Harun Farocki im Gespräch über seine Ausstellung »Ernste Spiele« im Hamburger Bahnhof

»Die Animationen laufen den Fotografien den Rang ab«

In seiner vierteiligen Werkreihe »Ernste Spiele«, die im Hamburger Bahnhof zu sehen ist, beschäftigt sich HARUN FAROCKI mit dem Einsatz von Computersimulationen im Militär.

In Ihrer Ausstellung »Ernste Spiele« wird auch Ihr Film »Nicht löschbares Feuer« von 1969 gezeigt. Sie erinnern daran, dass der Film damals als »kalt« und »ungeschickt« bezeichnet wurde. Wie schätzen Sie diese Kritik heute ein und warum zeigen Sie den Film jetzt wieder?
Von einem Film zum Krieg in Vietnam wurde damals erwartet, dass er die Erregung aufgreift, die der Protest bedeutete. Der Vietnam-Protest war für viele ein Bruch, eine Revolte, die einem ganz andere Lebensperspektiven eröffnete. Insofern war mein Film »kalt«. Gemessen auch an Filmen, die meine Mitstudenten an der Akademie machten, in denen wir Demonstranten die Polizei in die Flucht schlugen.
Mir selbst ging es ebenso: Als in Berlin die »Cinétracts« vom Mai ’68 aus Paris zu sehen waren, fiel mir auf, dass da nichts von der Macht der Revolte und der Volksfeststimmung zu sehen war. Und die erste Kritik, die zu »Nicht löschbares Feuer« erschien, hat dem Film auch gleich technische Mängel vorgeworfen. Nicht zu Unrecht. Etwas verrückt schon, dass wir fast alle Bilder mit einem Weitwinkelobjektiv aufgenommen haben. Wir zeigen diesen Film in der Ausstellung, weil er meine erste Arbeit nach dem Besuch der Filmakademie war; so wie wir auch meine erste Arbeit für einen Kunstraum zeigen, »Schnittstelle« von 1995.
Klaus Theweleit bezeichnet die Filme Jean-Luc Godards als solche, in denen Menschen aus Büchern vorlesen. Könnte man sagen, Farocki-Filme sind Filme in denen es – neben Arbeitsverhältnissen, Krieg und Computertechnologien – um Rollen und Spiele geht?
Meinen ersten Film mit Rollenspielen habe ich schon in den achtziger Jahren gemacht. In dem Film »Die Schulung« ging es um einen Kurs für Manager, die mich stark an meine Lehrer erinnerten: etwas wichtigtuerisch, leicht zu kränken und ohne Selbstironie. In diesem Seminar machten die Manager auch ein Rollenspiel, die Hälfte dieser mittleren Manager spielten Arbeiter und die andere Hälfte spielten Manager. Sie verhandelten zum Beispiel, ob die Löhne bar ausgezahlt oder auf das Konto überwiesen werden. Ich fand, dass das eine Entsprechung zu Brechts Lehrstücken war. In beiden Fällen lernen eher die Spielenden, kaum die Zuschauenden. Das fand ich auch darstellerisch interessant, weil das schön verknappt war. Davon wurde ich immer wieder angezogen. Bei den »Ernsten Spielen«, die nun im Hamburger Bahnhof gezeigt werden, war das Rollenspiel die einzige Möglichkeit, die therapeutische Behandlung traumatisierter Soldaten zu zeigen. Ich hätte Patienten nicht filmen dürfen und möchte Menschen in solcher Not auch nicht filmen. Hier hatten wir die Gelegenheit, einen Workshop zu filmen, in dem Psychologen der Armee lernen, mit einem Programm namens »Virtual Iraq« umzugehen. Dazu führen sie Rollenspiele auf, in denen etwa eine Frau die Psychologin, ein Mann den traumatisierten Soldaten spielt. Eine Verfremdung.
Was reizt Sie an Militärtechnologien, Computeranimation und Simulation? Geht es um eine Erweiterung des Sehens?
Der Krieg der Alliierten gegen den Irak 1991 wurde zu einem großen Teil im Fernsehen mit Bildern wiedergegeben, die bis dahin nur dem Militär zugänglich waren: mit Bildern aus der Luft, oft aus dem Kopf eines Geschosses, das auf sein Ziel zuflog; mit filmenden Bomben, wie Theweleit das nannte. Und am Ende dieses Krieges entschied das Department of Defense, die entscheidende Schlacht von 73 Easting (eine der größten Panzerschlachten des zweiten Golfkriegs, die im Grenzgebiet zwischen Saudi Arabien und dem Irak am 26. Februar 1991 stattfand; Anm. d. Red.) nicht in einem Film zu verewigen, sondern in einer 3-D-Simulation. Es geht mir also, wie schon Friedrich Kittler, um die Avantgarderolle des Militärs. Und um die Frage der Macht, nicht nur beim militärischen Gebrauch von Bildern. Ich glaube, dass die Computeranimationen dabei sind, den fotografischen Bildern den Rang abzulaufen, und ich will untersuchen, warum.
