Robert Walser als Feuilletonautor

Über das Brausen der Tage hinaus

Der Schweizer Autor Robert Walser war ein Meister der Prosaminiatur. Seine Arbeiten für das Feuilleton wollten dem Bild eines bedeutenden Schriftstellers nicht recht entsprechen.

Man könnte sich vorstellen, ein Text in der vorliegenden Jungle World beginne wie folgt: »Schokolada saß, in vornehmstes Braun gehüllt, das an sich die distinguierteste Sprache sprach, im Auto, Fragmentino, ein Galan, wie er im Buche steht, im übrigen aber von ganz praktischen Lebensabsichten erfüllt, stand mit respektvoll abgezogenem Hut neben dem abfahrfertigen Fahrzeug, das stolz um sich glänzte und blickte.« Weitergehen würde es dann so: »Fragmentinos Dastehen hatte etwas Ladenkommishaftes. Sein Anzug duftete verräterisch nach Eingekauftheitsschnelligkeit im Konfektionshaus. Welch einen Unerbittlichkeitsstil ich hier schreibe!«
Das Kunststück, diesen »Unerbittlichkeitsstil« in Zeitungen zu publizieren, hat Robert Walser vollbracht, das Zitat stammt aus einer Ausgabe der Prager Presse im Juni 1928. Der Schweizer Autor hatte mit Anfang 30 bereits drei Romane veröffentlicht und sich einen Namen als Autor verschiedener literarischer Zeitschriften gemacht. Zeitweise konnte er sich durch Honorare und Verlagsvorschüsse einigermaßen finanzieren. Immer wieder war er aber gezwungen, Arbeit als Kommis, Schreibkraft und »Gehülfe« anzunehmen, wenn ihn nicht gerade eine kleinere Erbschaft entlastete.
Walser galt als literarisches Talent – der große Durchbruch aber blieb ihm verwehrt. Vermutlich wäre ihm, dem zurückhaltenden Außenseiter, der Ruhm auch eher unangenehm gewesen. Nach »Geschwister Tanner«, »Der Gehülfe« und »Jakob von Gunten« wurde seit 1909 kein weiterer Roman zu seinen Lebzeiten publiziert. »Räuber« ist aus dem Nachlass veröffentlicht worden, der Roman »Theodor« ist ungedruckt, wahrscheinlich beim Rowohlt-Verlag, verloren gegangen und Walser hat gegenüber seinem Herausgeber und späteren gesetzlichen Vormund Carl Seelig angedeutet, mehrere Romanmanuskripte vernichtet zu haben. Seit seinem 31. Lebensjahr schrieb er hauptsächlich für Zeitschriften und Feuilletons. Der Wandel vom aufstrebenden Romancier zum »Prosastücklimacher« ließ sein Autorenselbstverständnis nicht unangetastet: »Wie ich glaube, besaß ich einst einen bessern Namen; doch gewöhnte ich mich auch an einen weniger ausgezeichneten, indem ich wünschte, ich erklärte mich mit der Bezeichnung ›Zeitungsschreiber‹ einverstanden. Nie beeinträchtigte mich die sentimentale Idee, man könnte mich für artistisch irregegangen halten.« Und weiter, als werde ein Selbstbewusstsein gegen Einwände aufrechterhalten: »Die Frage: ›Ist’s nicht mehr Kunst, was du treibst?‹ schien mir mitunter sachte die Hand auf die Schulter zu legen.« Das Schreiben »unter dem Strich«, der das Feuilleton auf der Zeitungsseite optisch abteilte, war dem Ansehen eines begabten Schriftstellers nicht unbedingt förderlich. Schließlich diente das Verfassen von Feuilletonartikeln schon damals offen und von vornherein auch dem finanziellen Verdienst. Dass jemand schreibt, um zu überleben, macht seine Kunst suspekt.
