Der Krimi »99 Särge« von Xiaolong Qiu

Die Antwort weiß nur Buddha

Gentrifizierung auf Chinesisch: Kommissar Xiaolong Qui findet im Kriminalroman »99 Särge« zwar den Mörder, aber der Fall bleibt mysteriös.
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Lange nach Mitternacht zündete ich mir noch eine Zigarette an. Als ich in die Glut an ihrer Spitze sah und einen tiefen Schluck Whisky inhalierte, fügten sich die Puzzleteile zum ersten Mal zusammen. Ich griff nach dem Telefonhörer und wählte die Nummer von Douglas D. Doberman. Wahrscheinlich holte ich den Inspektor aus dem Bett. Aber das würde er verzeihen. Denn wenn ich recht hatte, gab es ein paar Männer in dieser Stadt, die gar keinen Schlaf kriegen würden.«
So etwa las es sich, wenn ein hartgekochter Held wie Sam Spade oder Philip Marlowe einen Fall löste. In der Regel waren die Fälle von Dashiell Hammett oder Raymond Chandler erdacht und spielten in Kalifornien. Zu den Puzzleteilen gehörte immer eine blonde Frau mit langen Beinen, die den Detektiv in seinem Büro aufsuchte und den Auftrag erteilte. Zwei bis elf billige Ganoven, die ihm ans Leben wollten und dafür reichlich Kinnhaken kassierten. Eine dubiose Gestalt, die im Hintergrund mit ihrem Falken die Fäden zog. Nach zwei bis drei Auflagen spielte dann Humphrey Bogart die Hauptrolle in der Verfilmung. Ein paar Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg verblasste diese Welt. Heute ist sie nur noch in den Sonderangebotskisten von Hugendubel oder Amazon zu finden.
Der Thriller mit tausend Wendungen und tausend Puzzleteilen, der einen unangepassten Helden in Gefahr bringt und am Ende ungefähr genauso desillusioniert zurücklässt wie er schon am Anfang war, ist damit natürlich nicht gestorben. Im Gegenteil: Die Helden haben Cousins auf der ganzen Welt bekommen.
In Italien ermittelt seit Jahren Commissario Brunetti. Zumeist nicht in klassischen Mafia-Fällen, aber mit kriminellen Absprachen hinter den Kulissen sieht er sich fast immer konfrontiert. Seine Lebensqualität wird im Vergleich mit seinen Vorgängern vor allem dadurch verbessert, dass er nicht jeden Morgen schwer verkatert aufwacht, sondern bekennender Feinschmecker ist.
Genau das eint ihn mit Oberinspektor Chen Cao, der in Shanghai ermittelt, gegenwärtig in seinem soeben bei Zsolnay erschienenen, siebten Fall. Seine Ermittlungen in »99 Särge« führen Chen immer wieder in die Gar- und Suppenküchen, aber auch die gehobenen Restaurants Shanghais. Währende Agatha Christies Held Hercule Poirot selbst im »Orientexpress« mit rund einem Dutzend Seiten auskommt, um den Fall in Anwesenheit der Mitreisenden zu lösen, lässt sich Chen am Ende der neuesten Ermittlungen 40 Seiten Zeit, seine Lösung Vorspeise für Vorspeise zu erläutern. Die junge Dame, die das Mahl mit ihm teilt, ist zwar jung, aber kein Luxuspüppchen mit ungeregeltem Einkommen. Schließlich ermittelt Chen im China des frühen dritten Jahrtausends. Da arbeiten Frauen, in diesem Fall als festangestellte Zeitungsredakteurin. Und ihre Haarfarbe ist natürlich schwarz.
In seinem jüngsten Fall ist Chen Cao ungefähr Mitte vierzig und immer noch unverheiratet. Zum großen Unglück seiner Mutter, die sich gerade im teuersten Krankenhaus von Shanghai von schwerer Erkrankung erholt. Eigentlich wollte Chen Dichter werden, hat sogar einige Bände veröffentlicht und ist Mitglied des Schriftstellerverbands von Shanghai. Die Partei wollte einen Mann seiner Intelligenz jedoch lieber im Polizeidienst sehen. Binnen weniger Jahre stieg Chen zum Mann für spezielle Fälle auf. Der Schriftsteller Xiaolong Qiu hat sich mit dem Ermittler Chen ein Alter Ego geschaffen. Er begann als Dichter und schreibt heute Kriminalromane, während sein Inspektor zur Entspannung Gedichte verfasst. Und entsprechend geschmeichelt ist, als ihn bei einer quälend langweiligen Sitzung des Schriftstellerverbands eine junge Redakteurin namens Lianping bittet, einige Gedichte für ihre Zeitung zu schreiben.Aber