Stimme, Musik und Gender

Geschminkte Stimmen

Wer singt da eigentlich? Mit technischen Mitteln arbeiten Künstler wie Burial, Planningtorock und Daft Punk an der Verwirklichung des Traums, sich nach Belieben selbst zu erfinden. Die Stimme wird so zum Instrument von Genderpolitik.

Neulich bei den Grammys: »Get lucky«. Pharrell, Nile Rodgers und Stevie Wonder performen Daft Punks Instant-Evergreen, alles tanzt und strahlt, von Katy Perry bis Yoko Ono. Dann der glücklichste von vielen Glücksmomenten: Ein Roll­laden in der Mitte der Bühne geht hoch, hinter der Scheibe die beiden Daft-Punk-Typen mit ihren Daft-Punk-Helmen, und just in diesem Moment wechselt »Get lucky« den Vokal-Modus: von Pharrells Post-Soul-R & B-Falsett zum posthumanen Autotune-Sound, der in diesem retrofuturistischen Setting so rührend Jugend-forscht-mäßig daherkommt, als hätten Kraftwerk gerade die Autobahn erfunden.
Tags darauf kursiert ein unscharfes Paparazzo-Foto von zwei unscheinbaren Typen um die vierzig. »Daft Punk ohne Helme, die Roboter am Flughafen erwischt«, meldet N24, Bild kommentiert: »Fünf Grammys und zwei Helme in der Tasche.« Ein paar Tage später verändert ein weiteres Foto den Lauf der Welt. Burial postet ein Selfie: der bis dato anonyme Produzent zweier bahnbrechender Alben, »the face that launched a thousand lengthy essays about hauntology« (Dazed Digital), über dessen wahre Identität so viel spekuliert wurde. Und was enthüllt das Foto? Einen vermutlich weißen Briten Ende zwanzig, kurze Haare, kurzer Kinnbart, der Rest verschwimmt im Licht einer Glühbirne. Burial gibt sich zu erkennen als Durchschnittstyp ohne besondere Eigenschaften, sein Gesicht ist gewissermaßen eine Maske zweiter Ordnung, jede(r) könnte Burial sein. Unter dem Hashtag »burialing« posten fortan Leute Selfies in Burial-Pose.
Von der Person, die unter dem Namen Planningtorock performt und soeben ein neues Album herausgebracht hat, existieren keine Fotos, auf denen ihr Gesicht nicht mindestens von einer großen Sonnenbrille verdeckt ist, häufig trägt sie Masken oder inszeniert sich mit Theaterknete »als extraterrestrisches Wesen mit hervorstechender Stirn und zwei geschwungenen, fast schon an eine griechische Skulptur erinnernden Höckern auf der Nase«, so Hanno Stecher 2011 in einem Porträt der Intro unter dem Titel »Das zweite Ich.« Ja, ja, ich ist ein anderer.
Daft Punk, Burial, Planningtorock – bei allen Unterschieden haben diese Acts neben der großen Aufmerksamkeit, die ihnen gegenwärtig zuteil wird, noch etwas Wesentliches gemeinsam: Sie verhüllen, maskieren oder verfremden nicht nur ihr Äußeres, sondern auch ihre Stimmen, respektive die Stimmen, die sie für ihre Musik verwenden. Nun sind sie nicht die ersten, die die für Pop-Musik wesentliche identitäre Nabelschnur zwischen Gesicht und Stimme durchschneiden, aber es könnte sein, dass sie damit eine ähnliche Identitätspolitik verfolgen.
