Gegenüber der sozialen Situation und gegenüber einem politischen System, das keine Legitimität mehr hat. Eine Besonderheit der Proteste in Bosnien-Herzegowina ist, dass fast alle Verständnis für sie aufbringen. Selbst mancher Politiker hält sich zurück, wenn es darum geht, Gewaltakte zu verurteilen.
Mit den Rauchwolken über Sarajevo, Tuzla und Zenica am 7. Februar hielt die Logik Einzug in den jungen Balkanstaat. Die brennenden Regierungsgebäude und Parteizentralen waren nichts anderes als die Schlussfolgerung aus der wirtschaftlichen Misere und einem völlig dysfunktionalen politischen System. Als Regierungsgebäude in Brand gesteckt wurden und viele Politiker zurücktreten mussten, wurde den Demonstranten bewusst, dass sie Einfluss auf die Geschehnisse in ihrem Land nehmen können.
So gab es in den vergangenen Tagen und Wochen im ganzen Land Versammlungen – Räume, in denen Bürger darüber diskutieren können, wie sie leben möchten. Wer die Regierung nicht mehr anerkennt, gründet eben eine eigene. Diese Versammlungen werden in Bosnien »Plenum« genannt. Bereits die Vollversammlungen der kommunistischen Partei Jugoslawiens fanden unter dieser Bezeichnung statt. Keiner konnte bislang erklären, warum sich für diese Form direkter Demokratie in Bosnien-Herzegowina dieser altbackene Begriff durchgesetzt hat. »Plenum« klingt offiziell, organisiert, einem vorgegebenen Ablauf folgend – all das, was die gegenwärtigen Proteste nicht sind.
Das Plenum ist auch eine Therapiesitzung. Die Menschen sprechen über ihre Leiden und Traumata. Darüber, wie es ist, nicht zu wissen, wo man zum Monatsende noch etwas zu essen herbekommen soll, darüber, wie sie monatelang gearbeitet haben, ohne dafür bezahlt zu werden. Hier kommen Menschen zusammen, die zum ersten Mal in ihrem Leben überhaupt den Eindruck haben, selbstbestimmt über ihr Leben entscheiden zu können. Noch vor einem Monat hätte kaum einer der Anwesenden daran geglaubt, dass sie und ihre Nachbarn es schaffen könnten, sich Gehör zu verschaffen und Kantonsregierungen zu stürzen. Der Philosoph Srećko Horvat betrachtet das Plenum als »die größte Überraschung, die aus den Protesten hervorgegangen ist«.
Die größte Versammlung ist das »Plenum der Bürgerinnen und Bürger Sarajevos«, das täglich stattfindet, mit manchmal bis zu 1 000 Beteiligten. Wer nicht dort sein kann, hat die Möglichkeit, die Geschehnisse per Facebook oder auf der Homepage zu verfolgen. In bester Tradition direkter Demokratie wird hier stundenlang diskutiert. Die Versammlungen werden moderiert, offizielle Sprecher gibt es nicht. Es wird peinlich genau darauf geachtet, Hierarchien zu vermeiden. NGOs beteiligen sich an dem Plenum, aber sie treten nicht als solche auf. Politische Parteien sind unerwünscht, versuchen aber manchmal trotzdem, ihre Position darzulegen. Das trifft meist auf wenig Gegenliebe. »Ihr habt uns doch erst in diese Lage gebracht, warum solltet ihr jetzt noch eine Plattform für eure Propaganda bekommen«, schreit einer der Teilnehmer erzürnt gegenüber einem Mitglied der sozialdemokratischen Partei SDP.
Bemerkenswert ist, dass es zu Kritik an den nationalistischen Führung des Landes kommt, die vom Status quo profitiert. Srećko Horvat schilderte eine Situation zu Beginn der Proteste wie folgt: In den ersten Tagen in Sarajevo wurden rund 50 Menschen von der Polizei in einen Fluss gestoßen. Ein paar Tage später kam einer von ihnen mit einem gebrochenen Bein zum Plenum und sagte: »Ich bin Katholik, ich bin Jude, und ich bin ein Muslim. Ich bin alle Bürger dieses Landes.« Ein anderer Mann auf dem Plenum in Sarajevo antwortete: »Wenn ich ein Muslim bin und er ist Serbe oder Kroate und wir haben beide Hunger, sind wir dann nicht Brüder? Wenigstens sind wir Brüder im Magen!« Nach einer kurzen Pause murrte er: »Ich bin vielleicht nicht schlau, aber das wollte ich gesagt haben.« Aus der anderen Ecke des Raums schallt ihm entgegen: »Wenn du hier bist, dann bist du schlau.«
Das ist eine typische Situation während des Plenums in Sarajevo.

Doch dass Kommentatoren wie Slavoj Žižek und Srećko Horvat die Ereignisse als multiethnische Proteste deuten, entspringt mehr ihrem Wunschdenken als der gesellschaftlichen Realität. In den bosniakisch dominierten Städten beteiligen sich zwar auch Serben, Kroaten und Roma an den Versammlungen, aber die Städte mit kroatischer und serbischer Bevölkerungsmehrheit fallen vor allem dadurch auf, dass es dort kaum zu Protesten kommt. Zwar gab es in Banja Luka, eine Stadt mir serbischer Bevölkerungsmehrheit, Proteste, doch diese haben nicht die Dynamik entfaltet wie in Sarajevo, Tuzla und Zenica. Die nationalistischen Serben und Kroaten verweigern bis heute eine stärkere Integration in den bosnischen Gesamtstaat. Milorad Dodik, Präsident des serbischen Landesteils, nutzt die Proteste, um für die Unabhängigkeit seiner Republik zu plädieren. Er wittert eine Verschwörung gegen die Existenz des quasi autonomen serbischen Landesteils. Die Forderung mancher Demonstranten, das Proporzsystem abzuschaffen, in dem politische Ämter nach ethnischen Kategorien verteilt werden, interpretieren serbische und kroatische Nationalisten geradezu als Kriegserklärung. Im serbischen Landesteil funktioniert die Politik der nationalistischen Stimmungsmache wie eh und je.
Wer sich ein umfassendes Bild über die Situation in Bosnien-Herzegowina machen möchte, kommt an dem Plenum als Form direkter Demokratie nicht vorbei. Einige Forderungen artikulieren sich in allen Versammlungen im Land. Das sind meist Rücktrittsforderungen, die Beschneidung von Beamten-, insbesondere Politikergehältern, die Rücknahme dubioser Privatisierungen und ein effektives Vorgehen gegen Korruption. Die ersten Forderungen eines Plenums wurden in Tuzla erfüllt. Dort hatten pensionierte Politiker in Einzelfällen eine jährliche Pension von über 500 000 Euro bekommen – weit mehr als das Hundertfache einer normalen Pension. Diese wurden daraufhin stark gekürzt.
Aus brennenden Regierungsgebäuden allein kann auf Dauer kein besseres Leben für die Menschen in Bosnien hervorgehen. Das Plenum indes hat ein gewisses Potential. Es mag auf manche als Form ineffektiv, lächerlich und unlogisch wirken. Aber es ist bei weitem nicht so ineffektiv, lächerlich und unlogisch wie die offiziellen poli­tischen Institutionen Bosnien-Herzegowinas.