In ihrer Arbeit »Immersion« geht es um den Einsatz von Virtual-Reality-Software bei der Behandlung traumatisierter amerikanischer Soldaten. Die Immersionstherapie lässt den Soldaten sein traumatisches Erlebnis wiederholen, nacherleben und nacherzählen. Wie kamen Sie auf das Thema?
Ich kannte das Wort »Immersion« bislang nur aus Ankündigungen von Sprachkursen, bei denen die Schüler gänzlich in die zu erlernende Sprache eintauchen sollen. Erst während der Recherchen zu diesem Projekt erfuhr ich, dass dieses Wort auch benutzt wird, um das Eintauchen in virtuelle Bilder zu bezeichnen, und dass auch ein therapeutisches Verfahren so benannt ist. Wir drehten diesen Film in Fort Lewis im Bundesstaat Washington. Zunächst gaben zwei der zivilen Therapeutinnen eine Einführung. Es gilt, zuerst in Erfahrung zu bringen, wovon der Patient traumatisiert wurde. Es gilt dann, eine entsprechende Szene in dem Virtual-Iraq-Programm zu finden. Der Patient trägt ein head mounted display, eine Art Brillenmonitor, auf den ihm das Bild gespielt wird, etwa eine Straße durch die Wüste. Er kann in diesem Bild navigieren, eine Wendung seines Kopfes wird zum Schwenk über die Landschaft. Der Therapeut kann Zwischenfälle anwählen: Die Explosion einer Landmine, einer Autobombe oder das Feuer von Heckenschützen. Er kann auch Gerüche anwählen, etwa den von verbranntem Gummi oder Haar – aber darauf wurde im Seminar verzichtet.
Nach einer technischen Einführung fingen die über 30 Armeetherapeuten an, sich an sechs Computerplätzen in Rollenspielen einzuüben. Diese Szenen gefielen mir stilistisch sehr. Weil die Patientendarsteller Kopfhörer trugen, sprachen sie laut, so dass ihre Sätze wie Deklamationen klangen. Sie erzählten in der Vergangenheitsform: »I was really mad. I just … like I thought I didn’t want to shoot at just anything, but at the same time I just … I was so mad that I just wanted to shoot somebody.« Die head mounted displays verbargen ihre Gesichter, als trügen sie Masken. Und auf dem Computer – wir schnitten dies synchron mit – war das zu sehen, was die Patienten des Rollenspiels sahen und beschrieben. Hitchcock hat mehr als einen Film gemacht, in dem die Szene, die das Trauma einer Filmfigur verursacht hat, schließlich als Filmszene zu sehen ist. Hier sieht man, was der Patient sich vorzustellen scheint.
Bezieht sich die Immersionstherapie wie das damalige Hollywood-Kino auch auf die Psychoanalyse?
Bei der Immersionstherapie beruft man sich nicht auf Freud, sondern auf die ein wenig einfache Seelenmechanik von Pawlow. Es geht um Entkonditionierung. Der Patient soll immer wieder das Ereignis wiedergeben, das ihn traumatisierte. Er soll damit erfahren, dass die Repräsentation nicht mit dem Erlebnis identisch ist. Das ist eine interessanter Umschlag: Einerseits soll das Erlebte möglichst vollständig rekonstruiert werden, man soll in es eintauchen, als wäre es real. Zugleich soll man lernen, dass es nicht real ist. Es handelt sich um eine Gesprächstherapie. Die Bilder sind nur ein Einstieg. In dem Rollenspiel, das »Immersion« hauptsächlich zeigt, hat »Kevin« erlebt, wie bei seinem ersten Einsatz sein Kamerad von einem Sprengkörper zerfetzt wurde. Dieses Ereignis wird mit Hilfe des Programms »Virtual Iraq« rekonstruiert.
Einer der Therapeuten erzählte uns, dass sich viele Soldaten schämen würden, wenn sie ihren Kameraden sagen müssten, sie gingen zum Psychologen. Wenn sie aber sagten, sie gingen zu einem Videospiel, wollten die anderen gleich mit. Vielleicht sind die Computeranimationen hauptsächlich ein Lockmittel. Die Bilder sollen die Erinnerung zum Sprechen bringen. Die Sprache ist das eigentliche Medium der Erkenntnis. Der Therapeut, der den Soldatenpatienten in »Immersion« spielte, sank an einer Stelle plötzlich zusammen. Er hockte dann da und bat mehrmals darum, die Sitzung abbrechen zu dürfen, weil er es nicht mehr ertrage. Die Therapeutin bestand auf Fortsetzung. Er zögerte, stammelte, verhedderte sich immer wieder in umständlicher Darlegung seiner damaligen Überlegungen und Selbstvorwürfe. Er spielte das so überzeugend, dass später Freunde und Mitarbeiter, denen ich erzählt hatte, dass wir ein Rollenspiel gedreht hatten, annahmen, hier werde eine selbst gemachte Erfahrung mitgeteilt. Selbst der Presseoffizier, der uns die Drehgenehmigung erteilt hatte, nahm an, hier habe jemand wirklich die eigene Erfahrung mitgeteilt. Selbst wenn der Therapeut nur so gut spielte, weil er etwas verkaufen will, muss diese Szene kein falsches Spiel sein.