»Die Grundfrage jeder Pop-Musik: ›Was ist das denn für ein Typ? Was für ein Lebensentwurf wird uns denn da prasentiert?‹« So lautet eine der kürzeren Definitionen in Diedrich Diederichsens Buch »Über Pop-Musik«, dem man am ehesten gerecht wird, indem man den Gedanken und Vorschlägen, die es formuliert, folgt, also auch dem wohlbegründeten Vorschlag, Pop-Musik künftig nie ohne Bindestrich zu schreiben – und zu denken. Was ist das denn für ein Typ? Zunächst mal sind Daft Punk, Burial und Planningtorock allesamt Typen, die sich nicht von selbst erklären, Typen, die das Gedachte und Gemachte ihrer Kunst betonen und die Vorstellung, ihre Musik könnte der natürliche, unmittelbare, ungefilterte Ausdruck ihres Seelenlebens sein, eine »Direktübertragung aus der Mundhöhle« (Diederichsen), gar nicht erst aufkommen lassen.
Alle drei arbeiten mit maskierten Stimmen. Mit Technologien wie Pitchshifting, Vocoder, Talkbox oder Autotune modifizieren sie den vermeintlich direktesten Ausdruck der menschlichen Seele, aber eben nicht, wie es so oft missverstanden wird, um ihn zu entmenschlichen, sondern um solchen menschlichen Qualitäten, Potentialen, Neigungen, Lebensaspekten Raum zu geben, die in der weiß-männlich-heterosexuellen Rock-Normalität keinen Platz haben. Die grundsätzliche Chance der Abweichung von dieser Norm markieren Daft Punk, Burial und Planningtorock unter anderem mit maskierten Stimmen, die eine doppelte, nur auf den ersten Blick paradoxe Botschaft verkünden: Hier musst du dich nicht zu erkennen geben, hier kannst du dich zu erkennen geben. Disco war schon immer so ein Raum von Maskerade und Demaskierung. Der Club als temporär befreite Zone, ein Get-Lucky-Space ohne feste Zuschreibungen und Ausgrenzungen, auch diese Glücksformel teilen unsere drei Protagonisten.
»Der Dancefloor als ein utopischer Raum jenseits aller Vorurteile, wo die Musik definierte und begrenzte Körper zu einem flüssigen Begehren verschmelzen kann – das ist gleichermaßen ein verlockendes Ideal wie eine reale, wenn auch oft flüchtige Erfahrung«, schreibt das Magazin Wire in seiner Besprechung von »All Love’s Legal«, dem neuen Album von Planningtorock. Es sei zwar naiv, die paar Quadratmeter Club als Equaliser zu feiern, schließlich reichen fehlende Connections, die falschen Klamotten oder der falsche Körper, und du schaffst es nicht über die Schwelle. Dennoch sei die Geschichte von Disco, Electro und vor allem House eng verbunden mit der Geschichte der Befreiung von LGBT-Individuen oder »People of Colour«.
Planningtorock kommt in den frühen Siebzigern im englischen Bolton zur Welt und wird auf den Namen Janine Rostron getauft. Seit 2002 lebt sie in Berlin und hat im vergangenen Jahr ihren Namen geändert. Sie wollte einen geschlechtsneutralen: Aus Janine Rostron wird Jam Rostron. Aus ihrer natürlichen Stimme wird auf »All Love’s Legal« ein übergeschlechtliches Organ: »So kann ich mit Gender spielen. Ich möchte die Grenzen, in denen wir leben, ausdehnen, die Art, wie wir definiert werden.« Mit dem neuen Album rückt Planningtorock ihren bislang nur in Nischen zustimmungsfähigen dekonstruktivistischen Feminismus näher ans Zentrum der Aufmerksamkeitsökonomie und schreckt nicht zurück vor schweren Zeichen: »Let’s Talk About Gender, Baby«, »Misogyny Drop Dead«, »Patriarchy Over & Out«, so heißen die Songs. Auch musikalisch setzt Planning­torock auf größere Reichweite. Der Hit »Human Drama« kommt so humanmelodramatisch catchy daher wie einst Bronski Beats »Smalltown Boy«, der flieht aus seinem Kaff, wo er seine Sexualität nicht leben kann.
