Der elitäre Charakter der Literaturdebatte

Es gibt keine richtige Literatur

Die Debatte darum, welche Voraussetzungen gute Literatur braucht, ist ein Scheingefecht. Viel wichtiger wäre eine Diskussion um neue Veröffentlichungswege jenseits der Macht der großen Verlage.

Lasst doch mal schreiben
»In meinen Augen ist Goethe kein Dichter.« »Sondern?« »Schiller!« Es mag unfair sein, die aktuelle Literaturdebatte auf diesen Kneipendialog bei Robert Gernhardt einzudampfen. Trotzdem ist es genau diese Haltung, die sich in den meisten Wortmeldungen verzeichnen lässt: Da werden Lieblingsautoren aufgezählt und gegeneinander in Stellung gebracht, vor allem aber Forderungen gestellt. Literatur solle eine größere wie auch immer beschaffene Relevanz aufweisen – bitte keine Texte über Unterhosen mehr –, habe gesellschaftskritischer zu sein, »realistischer«. Zudem solle sie von Autoren mit vielfältigerem biographischem Hintergrund verfasst werden, experimenteller, wagemutiger, interkultureller sein. Einige Kommentatoren fokussieren auf den Literatur­betrieb und seine elitären Auswahlkriterien, andere arbeiten sich an den Schreibschulen ab, die nur stromlinienförmige Autoren und Texte produzierten.

Sag mir, wer du bist, und ich sag dir, wie du schreibst
Florian Kessler, der die Debatte angestoßen hat, lieferte die Vorlage für eine derart personalisierte Diskussion. Das Grundproblem sieht er im biographischen Hintergrund der Absolventen von Literaturinstituten. Ihre Texte beherrschten den Markt, seien aber auf bestimmte Themen und Schreibweisen beschränkt. Wer hierzulande Preise gewinne, habe keine Ahnung von »der Wirklichkeit« da draußen. Darin zeigt sich eine Denkweise, die letztlich auch den Buchmarkt auszeichnet: Verkauft wird über die Fokussierung auf den Autor, was Merkwürdigkeiten wie das sogenannte »Fräuleinwunder« der neunziger Jahre bewirkte, als medienwirksam zu präsentierende Autorinnen wie Judith Hermann die Bestseller­listen anführten. Der Glaube an eine irgendwie geartete Einheit von Autor und Werk scheint auch Jahrzehnte nach Karl May und Roland Barthes nicht ausgestorben: Schreiben lasse sich nur eins zu eins über Erlebtes. Nein, es ist nicht egal, wer spricht. Es ist aber auch nicht der wichtigste Punkt bei der Beurteilung von Literatur.
Dass sich Kessler letztlich in einem Personenbashing erschöpfte und Autoren ihre villenartigen Behausungen vorwarf, verhinderte nicht, dass große Teile des Feuilletonbetriebs ihre eigenen Thesen in den Ring warfen. Warum auch nicht, schließlich ist die Literatur ein relevanter Ort der Gesellschaftskritik, wie Enno Stahl in der Jungle World (6/2014) schrieb.
So überzeugend es auch scheint, wenn er der Literatur empfiehlt, ihre Rolle als »Medium der Gesellschaftskritik« wieder ernst zu nehmen: Lasst die Literatur doch einfach machen. Galt in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts der polemische Begriff von der Asphaltliteratur Autoren wie Alfred Döblin oder Anna Seghers, die sich nicht mit Scholle und Heimat beschäftigten, soll heute der Realitätsbezug im Gegenteil zum Qualitätsmerkmal gemacht werden. Ähnliche Forderungen erhob schon der »Werkkreis Literatur der Arbeitswelt« seit den siebziger Jahren. Und auch der Bitterfelder Weg leuchtet aus der Ferne auf. Die »richtige« Literatur, wo ist sie denn nur?