Da Feuilletonartikel außerdem nicht zuletzt der Unterhaltung dienen sollten, wurden sie der gefälligen Plauderei verdächtigt. Es gibt einige Beispiele, die dem entgegenzuhalten wären; ein besonders gutes ist der Kommis Robert Walser – seine Prosastücke wurden vielfach für trivial gehalten und überrumpelten gerade deshalb ihre Leser.
Walser schien über banale Sachverhalte, die niemand ernst nehmen wollte, naiv drauflos geschrieben zu haben; aber ehe man sich versah, befand man sich schon in Satzlabyrinthen, die jeden Gegenstand seltsam anmuten ließen. Er »versündigt sich fortwährend noch gegen den unveräußerlichen Anspruch der Welt- und Innendinge: von uns als real genommen zu werden«, hat Robert Musil geschrieben. »Eine Wiese ist bei ihm bald eine Wiese, bald jedoch nur etwas auf dem Papier.« Es gibt wohl kaum einen Autor, der derart nonchalant durcheinanderwirft, was man mit Kategorien wie »Realität« und »Fiktion« zu ordnen sucht. Völlig harmlos beginnende Texte verwirbeln Inhalt und Form, den Stoff und das Schreiben darüber in wenigen Sätzen.
Walsers Sätze seien »Sprachgirlanden, die ihn zu Fall bringen«, so Walter Benjamin. Wie ist auch Texten zu folgen, die wie der »Hamlet-­Essay« bereits nach einem Satz dermaßen den Faden verlieren: »Ich dachte heut an Hamlet. Nebenher gesagt, riefen mir soeben Kinder einen Übernamen nach. Ich bin infolgedessen bei glänzender Laune. (…) Das fiel mir gerade so ein und ich schrieb es hier auf. Ich schreibe hier, weil’s Sonntag ist, nur ganz wenig. (…) Ich bin jetzt im Besitz einer grandiosen Gesundheit. Wie erquickt’s mich, damit zu prunken. Vielleicht werde ich, wenn ich dies aufgeschrieben haben werde, einen Sportplatz aufsuchen«, um völlig abrupt doch noch zum Thema zu kommen: »Hamlet ist gewiß die bedeutendste ›moderne‹ Dichtung. (…)« Walser unterbricht ständig den inhaltlichen Zusammenhang, der Umweg ist hier die gesuchte Richtung. Vor allem aber macht er das Schreiben selbst zum Thema. Kaum einmal lässt er es sich entgehen, seine Leser daran zu erinnern, dass diese Texte geschrieben sind und dass es Mühe und Zeit gekostet hat, sie zu verfassen. Eine vergnügliche Anstrengung, wie er zufrieden kommentiert: »Wiederum scheint ein neuer Beweis meiner Emsigkeit im schriftstellerisch Tätigsein ziemlich eigenartig ausgefallen zu sein.«
Walsers Texte sind nur vordergründig einfach, immer wieder wird dem Leser der Eindruck vermittelt, hier die reale Person Robert Walser unvermittelt sprechen zu hören. »Für mich sind die Skizzen, die ich dann und wann hervorbringe, kleinere oder umfangreichere Roman­kapitel. Der Roman, woran ich weiter und weiter schreibe, bleibt immer derselbe und dürfte als ein mannigfaltig zerschnittenes oder zertrenntes Ich-Buch bezeichnet werden können.« Verbindungen zwischen »Ich-Buch« und Biographie finden sich überall: Wie seine Romanfigur Jakob von Gunten, deren Ziel es ist, eine »reizende, kugelrunde Null« zu werden, hat Walser in einer Dienerschule gelernt. Und während »Der Gehülfe« Joseph Marti bei dem scheiternden Erfinder Tobler Anstellung findet, hat Walser bei dem Erfinder Dubler gearbeitet. Simon Tanner wiederum arbeitet als Kommis, so wie Walser als Büroangestellter und Schreibkraft gearbeitet hat.