»Trying to find the words to explain my sexuality/It’s liquid, it’s living, a moving love defined by itself/There’s no rules, no convention/This love can go where ever it wants/Gimme a human drama/And understand that gender’s just a game/Gimme a human drama/Our sexuality is not the same!/Gimme a human drama/The personal is so political.« Das Persönliche ist politisch, ja, ihr lieben Achtundsechziger, das kennt ihr. Aber »All Love’s Legal« ist nicht gemacht für euch, die ihr schon mit dem Smalltown Boy gelitten, die Metamorphose von Wayne zu Jayne County und die Verwandlung des Walter Carlos in Wendy miterlebt habt. Planningtorock queert ihre Stimme und stellt sich musikalisch deutlicher denn je in das Kontinuum des sexuell andersdenkenden Pop. Die Linie geht zurück von Hercules & Love Affair über Antony & Coco Rosie, den Queer Pop der Achtziger (Frankie, Culture Club, Erasure, Communards, Marylin …) und Hi-NRG bis zur Proto-House-Ekstase von »The Faboulos Sylvester« – so der Titel von Joshua Gamsons hervorragender Biographie der Gay Black Diva Sylvester.
In Burials Soundentwurf haben Stimmen nicht die Funktion, Worte zu transportieren, sie werden wie alle Tonquellen zu Wachs in den Händen des Produzenten, schmelzen dahin zu einem amorphen Ganzen, dem man die Herkunft seiner Teile nicht mehr anhören kann. In der Berliner Zeitung betreibt Jens Balzer Teilchenforschung: »Auf ›Rival Dealer‹ sind alle von Burial vertrauten Klangsignaturen wieder zu finden: das helle grundierende Knistern, das von leichtem Landregen kommen könnte oder von vernutztem Vinyl; das Geklapper; die Bässe; die wehen Gesänge. Doch wo gerade diese Gesänge bislang nur als Klangquelle unter anderen dienten, entfalten sich aus ihnen nun Leitmotive, Muster, ganze Geschichten. Immer wieder wird die Frage danach gestellt, wie man sich selber annehmen kann, wenn man anders als die anderen ist; wie man zu jemandem wird, der sich selber liebt und so auch ›geliebt werden kann‹ – so der Kernsatz am Schluss des letzten Stücks ›Come Down To Us‹, in dem Burial eine ergreifende Rede der transsexuellen Filmemacherin Lana Wachowski gesampelt hat.«
Die Markierung von Lana Wachowski als »transsexuelle Filmemacherin« ist so korrekt wie irreführend, stellt sie sie doch als eine Nischenkünstlerin dar, die sich vornehmlich bis ausschließlich mit Fragen von Sex & Gender auseinandersetzt. Noch als Larry Wachowski dreht Lana mit ihrem Bruder Andy 1999 nicht mehr und nicht weniger als »The Matrix«. Diese Tatsache treibt die Fallhöhe der Rede, die Burial sampelt, gewaltig nach oben. Es handelt sich um Lana Wachowskis Dankesrede, 2012 hatte sie den Visibility Award der Human Rights Campaign bekommen. Im Video sieht man eine Frau, der man ansieht, dass sie mal ein Mann war, und der man ansieht, dass sie weiß, dass alle wissen, dass sie mal ein Mann war.
Die Aporien der Geschichte sind gewissermaßen gespeichert in Lanas Stimme, die noch nicht leugnen kann – oder will –, dass sie mal Larry gehörte, eine Stimme im Übergang, der genau jenes Künstliche anhaftet, das den künstlichen Eingriffen in die körperliche Natur korrespondiert, die notwendig sind, um Larry zu Lana zu machen. Mit dieser leicht blechernen Stimme erzählt Lana von den Stimmen, die sie gehört hat: »I began to believe voices in my head, that I was a freak, that I am broken, that there is something wrong with me, that I will never be lovable.« Jahre später habe sie die Courage gefunden, sich einzugestehen, dass sie transgender ist und »dass man mich lieben kann«.
