Ein Besuch im Deutschen Literaturinstitut Leipzig

Der Club der drögen Dichter

Für Absolventen wie Clemens Meyer und Juli Zeh wurde es gefeiert. Nun soll das Deutsche Literaturinstitut in Leipzig eine Mitschuld am Erfolg braver Gegenwartsliteratur tragen. Tobias Prüwer hat sich in der Schreibschule umgesehen.

Irgendwo muss es eine geheime unter­irdische Schriftstellerfabrik geben, in der ständig neue Schriftstellermodelle vom Band laufen, mit serienmäßig eingebauter Poetikfähigkeit und literarischer Bedeutsamkeitsgarantie.« Diejenige, die sich so über das hohe Aufkommen marktkonformer Schriftsteller wundert, ist eine Eingeweihte. Denn Juli Zeh hat selbst eine Anstalt besucht, der vorgeworfen wird, den Buchmarkt mit Mittelmaß zu überziehen: das Deutsche Literaturinstitut in Leipzig (DLL).
Wächterstraße, allein die Adresse! Zwei kahle Weiden stehen traurig im Vorgarten. Von leeren Fahnenmasten splittert weißer Lack, das schmiedeeiserne Gatter ist mit Bauzäunen geflickt. Bullig drängt sich der verschnörkelte Jugendstilbau auf. Und wirkt doch klein, eingeklemmt im Ensemble von protzigem Bundesverwaltungsgericht und den nicht weniger klotzigen Hochschulen für Musik, Theater und Bildende Kunst. Literatur und Bürgerlichkeit waren selbst im Arbeiter- und Bauernstaat, der auf dem Bitterfelder Weg auch Proletarier in die Schreibschule schickte, nicht zu trennen. Im Jahr ihrer Gründung 1955 zog die Literaturhochschule in eine Villa ein, die gleich um die Ecke liegt. Man benannte sie nach Johannes R. Becher, Staatsliterat und Minister für Kultur. Vorbild der Schule war das Moskauer Maxim-Gorki-Literaturinstitut, das seit 1933 der Arbeiterbildung verpflichtet war. Bis 1993 war die Becher-Stätte die einzige akademische Ausbildungseinrichtung für Schriftsteller im deutschsprachigen Raum. Ob man das Schreiben erlernen kann, ist eine vieldiskutierte Frage. Gründungsdirektor Alfred Kurella nannte es zur Einweihung des Becher-Instituts »sonderbar«, dass man bei Malern oder Komponisten eine Ausbildung für notwendig hält, nur bei den Schriftstellern eine Ausnahme mache.
Anna Kaleri lebt und arbeitet als Autorin in Leipzig und schreibt Romane, Hörspiele und Drehbücher. Sie hat von 1996 bis 2002 im DLL studiert. »Mit einer Kamera«, sagt sie, »gelingen jedem im Leben vielleicht zwei, drei gut komponierte, vielschichtige Fotos, die im Betrachter etwas auslösen. Dabei handelt es sich um Zufall. Um daraus etwas zu machen, das mit größerer Regelmäßigkeit auftritt, benötigt man künstlerische Gestaltungsmittel, Kenntnis und Erfahrung. Warum sollte das für Literatur nicht gelten?« Der ständige Verweis auf die »Promis« Juli Zeh und Clemens Meyer stört sie: »Es ist ein bisschen komisch, wenn man mit Leuten studiert hat, die dann raketenmäßig abgehen.« Als Kaleri ihr Studium begann, war der Lehrbetrieb erst seit einem Jahr wieder aufgenommen worden und die Schule konnte längst nicht an den guten Ruf des Vorgängerinstituts anknüpfen. Tatsächlich musste das Institut erst selbst raketenmäßig abgehen, bevor auf den Feuilleton-Hype dann das Bashing folgte.