Diese Durchlässigkeit zwischen Biographie und literarischem Schreiben hat Interpreten immer wieder zu Schlüssen von einer Sphäre auf die andere verlockt, auch wenn sich in Walsers Prosastücken ebenso Sätze finden lassen, die von »berechneter Naivität oder gekünstelter Ungekünsteltheit« sprechen oder einfach feststellen: »Niemand ist berechtigt, sich mir gegenüber zu benehmen, als kennte er mich.«
Ab 1929 verbrachte Walser den Rest seines Lebens bis 1956 mit der Diagnose »chronische Schizophrenie« in sogenannten Heilanstalten. Während er in den ersten Jahren seines Psychiatrieaufenthalts weiterhin schrieb und veröffentlichte, kam seine Arbeit mit der Verlegung in eine andere Anstalt 1933 zum Erliegen.
Gerade so, als sei der »Wahnsinn« des Autors schon immer und von Anfang an in seinen Schriften zu finden gewesen, haben grausam einfühlsame Literaturwissenschaftler versucht, »Persönlichkeitsanalysen« (Hans Holder­egger, 1973) aus Walsers Texten zu destillieren. Schlimmstenfalls wurde alles, was einem gängigen Verständnis von Literatur widersprach, im Rückgriff auf die Krankheit des Autors gleich auch literarisch für pathologisch erklärt. Kaum überraschend betraf dies gerade deren spannendste Aspekte, unter denen Walser inzwischen als zentraler Autor der literarischen Moderne wiederentdeckt worden ist: die sprunghaft-assoziativen Verknüpfungen anstelle formaler und inhaltlicher Geschlossenheit und die Selbstreflexivität, in der ständig das Erzählen und die Sprache als dessen Medium selbst zum Thema werden.
Auch die eigene Rolle als »Federfuchser« im Feuilleton hat Walser ironisch kommentiert: »Ich schreibe das Prosastück, das mir hier entstehen zu wollen scheint, in stiller Mitternacht, und ich schreibe es für die Katz, will sagen, für den Tagesgebrauch. Die Katz ist eine Art Fabrik oder Industrieetablissement, für das die Schriftsteller täglich, ja vielleicht sogar stündlich treulich und emsig arbeiten oder abliefern.«
Walser versteht es, seinen Lesern Sprengstoff im Plauderton unterzujubeln. »Obwohl die Katz anerkanntermaßen etwas wie für die Bildung eine Gefahr ist, scheint man ohne sie nicht existieren zu können, denn sie ist die Zeit selbst, in der wir leben, für die wir arbeiten, die uns Arbeit gibt (…). Katz ist für mich nicht nur das, was für den Betrieb taugt, was für die Zivilisationsmaschinerie irgendwelchen Wert hat, sondern sie ist, wie ich bereits sagte, der Betrieb selber, und bloß das dürfte sich eventuell herausnehmen, nicht für die Katz bestimmt sein zu wollen, was sogenannten Ewigkeitswert aufweist, wie beispielsweise die Meisterwerke der Kunst oder die Taten, die hoch über das Summen, Brummen, Sausen, Brausen des Tages hinausragen.«
Texte für das Feuilleton sind größtenteils für ein bestimmtes Erscheinungsdatum geschrieben, ihre Halbwertszeit ist oftmals begrenzt. Wir haben das große Glück, die meisten der Prosastücke Walsers auch heute noch lesen zu können. Zwar wird, wer 2014 nach Schriftstellern aus der Schweiz fragt, nur selten auf Robert Walser verwiesen. Aber seine Selbsteinschätzung – »Vermutlich besitze ich heute einen gewissen Ruf als Kurzgeschichtenverfasser. Vielleicht genießt die kleine Erzählung verhältnismäßig nur kurzatmige literarische Geltung.« – hat sich immerhin nicht ganz bestätigt. Walsers Bedeutung, nicht nur als Verfasser von Kurzgeschichten, ist heute unbestritten und seine Prosaminiaturen ragen als Kommentare der »Zivilisationsmaschinerie« über »das Summen, Brummen, Sausen, Brausen des Tages« weit hinaus.