bevor er zum Dichten kommt, muss er erst seine Mutter im Krankenhaus besuchen. Der Kommissar hat Beziehungen genug, so dass der Chefarzt die Behandlung ermöglicht, ohne Cao mit einer Rechnung zu belästigen. Irgendwann hat der Kommissar nämlich etwas für ihn getan, das der Arzt nur mit einer solchen Geste zurückzahlen kann. Die Schuld bei anderen Menschen, die man begleichen muss, ohne sein Gesicht zu verlieren, taucht als Motiv bei Xiaolong Qiu ebenso häufig auf wie Whisky bei Raymond Chandler. Und die Rolle der sinistren Strippenzieher im Hintergrund übernimmt die Partei mit ihren zahllosen, konkurrierenden und sich gegenseitig bekämpfenden Unterorganisationen. Ihnen gegenüber stehen die sogenannten »Netzbürger«, die das Internet als Ort gefunden haben, sich trotz der allgegenwärtigen Kontrolle durch den Staat zu organisieren und dessen Allmacht ein klein wenig in Frage zu stellen.
Die hübsche Lianping ist es, die Chen in seinen neuen Fall hineinzieht. Oder eine sogenannte »Menschenjagd« im Internet. Von irgendwo tauchte im Internet nämlich ein Foto auf, das den Direktor der Shanghaier Wohnungsbaubehörde, Zhou King, mit einer Schachtel Zigaretten zeigt, die eigentlich nur als halblegales Luxusprodukt für hohe Parteikader produziert werden. Damit ist offensichtlich geworden, was ohnehin schon lange klar war: Zhou ist korrupt. Offiziell ein normaler Beamter, ist er inoffiziell damit beschäftigt, die Grundstücks- und Eigentumswohnungspreise der Stadt in möglichst astronomische Höhen zu treiben. Dass die sich dann niemand mehr leisten kann, ist den Parteiorganen egal. Leerstand kann man in ein paar Jahren wieder abreißen, und in der Zwischenzeit hat man genug schmucken Wohnraum für Günstlinge und Emporkömmlinge. Als der Shitstorm im Netz nicht einmal mehr durch staatliche Intervention zu stoppen ist, wird Zhou zur Befragung und Selbstkritik in einem Luxushotel interniert. Wo er nach einigen Tagen erhängt aufgefunden wird. Der Störenfried hat sich also selbst aus dem Spiel genommen. Inspektor Chen bekommt den Auftrag, den offensichtlichen Selbstmord nachzuweisen. Vor allem, damit wieder Ruhe ist im Internet.
Von Beginn an wird er dabei von Beamten der Inneren Sicherheit, übergeordneten Stellen aus Peking und Shanghai behindert, die sich auch gegenseitig an den Ermittlungen hindern. Die Sache soll also vertuscht werden. Am besten so, dass die gegnerische Partei dabei möglichst schlecht aussieht. Als Chens bester Kollege bei eigenen Ermittlungen überfahren wird, wechselt der Inspektor die Strategie: Er verzichtet auf die Polizeiarbeit, die er gelernt hat, und ermittelt mit Lianping und ihren Hackerfreunden selbst im Internet.
Die labyrinthischen Wege, die der Fall von jetzt an nimmt, führen durch eine Kultur, die buddhistische Traditionen ebenso kennt wie offene Günstlingswirtschaft und in der sich jeder ausrechnen kann, dass sie in der Zukunft von einer gewaltigen Wirtschaftskrise erschüttert werden wird.
Nach 40 mit Vorspeisen vollgepackte Seiten am Ende der Ermittlungen hatte auch der Rezensent das Gefühl, trotz konzentrierten Hin- und Herblätterns längst den Überblick verloren zu haben. Das aber scheint allen an dem Fall Beteiligten genauso zu gehen. Einzig Chen hat den Überblick. Sein Studium nicht nur der Bilder im Internet, sondern auch vieler Überwachungskameras, lässt ihn den Täter finden. Am Schluss klicken keine Handschellen. Es wird nicht einmal klar, in wessen Auftrag er handelte. Eigentlich ein Kapitalverbrechen des Autors an seiner Geschichte. Doch in diesem Fall kann man darüber hinwegsehen, weil auch alle anderen kaum mehr wissen, was sie tun.
Fest steht nur: Die schöne Journalistin wird dieses Essen nie vergessen. Chen Cao zieht es zu einem anderen Fall in Peking. Sagt er selbst jedenfalls. Und die beiden Toten bleiben tot. Soviel ist jedenfalls sicher.

Xiaolong Qiu: 99 Särge. Aus dem Chinesischen von ­Susanne Hornfeck. Paul-Zsolnay-Verlag, Wien 2014, 288 Seiten, 17,90 Euro