Die gebrochene, manikürte, manipulierte, manierierte, die maskierte Stimme bietet sich an als Stimme der Markierten, derjenigen, die kenntlich gemacht werden als Nichtangehörige der heterosexuell-weißen Mehrheit. Die maskierte Stimme kann also mit einer gewissen Überzeugungskraft mitteilen – in word & sound: »dass man mich lieben kann.« Auch wenn ich, Lana, mal ein Larry war. Auch wenn ich, Chastity, mal ein Chaz war. Chaz heißt mit Nachnamen Bono und ist mittlerweile der Sohn von (Sonny & ) Cher. Schon als Kind habe Chastity entdeckt, dass sie im falschen Körper steckte. Mit 39 ließ sie eine Geschlechtsumwandlung vornehmen und wurde zu Chaz. Cher hat ihr Kind unterstützt: »Sie hat sich einfach nicht mehr wohl in ihrem Körper gefühlt. Ich hingegen liebe es, eine Frau zu sein. Ich habe zu meinem Sohn gesagt: ›Wenn ich morgen im Körper eines Mannes aufwachen würde, würde ich ausflippen.‹«
Sagt jene Frau, die den ersten Welthit mit Autotune hatte. Der Vokalschminkstift Autotune dient eigentlich der Perfektionierung von Stimmen. Unebenheiten werden elektronisch ausgeglichen, Misstöne geglättet, Fehler korrigiert. Die hörbare elektronische Bearbeitung der menschlichen Stimme ist im Pop heute so verbreitet wie die sichtbare chirurgische Bearbeitung des Körpers in der Pornographie. In beiden Feldern hat sich das Verhältnis von Norm und Abweichung umgekehrt. Im Pop ist die elektronisch manipulierte Stimme die Regel, die unbearbeitete, natürliche Stimme die Ausnahme. In der Pornographie ist der chirurgisch manipulierte (Frauen-)Körper die Regel, der unbearbeitete, natürliche Körper die Ausnahme. In der Mainstream-Pornographie geht diese Umkehrung so weit, dass es eine eigene Gattung für Freunde unbearbeiter Körper gibt. Wer sich für implantatfreie Brüste interessiert, entscheidet sich auf dem Pornomarkt für die Kategorie »natural«.
So hat es eine gewisse Logik, dass 1998 ausgerechnet die damals 52jährige Cher in ihrem Welthit »Believe« die »Love after love« beschwört, und dass sie die frohe Botschaft von der Liebe nach der Menopause mit einer elektronisch geschminkten Stimme vorträgt. Cher, die schon in den achtziger Jahren damit begonnen hatte, ihren Körper mit technischen Hilfsmitteln zu transformieren. 2008 registriert der Boulevard ein Jubiläum: »Schönheitsoperation Nummer 25 für Cher, darunter Brustvergrößerung, Fettabsaugen und Nasenoperation.« (mybody.de)
Cher ist also in doppelter Weise eine Pionierin der Transformation: Im Body-Tuning und im Stimmen-Tuning. Findet auch Diedrich Diederichsen: »Der bis heute eindrucksvolle und vielleicht letzte große Welthit der Pop-Geschichte lebt stark von einem Effekt, der zugleich ein Sound- und ein Stimm-Effekt ist, den Einsatz der seitdem im R & B-Genre inflationar gewordenen Autotune-Technologie. Die echte Cher-Stimme wird digital harmonisiert und so verfremdet, bleibt aber als ihre erkennbar. Donna Haraways Lob des Cyborg, queere Affirmationen neuer Körperlichkeiten auch mithilfe neuer Technologien und die Auseinandersetzungen mit Biopolitik und Hedonismus eröffneten Felder aktueller kultureller Auseinandersetzungen, die diese Synthese aus einer technoid-fremden und doch vertrauten Stimme gerne aufnahmen«, schreibt er in »Über Pop-Musik«.
Fremde und doch vertraute Stimmen »Be­yond Binary Binds«, um es mit einem Song von Planningtorock zu sagen, jenseits binärer Fesseln.