Im Innern des Gebäudes setzt sich der Eindruck des Behäbigen fort. Ein dunkeles Foyer. Schwarze Edelstahl-Glas-Vitrinen präsentieren wie Schreine den Output der Schule: Fotos von Clemens Meyer, Jan Decker, Ulrike Almut Sandig, Juli Zeh, Anna Kaleri, Jan Kuhlbrodt und Judith Zander. Studierende trifft man hier in den Semesterferien kaum. Graphisch verfremdete Autorenporträts säumen den holzgetäfelten Aufgang. Oben mahnt ein Sinnspruch, dass die Musen auch Rachegöttinnen seien. Aushänge informieren über »Literaturpreise, Wettbewerbe, Stipendien«. Ein Graffito: »Es ist die Stimme eines Freundes: nimm dein Grab & geh.« Stickig statt freizügig ist die Atmosphäre; unzählige Rauchverbotsschilder deuten an, dass hier mal eine andere Luft geatmet wurde. Nach der Wende wurde das Becher-Institut unter Ideologieverdacht gestellt und aufgelöst. Nach Protesten unter anderem von Hans Mayer und Walter Jens wurde die Wiedergründung der Schule erreicht. »Das Paradoxe ist, dass das alte Institut in der hochdurchorganisierten DDR wahrscheinlich mehr Spielraum hatte als wir in der Nachwendezeit«, erklärte Bernd Jentzsch, der erste Direktor nach der Neugründung des Instituts, in einem Interview. Gewollt habe das Land Sachsen das Institut nie. Seit 1999 wechseln sich Hans-Ulrich Treichel, Josef Haslinger und inzwischen auch Michael Haslinger als geschäftsführender Direktor nach einem Rotationsverfahren ab. Lediglich 20 Bewerber werden pro Jahr aufgenommen. Diejenigen, die es geschafft haben, hegen oft hohe Erwartungen an die Schule – und werden mitunter enttäuscht. »Wir haben ein Betreuungsverhältnis«, erzählt ein Student, »man müsste sich fühlen wie im Club der Toten Dichter. Da ist es schon traurig, wenn der Prof fragt: ›Ist das ein Student von uns?‹«
Vieles hat sich nach der Neugründung des Instituts geändert. Ein Praktikum im Braunkohlewerk gehört heute nicht mehr verpflichtend zum Studienplan, dafür Lektionen über den Buchmarkt und die Selbstvermarktung. Das sorgt immer wieder für Kritik, Spott und den Vorwurf der Marktkonformität. Ist es aber so falsch, wenn Nachwuchsautoren an einer Schule lernen wollen, die Karrierechancen verspricht? Siebtsemester Robert Reimer meint, es habe sich richtig angefühlt, ans DLL zu gehen, wegen des »Prestiges« und dem »Kontakt zu Leuten und Verlagen«. Immerhin habe er schon immer geschrieben. 20 Seiten mit Texten reichte er bei seiner Bewerbung ein, in der mündlichen Runde ging es dann um Motivation und Lesevorlieben. Im Studienalltag steht die Produktion eigener Texte allerdings nicht im Vordergrund. Man wird zum peniblen Leser und zerpflückt die Texte der anderen. »Nach außen ist es ein harmonisches Miteinander. Aber man guckt schon, wer veröffentlicht hat und auf Wettbewerben war. Über Neid und Missgunst muss man hinwegsehen. Das kann hart sein, ich habe schon Leute heulen sehen.«
Der jüngste Angriff gegen die Schreibschulen in Leipzig und Hildesheim stammt von dem Literaturkritiker Florian Kessler, der in seinem in der Zeit erschienenen Aufsatz »Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn« schreibt, er wolle nicht ständig Bücher von Bildungbürgerkindern lesen. Kessler, der selbst ehemaliger Absolvent des Schreibstudiengangs in Hildesheim ist, findet die deutschsprachige Literatur langweilig. Schuld sei das Bildungsbürgermilieu, das nur den höheren Töchtern und Söhnen den Zugang zum Kulturbetrieb und Institutionen wie denen in Leipzig und Hildesheim gewährten. Eine weiter gehende Kritik am Bildungssystem spart sich Kessler. Dass der Zugang zu Bildung in der BRD insgesamt selektiv ausfällt, übergeht er. Ebenso, dass es gerade an der bildungsbürgerlichen Literaturkritik liegt, wenn Mittelmaß und Langweile nobilitiert werden.