Ich unbequemer Kritiker, du Onkel Tom
Dass Machtverhältnisse eher selten mit einer Anklage von Seiten der Marginalisierten umgeworfen werden, scheint allerdings den meisten Diskussionsteilnehmern entgangen zu sein. So lässt sich der äußerst aggressiv vorgetragene Beitrag von Maxim Biller in der Zeit als ein einziger Vorwurf an ein imaginiertes Kollektiv migrantischer Autoren lesen. Statt sich vom deutschen Literaturbetrieb zu »Onkel Toms« domestizieren zu lassen, sollten sie doch ihre angestammte Rolle als Kritiker nutzen, »echte« Themen aufgreifen. Denn Menschen mit Migrationserfahrung oder wenigstens -hintergrund wissen, wie die Realität aussieht, die schleppen mindestens ein Trauma mit sich herum und könnten den Literaturbetrieb doch mal aufmischen, wenn sie nicht so angepasst und gezähmt wären.
Autoren, die Kessler als solche mit »Häkchen über dem Nachnamen« zusammenfasst, haben, so scheint es, auch nach Billers Meinung die Lebenserfahrung gepachtet, die »gute« Literatur ermöglicht. Sie alle mussten sich durch Sümpfe der Diskriminierung kämpfen, Schlachten um den Erwerb der deutschen Sprache schlagen, womöglich den bildungsfernen Eltern mühevoll die Erlaubnis zum Lesenlernen abringen.
Und auch wenn Biller den altehrwürdigen Chamisso-Preis, der an Autoren mit nichtdeutscher Erstsprache vergeben wird, genau für seine Schubladendenke anprangert, offenbart er doch die gleiche Haltung: Von migrantischen Autoren wird eine Art Frischzellenkur für die deutsche Literatur erwartet. Äußern sie sich nicht zu biographisch beeinflussten Themen, wird ihnen Angepasstheit vorgeworfen, tun sie es doch, schlägt meist die Exotismusfalle zu.
Dass etwa die Autorin Olga Grjasnowa sich bereits gegen Kesslers Trennung in bildungsbürgerliche deutsche und problembehaftete Autoren mit Migrations-, aber ohne Bildungshintergrund wehrte, scheint Biller nicht zu interessieren, ebenso wenig die Tatsache, dass seine Diagnose glücklicherweise gar nicht stimmt. Anders als andere gesellschaftliche Bereiche wird die deutschsprachige Literatur längst von Autorinnen und Autoren mit »Hintergrund« mitbestimmt: Terézia Mora, Emine Sevgi Özdamar, Olga Grjasnova, Melinda Nadj Abonji, Saša Stanišic, Zoran Drvenkar, Marica Bodrožic, Ilija Trojanow, auch die unlängst mit ihrer erzreaktionären Haltung provozierende Sibylle Lewitscharoff, schreiben allesamt erfolgreich und preisgekrönt, nicht notwendigerweise über »migrantische« Themen, aber auch keineswegs in Onkel-Tom-Manier.
Natürlich sind unter den Absolventen der Literaturinstitute vor allem Akademikerkinder, natürlich finden sich wenige Migranten. Das ist Mist, aber es unterscheidet diese Schulen weder vom Rest der deutschen Bildungslandschaft, noch lässt es automatisch Rückschlüsse auf die Textproduktion zu.

Der Markt muss es gar nicht richten
Vielleicht sind Literaturinstitute, sind Literaturwettbewerbe wie das große Schaulesen in Klagenfurt sowieso nicht der Ort, an dem »relevante« Literatur geschaffen wird? Bei all den Listen genehmer und weniger genehmer Autoren, solcher, die es aufgrund ihrer vermeintlichen Angepasstheit geschafft haben, und solcher, die viel mehr Beachtung verdienten: Was ist eigentlich mit den Texten, die abseits der Bücherstapel bei Hugendubel und Dussmann auf Leserschaft warten? Was ist mit Lesebühnen, Literaturzirkeln, den allseits belächelten Self-Publishing-Werken? Dass es in Österreich, Deutschland und der Schweiz Dutzende von Literaturzeitschriften gibt, die mutige Texte publizieren, wird entweder nicht wahrgenommen oder spielt keine Rolle, weil die Debatte um die »richtige« Literatur ein Scheingefecht ist.
Insgeheim lauert hinter all diesen Aufsätzen ein reichlich elitärer Begriff von Literatur, der nur das zulässt, was ich selbst als literarisch wertvoll, gehaltvoll, sinngebend empfinde. Dass Literatur das alles kann und soll: unterhalten und berieseln und informieren und in Frage stellen und langweilen und nerven und nachdenklich machen und von mir aus belehren, geht in der Debatte vollkommen verloren.
Dass es keine spannenden Texte gebe, kann ohnehin niemand im Ernst behaupten, schon allein deswegen, weil die Flut an Veröffentlichungen kaum zu überblicken ist. In einem Radiogespräch mit Maxim Biller wies die Literaturkritikerin Ina Hartwig kürzlich darauf hin, dass das Problem nicht im Mangel an guten Texten bestehe, sondern in ihrer Vermittlung. Und das ist die Aufgabe der Literaturkritik.
Einige Autoren nehmen die Vermarktung ihrer Werke längst selbst in die Hand. Die Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, die es sich allerdings auch leisten kann, veröffentlicht inzwischen nur noch im Internet. Sie ist Beiratsmitglied bei Fik­tion, einem Zusammenschluss von Autoren, der sich dem kostenlosen »digitalen Publizieren deutsch- und englischsprachiger Literatur, die keinen gängigen Marktkriterien entspricht«, widmet. Statt vom Gutdünken der Verlage abhängig zu sein, sucht die Gruppe neue Wege – »ob als Genossenschaft, Stiftung, Verein oder Initiative, ob mit Hilfe von Einlagen, Spenden, Beiträgen, Sponsoring oder Förderung«.
Spannender als die Frage nach dem »guten Buch«, nach dem authentischsten Autor sind solche neuen Wege allemal – und vielleicht ein Thema, mit dem sich die Literaturkritik beschäftigen sollte.