Eine militärisches Container-Siedlung in Twentynine Palms in Kalifornien ist die Kulisse ihres Filmes »Drei tot«. Hier haben sie ein Manöver aufgenommen, für das eine Ortschaft in der Wüste vom Militär nachgebaut wurde. Darin sieht man einen Trupp amerikanischer Soldaten, die Wache stehen oder auf Patrouille gehen, Angriffe und andere Alltagssituation im Krieg üben. Was hat sie daran gereizt?
Twentynine Palms ist sehr interessant, es erinnert nicht nur an eine Manöverkulisse oder eine Westernstadt, sondern auch an ein Flüchtlingslager. Die Basis ist so groß wie die Stadt Berlin. So groß, dass man sie nicht gänzlich umzäunen kann und es immer wieder passiert, dass Wanderer unabsichtlich auf das Gelände gelangen. Anders als im Fort Lewis, wo wir vom Schauplatz, dem Kasino-Gebäude aus, das Geschrei aus einem Kindergarten hören konnten, leben auf der Basis Twentynine Palms keine Angehörigen. Die Marines, die wir bei Übungen beobachteten, waren zurückhaltend, höflich und nicht weniger beredt als die Armeetherapeuten in Fort Lewis. Sie ähnelten aber eher Büroangestellten oder Computertechnikern als den Marines, die wir im Kino gesehen haben. Die Container-Stadt wurde während des Manövers für drei Tage und Nächte von 300 Statisten bewohnt, von Männern und Frauen in Landeskleidung – nur Kinder fehlten.
Die Statisten dort sind zum Teil aus Pakistan, Iran, Afghanistan, Leute die einen Job brauchen – es sind auch ein paar verkleidete Hippies dabei. Wenn sie in einer Pause zum Essen anstehen, sieht es so aus, als werde da die Bevölkerung im Krieg notversorgt. Als wir das Container-Dorf erreichten, hörten wir im Autoradio von einem Banküberfall. Der Banküberfall gehörte zum Manöver wie die Radiostation auch. Eine Stadt mit verschiedenen Sektoren: Botschaftsviertel, Gefängnisviertel, Sportstadionviertel, Slum, Altstadt, ist dort aufgebaut. Wir begaben uns zur Altstadt, die an einen Hang gebaut ist. Die Bauwerke sind aus Containern, in die Fenster geschnitten sind, mit einer hellbraunen geschäumten Kunststoffoberfläche. Ein Pick-up, auf den die Mülltüten geladen wurden, hatte ein Kennzeichen in arabischer Schrift und darunter ein kalifornisches, womit sich sein Doppelcharakter anzeigte: die Müllabfuhr darstellen und den Müll abfahren. Ein Realitäts- oder Hyperrealitäts-Effekt.
Ihre Filme werden zumeist in Austellungen präsentiert, weniger im Kino. Stört es Sie, dass es heute immer weniger Kinos gibt, die Autoren-, Dokumentar- und Essayfilme zeigen?
Als ich Schüler war, bedeutete Kino für mich etwas, das im Gegensatz zum System Schule steht. Meine Lieblingskinos mit ihren Nachtvorstellungen gehörten sozusagen zum Rotlichtviertel. Da kriegt man mehr versprochen, als je gehalten wird, und fühlt sich dennoch nicht betrogen. Auf solche Leinwände habe ich es natürlich nie geschafft. Aber auch Kinemathekenkinos sind für mich magisch aufgeladen.
Einmal, weil ich an solchen Orten die Filme sah, die für mich Vorbild wurden. Außerdem, weil dort nicht nur kanonisiert wird, sondern auch Beziehungen zwischen verschiedenen Filmen hergestellt werden.
Es gibt allerdings viele Kunstorte, an denen geschieht, was in Kinos kaum passiert: dass sie zu einem Ort des Austauschs werden, dass da die verschiedensten Orientierungen zusammentreffen.
In einem Gespräch mit Frieda Grafe und Hartmut Bitomsky sagen Sie, Sie hingen einer etwas altmodischen Vorstellung von Film. Für Sie komme es darauf an, mit Film das zu sagen, was man nicht sagen könne, wenn man nur malen könnwwe. Wie würden Sie Ihre Arbeit heute definieren?
Als ich anfing, Bücher zu lesen, mit Freunden nachts über Schriftsteller diskutierte oder ins Theater zu Gründgens ging, wäre ich nie auf die Idee gekommen, dass mit Film eine vergleichbare Reflexion möglich wäre. Aber mit der Kulturrevolution konnten plötzlich Leute wie Godard zwei bis drei Filme pro Jahr in 14 bis 15 Ländern herausbringen. Es gab Pasolini, in Deutschland Kluge. Kurz: Es schien beim Film eine Umwälzung möglich wie zuvor in der Popmusik. Dem Film schien der Sprung in die Moderne bevorzustehen, nach Malerei, Musik und Literatur. Für mich gilt immer noch, dass der Film eine eigene Stimme haben muss.

Harun Farocki: Ernste Spiele. Hamburger Bahnhof, Berlin. Bis 13.Juli