»Wie viele Kritiker sind so mutig, etwas Eigen- oder gar Randständiges zu lancieren?« meint auch Anna Kaleri. »Das war so eine bescheuerte Nicht-Debatte«, stöhnt Olaf Schmidt, Literaturredakteur beim Leipziger Magazin Kreuzer. Die Bravheit und Angepasstheit, die Kessler bei den jungen Autoren konstatiert, entspringe der eingeschränkten Wahrnehmung von Kritikern und Juroren, die immer dieselben Themen honorierten. »Ich finde es genauso fragwürdig«, meint Schmidt, »die langweiligen Bücher der Schreibschul-Eleven auf deren möglicherweise großbürgerliche Herkunft zurückzuführen, wie einem Schriftsteller mit ›Migrationshintergrund‹ vorzuwerfen, dass er nicht über seine Herkunft schreibt. Wenn mich deutsche Gegenwartsliteratur anödet, lese ich eben amerikanische, russische, angolanische Literatur. Die Nationalliteratur ist schon lange ein Auslaufmodell.« Kleinkariert sei diese Diskussion. Auch der ehemalige DLL-Absolvent und heutige Geschäftsführer des Instituts, Claudius Nießen, ärgert sich über die Debatte: »Was sagen die Berufe der Eltern, die einer über Wikipedia herausgesucht und als Enthüllung getarnt hat, über die Texte der Autoren?« Er ist seit 2008 Geschäftsführer des Instituts und befindet sich derzeit im Elternurlaub. »Lege ich die Texte nebeneinander, sehe ich den gemeinsamen Nenner nicht.« Vielleicht zehn bis 20 Publikationen pro Jahr stammten von Absolventen des Instituts: »Der Mittelpunkt der Literaturwelt sieht anders aus.« Das Literaturinstitut könne nur der Katalysator für die Entwicklung eines Schriftstellers und natürlich auch ein Türöffner sein. »Keiner, der es als Schriftsteller geschafft hat, hätte es nicht auch ohne das Institut erreicht. Und nicht jeder Absolvent wird Autor.«
Man kann hinter der Kritik an den Literaturschulen auch die Langeweile eines Feuilletonschreibers vermuten, der nicht begreifen will, dass er selbst ein Player auf dem Markt der Bücher ist. Genervt über die Debatte gibt sich ebenfalls Autorin Katharina Bendixen, die trotz zweimaliger Ablehnung durch das DLL als Schriftstellerin arbeitet: »Die Leute sollen die Zeit lieber zum Lesen nutzen. Dann würden sie auch mal über Inhalte sprechen, nicht immer nur über Personen und deren Biographien. Ich glaube, Zukunfts- und Existenzangst ist ein ziemlich umfassendes Gefühl im Moment, und Angst macht brav. Vielleicht gibt es deshalb mehr risikoarme Romane.«
Dass das Neobürgertum mit seinem kulturellen Kapital den Literaturbetrieb dominiert, ist eine Binsenwahrheit. Ziemlich abstrus aber ist die Vorstellung, Bürgerkinder mit schicken Hornbrillen verabredeten in einer abgeschotteten Kaderschmiede, was der nächste Bestseller wird. Vielleicht hegten Kritiker auch deshalb einen Groll gegen das Institut, weil sie stets abgewiesen werden, wenn sie Seminardiskussionen beiwohnen wollen, rätselt DLL-Geschäftsführer Nießen. Das geschehe aber aus Rücksicht auf die Studierenden. Keiner ist wohl erfreut, wenn scharfzüngige Kritiker wie Florian Kessler dabei sind, während gerade der eigene Text zerpflückt wird. Aufmerksamkeit hat Kessler jedenfalls für sich erzeugt. Er ist eingeladen, während der Buchmesse in Leipzig am Literaturinstitut an einer Diskussion teilzunehmen.

Demnächst erscheint von Tobias Prüwer und Franziska Reif die Streitschrift »A wie Asozial. So demontiert Hartz IV den Sozialstaat« beim Verlag Tectum in Marburg.