Der Fall Lewitscharoff

Auf Leben und Tod

Aus Sibylle Lewitscharoffs Kritik an der Reproduktionsmedizin sprechen Unkenntnis, Mystizimus und eine Verachtung des Sozialen.

Die Reihe Dresdner Reden ist eine Gemeinschaftsveranstaltung von Sächsischer Zeitung und Staatsschauspiel Dresden. Heribert Prantl hat hier erklärt, warum die Verfassung gestärkt werden muss, Roger Willemsen durfte für eine Kultur des Engagements, Jürgen Trittin gegen die Renaissance des Nationalen plädieren und Jürgen Rüttgers räsonnierte in diesem Rahmen über Machtversessenheit von Parteien. Überraschendes und Verstörendes zu präsentieren oder, mit den Worten des Dresdner Chefdramaturgen Robert Koall, »steile Thesen zu vertreten«, ist also nicht gerade das Konzept der Reihe. Die Veranstalter, die in der Regel drei Männer einladen und dann noch Platz für eine Frau finden, setzen auf gediegene Vorhersehbarkeit. Auch Sibylle Lewitscharoffs Thema »Geburt und Tod« hätte gut in dieses harmlose Setting passen können, sprengte es dann aber doch, wie sich bereits zu Beginn der Rede herausstellte, ohne dass es da schon jemand bemerkt hätte. Es gehört nämlich zu den Eigentümlichkeiten dieses Literaturskandals, dass es vier Tage dauerte, bis die Empörung die Öffentlichkeit erreichte, sie dann aber, durch Facebook und Twitter enorm verstärkt, allgegenwärtig war – allerdings um den Preis, dass vor lauter Aufregung und Kurzatmigkeit der sozialen Medien der Inhalt der Rede über ein mehrzeiliges Zitat hinaus nicht mehr weiter zur Kenntnis genommen wurde. Dabei sollte für die Bewertung des Textes durchaus von Bedeutung sein, dass die schwäbische Autorin bereits in ihren einleitenden Worten aus dem Geläufigen ausscherte und ein völlig reueloses, angesichts allgemeiner Kindertümelei durchaus sympathisches Bekenntnis abgab, niemals Kinder gewollt zu haben, Kinder auch nicht einfach von Herzen zu lieben, sondern stattdessen stets einen großen Bogen um sie gemacht zu haben. Da war allerdings weder die Richtung noch die Vehemenz ihrer Attacke vorherzusehen, mit der sie sich gegen Ende ihrer Rede dann aus einer verinnerlichten Perspektive dumpfbackiger Normalität heraus mit nachdrücklicher Vehemenz gegen lesbische Paare mit Kinderwunsch und als »Halbwesen« denunzierte Kinder wandte, die durch reproduktionsmedizinische Eingriffe gezeugt wurden. Dass sie selbst sich in der Einleitung ihrer Rede als verhütungsfähige schwäbische Zwangsneurotikerin geoutet hatte, liefert im Rückblick eine mögliche Erklärung für diese Ausfälle (je nachdem, was für eine Vorstellung von Zwangsneurosen man sich macht), macht sie aber keineswegs besser und entschuldigt sie auch nicht.
Lewitscharoff wird nun allerlei vorgeworfen – christlicher Fundamentalismus und Hausfrauischkeit erscheinen da noch als die freundlicheren Zuschreibungen. Liest man die Rede, findet sich allerdings auch etwas gegen jeden dieser Einwände. Lewitscharoff erklärt zwar, dass die christlichen Vorstellungen des Kreislaufs von Leben und Tod für sie immer wichtiger geworden seien, mit tief empfundenem Glauben hat ihre eher kulturell geprägte Sichtweise allerdings wenig zu tun. Und auch ihre überraschend ausführliche Auseinandersetzung mit dem Thema Sünde ist kein Ausbund an Pietismus, sondern geht auf die Hiobsgeschichte zurück, die sie ausdrücklich und alles andere als feindselig dem jüdischen Glaubenskreis zuordnet. Ihre Kritik an dem »Mein Bauch gehört mir«-Feminismus der siebziger Jahre erinnert an die Traditionen der anarchafeministisch-satirischen Zeitschrift Die Schwarze Botin, was nicht besonders gut zum Vorwurf der Hausfrauischkeit passt. Allerdings ist die 13seitige Rede geprägt von einer tiefen Skepsis gegenüber der Vorstellung, die Menschen seien in der Lage, das Schicksal in den Griff zu bekommen. Und selbst wenn, so hebt die Autorin hervor, wäre das nicht wünschenswert: Entscheidungen über Leben und Tod zu treffen, sieht Lewitscharoff vor allem als kaum zu tragende Bürde, die Vorstellung eines Schicksals dagegen nimmt sie als eine Entlastung wahr: »Heiteres Gewährenlassen und nicht über alles bestimmen zu wollen, ist geradezu der Garant für ein in Maßen gelingendes Leben.« Das trifft vermutlich in der Regel zu. Und ist in der bioethischen Debatte ein nicht zu vernachlässigendes Thema, das insbesondere im Diskurs über das Recht auf Nichtwissen, aber auch in den Kontroversen über den Gehalt und die möglichen Grenzen des Selbstbestimmungsrechts seinen Niederschlag findet. Allerdings weckt die Selbstbeschreibung der Autorin den Verdacht – ohne dass sie dies reflektieren würde –, dass sie selbst in entscheidenden Fragen, wie beispielsweise der der Verhütung, nicht nach ihrer eigenen Maxime, sondern in hohem Maße kontrolliert und zielgerichtet handelt.
