Warum die Krim für Russland so wichtig ist

Der Ort der Sehnsucht

Die Kontrolle über die Halbinsel Krim ist seit Jahrhunderten Ausdruck der russischen Weltmachtstellung. Es ist deshalb unwahrscheinlich, dass die russische ­Regierung dieses Gebiet kampflos aufgibt.

Die Auseinandersetzungen um die Krim haben eine lange Geschichte. Bereits von 1853 bis 1856 tobte auf der Halbinsel im Schwarzen Meer ein Krieg, der als Vorläufer der großen Kriege des 20. Jahrhunderts und zugleich als »letzter Kreuzzug« interpretiert wurde. Der britische Historiker Orlando Figes legte mit seinem Buch »Krimkrieg« im Jahr 2010 die Grundlage für eine breitere historische Auseinandersetzung mit den Beziehungen zwischen Russland und der Krim.
Auch wenn der Konflikt um die Halbinsel heute anders gelagert ist als vor 150 Jahren, liegt seine Ursache nach wie vor im Interesse Russlands an einem militärischen Stützpunkt im Schwarzen Meer. Lange Zeit sicherte der Hafen Sewastopol nicht nur eine günstige geostrategische Position, sondern auch die Mobilität des Militärs im Winter, wenn die anderen großen russischen Häfen teils monatelang wegen der Kälte und des Eises nicht befahrbar sind. Die Krim lag strategisch günstig zwischen den großen Reichen und sicherte einen schnellen Zugang zu den Gebieten der südlichen Slawen, insbesondere der Serben.
Gleichzeitig war die Präsenz im Schwarzen Meer wichtig für die Kontrolle der vielbefahrenen Meerenge des Bosporus und somit den Zugang zum Mittelmeer, auch wenn durch Klimaveränderungen inzwischen weitere russische Häfen ganzjährig angelaufen werden können und die Festung und der Hafen auf der Krim an Bedeutung verlieren. Auch die starke Präsenz russischer Bevölkerung auf der Krim und deren Identifikation mit der Russischen Föderation statt mit der Ukraine ist historisch begründet. Die Ansiedlung von Russen sollte bereits zur Zarenzeit die militärische Präsenz sichern und ein Gegengewicht zur muslimischen Bevölkerungsmehrheit der Tataren bilden. Mit dem Stützpunkt auf der Krim beansprucht Russland zudem eine Vormachtstellung über die Gebiete in der Umgebung.
Selbst innerhalb der UdSSR erhob die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik (RSFSR) Anspruch auf die Krim als eigenes Territorium und betonte damit die militärische und strategische Bedeutung der Krim für die gesamte Sowjetunion. Erst 1954 wurde die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Krim der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik (USSR) unterstellt. Der Grund hierfür dürfte in der unangefochtenen Vorherrschaft der gesamtsowjetischen Organe gegenüber denen der USSR liegen. Möglicherweise spielten dabei auch die stalinistischen Deportationen während des Zweiten Weltkriegs eine Rolle, durch die die Anzahl der einheimischen muslimischen Tataren stark reduziert wurde. Ihre Bürgerrechte, derer man sie beraubt hatte, erhielten sie zwar 1967 wieder, aber erst ab 1988 erhielten sie ein Rückkehrrecht auf die Halbinsel. Auch wegen dieser Geschichte stehen weite Teile der tatarischen Bevölkerung, die sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion dort wieder angesiedelt haben, heute der russischen Präsenz und russischen Einmischung in ukrainische Angelegenheiten äußerst kritisch gegenüber.
Der tatarische Bevölkerungsanteil auf der Krim liegt bei etwa zwölf Prozent. In den vergangenen Jahren wurden die Tataren von der Regierung in Kiew stark in ihrem Streben nach kultureller Autonomie unterstützt. Damit sollte insbesondere zu der bestehenden russischsprachigen und mit Russland sympathisierenden Bevölkerung ein Gegengewicht geschaffen werden.

Die derzeitige Einflussnahme auf die Situation in der Ukraine könnte Russland zu einem Vorteil im Machtkampf um die Einflussgebiete in Ostmittel- und Südosteuropa verhelfen. Auch wenn Russland langfristig wohl nicht an einer kompletten Herauslösung der Krim aus dem ukrainischen Staat interessiert ist, könnte der Konflikt die Machtkonstellation grundlegend verändern. Gelingt es Russland, ein russisches Protektorat auf der Krim zu etablieren, verliert die Ukraine ihr bisher wirkungsmächtigstes Instrument im Streit um billiges russisches Gas und Öl. Die bisherige Vergabe der Pachtrechte auf der Krim war direkt an die Garantie niedriger Preise für das in der Ukraine benötigte Gas aus Russland gebunden. Diese Abmachung brachte der Ukraine erhebliche finanzielle Vorteile bei der Energieversorgung; das Land hätte den Gaspreis auf dem Weltmarkt kaum zahlen können. Gleichzeitig sicherte sich die Russische Föderation damit vor allem im Winter die Sympathien der Bevölkerung und gleichzeitig ein schlagendes Argument gegen die Annäherung der Ukraine an die EU oder Nato.
Hierbei spielt auch die russische und russischsprachige Bevölkerung im Osten und Süden der Ukraine eine große Rolle. Bereits in den Konflikten der neunziger Jahre im Baltikum, in der Republik Moldau und im Kaukasus betonte Russland seine vermeintliche Verantwortung für die durch die Unabhängigkeitserklärungen der ehemaligen Sowjetrepubliken plötzlich im Ausland lebenden Russen. Das Interesse an den Auslandsrussen und ihre Unterstützung sind auch bedingt durch die Besonderheit des russischen Verhältnisses mit den übrigen Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Diese Staaten werden als »nahes Ausland« betrachtet, worin sich ein deutlicher Hegemonieanspruch ausdrückt. Die Souveränität dieser Staaten wird nicht ernst genommen und somit gilt das Eingreifen in deren innere Angelegenheiten als gerechtfertigt. Russland hat sich in dieser Frage vielleicht weniger von seinem sowjetischen Vorbild gelöst, als oftmals angenommen wird.
Inwieweit auch das Denken wichtiger Teile der Bevölkerung in sowjetischen Freund- und Feindbildern verhaftet ist, lässt sich an der Symbolik beider Parteien ablesen. Einige Teilnehmer der prorussischen Freiwilligenverbände auf der Krim schmückten ihre Uniformen mit schwarz-orange gestreiften Bändern. Diese Sankt-Georgs-Bänder sind ein in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion weit verbreitetes Zeichen des Gedenkens an den Sieg im Zweiten Weltkrieg. Als Symbol kann dies nur bedeuten, dass sich die Träger in Anlehnung an die Geschichte als Kämpfer gegen die Faschisten begreifen. Gerade in russischsprachigen Medien werden die ukrainischen Protestierenden ungeachtet ihrer heterogenen Motive kollektiv als Faschisten bezeichnet.
Im westlichen Fernsehen hingegen waren Gegner der russischen Stationierung auszumachen, die mittels Schildern vor der US-Botschaft deutlich machten, dass sie ihre Situation mit der Ungarns 1956 vergleichen. Dort hatten sowjetische Truppen den ungarischen Aufstand niedergeschlagen und anschließend eine prosowjetische Regierung installiert.
Wladimir Putins Desinteresse an seinem Image im Westen lässt nicht auf eine schnelle Beendigung des Konflikts hoffen. Ginge Russland erfolgreich aus diesem Konflikt hervor, hätte es, ohne wirklich dauerhafte Reaktionen der westlichen Länder zu fürchten, gezeigt, wie erfolgreich es sich in seinen unmittelbaren Nachbarregionen an der politischen Gestaltung beteiligen kann.
Russland sieht in der Krim seinen Vorposten im Süden. Die Halbinsel dient nicht nur militärischen Zwecken, auch in der Geistesgeschichte – nach der romantisch-politischen Vorstellung in der »russischen Volksseele« – ist die Krim fest mit Russland verbunden: Für Puschkin, Tolstoi und Tschechow war sie Inspiration und Urlaubsziel. Seit der Annexion durch Russland 1783 unter Zarin Katharina II. ist die Kontrolle über die Krim Ausdruck der Weltmachtstellung Russlands und das Symbol für den Glauben an sie. Unwahrscheinlich, dass die russische Regierung diesen Ort der Sehnsucht kampflos aufgeben wird.