So geht es einem bei der Lektüre an einigen Stellen: Freut man sich anfangs darüber, dass hier jemand nicht selbstbestimmungseuphorisch argumentiert, wie es der Mainstream macht, fragt man sich schnell, woher diese Reisende stammt und wohin ihre Fahrt geht. So eindrucksvoll sie die weit zurückliegenden Sterbensgeschichten ihrer Eltern und einer Freundin der Familie erzählt, so schematisch wirkt ihre Kritik an der geriatrischen Medizin. Dass Ärzte zu stark intervenieren, weil sie befürchteten, im Todesfall des Patienten in Regress genommen zu werden, ist blanker Unfug. Ein Todesfall mag zwar den Staatsanwalt auf den Plan rufen, Regresszahlungen, die höher liegen als die Begräbniskosten sind aber so gut wie nie zu erwarten. Ein Regressfall ist allenfalls der überlebende, pflegebedürftige Kranke. Auch die pauschale Oberflächlichkeit, mit der Lewitscharoff für die Vergabe von Morphium an Leidende plädiert und gegen das Verfassen von Patientenverfügungen, nährt den Verdacht, dass sie die Entwicklungen der modernen Palliativmedizin und Sterbebegleitung – und auch deren Gefahren – nicht wahrgenommen hat.
Andreas Bernard hat in der Süddeutschen Zeitung kenntnisreich nachgewiesen, dass Lewitscharoffs von der Frankenstein-Metapher geprägte Kritik an der Reproduktionsmedizin nicht nur antiquiert wirkt, sondern auch übersieht, dass gerade die Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin das labil gewordene soziale Konstrukt »Familie«, wenn auch mit modifizierter Struktur, stabilisiert haben. Sein Versuch, Lewitscharoff, die sich gegen eugenische Tendenzen in der Repoduktionsmedizin wendet, mit zwei Zitaten ihrerseits in eine Allianz mit Goebbels und dem »Reichsarzt SS« zu zwingen, erscheint allerdings ahistorisch, weil es die Komplexität medizinischer Konzepte im Nationalsozialismus ausblendet und unterschlägt, dass damals »künstliche Befruchtung« und Samenspende einen anderen Kontext aufwiesen als heute.
Aus Sicht eines Kritikers vieler biomedizinischer Verfahren wiegt schwerer, dass ihr die Reproduktionsmedizin insbesondere im Vergleich zur Pränataldiagnostik, der sie vor allem entgegenhält, dass die sich daraus ergebende Entscheidung für eine Abtreibung unnötig sein könnte, auf jeden Fall aber eine schwere Entscheidung für die Frau darstellt, »der eigentliche Horror« zu sein scheint. Dabei spielen eigentümlich mystisch geprägte Vorstellungen von Reinheit und Schicksal eine zentrale Rolle, denen sie ihre »Abscheu« angesichts des als »absolut widerwärtig« und »abartig« empfundenen »Fortpflanzungsgemurkses« entgegensetzt, die dann auch auf die Akteure und die so gezeugten Kinder durchschlägt.
Dass und wie sie hier ihrem Ressentiment freien Lauf lässt, nimmt ihrer Sorge um die Hypothek, die auf den »künstlich« gezeugten Kindern lasten soll, und ihrem Plädoyer für eine (Selbst-)Entlastung der Frauen – gegen deren von Lewitscharoff behauptete »Selbstermächtigung« – jede Glaubwürdigkeit. Lewitscharoffs durch Abwesenheit jeder Analyse geprägte Kritik moderner Entwicklungen in der Medizin ist gepaart mit einer Mystifikation dessen, was sie als wünschenswerte Normalität ansieht. Es ist kein Zufall, dass in ihrer kritischen Sichtweise auf die Biomedizin soziale Konzepte wie das Recht auf Nichtwissen oder, in kritischer Ausein­andersetzung mit der Pränataldiagnostik, der Gleichheitsgrundsatz oder die Kritik an der Diskriminierung behinderter Menschen keine Rolle spielen. Lewitscharoff setzt nicht auf verantwortliche Entscheidungen des Menschen, deren eines Element auch Selbstbescheidung sein kann, und die Erkenntnis, dass Selbstverwirklichung auch als gegen Emanzipation gerichtetes Konzept wirken kann, sie sehnt sich offenbar nach einem Zustand, der das Schicksalsgetriebene der Vormoderne verbindet mit den Bequemlichkeiten der fortgeschrittenen Zivilisation.