Das Referendum auf der Krim

Bruder vor den Toren

Nach dem Referendum auf der Krim herrscht zwischen der Ukraine und Russland weder Krieg noch Frieden. Viele befürchten jedoch, dass dem bereits tobenden Propagandakrieg nach der faktischen Annexion der Krim eine russische Inva­sion im Osten des Landes folgen könnte.

Wie erwartet erhielten die von der russischen Regierung protegierten Separatisten ihr bestelltes Ergebnis, 96,77 Prozent stimmten im eilig anberaumten Referendum auf der Krim für den Beitritt zu Russland. Damit steht der direkten Annexion ukrainischen Territoriums durch die Russische Föderation nichts mehr im Wege. Das Parlament in Kiew hatte am Sonnabend symbolisch nach einem Entscheid des Verfassungsgerichts noch den Obersten Sowjet der Krim aufgelöst und die Ansetzung des Referendums für ungültig erklärt. Faktisch ist die Macht auf der Halbinsel jedoch schon am 1. März an Russland übergegangen. Die neuen Machthaber in Simferopol hatten daher bereits vor dem Ergebnis entschieden, sich aller ukrainischen Symbolik zu entledigen und die Unabhängigkeitserklärung für Montag anzukündigen. Dabei beriefen sie sich pikanterweise auf den Präzedenzfall des Kosovo, dessen Unabhängigkeit von Russland vehement abgelehnt wird.

Bei der Abstimmung selbst wurden offenbar die bewährten postsowjetischen Mittel zur Herstellung passender Ergebnisse eingesetzt. Gruppen von »Wählern« fuhren mit Bussen von Wahllokal zu Wahllokal. Wählerlisten wurden Berichten der NGO »Wählerkomitee der Ukraine« zufolge ad hoc angepasst, mehrfache Abstimmungen in verschiedenen Wahllokalen seien somit nicht auszuschließen. Berichten ukrainischer Medien zufolge stimmten auch russische Staatsbürger ab. Vorher hatte Interimspräsident Alexander Turtschinow die Krimbewohner zum Boykott aufgefordert. Die Selbstregierung der Krimtataren, der Medschlis, hatte ebenfalls beschlossen, an der Farce nicht teilzunehmen. »Lieber hier sterben, als erneut deportiert zu werden«, sagte der langjährige Vorsitzende des Medschlis, Mustafa Dschemilew. Die Krimtataren waren von Stalin nach Zentralasien deportiert worden, derzeit leben etwa 300 000 Krimtataren auf der Halbinsel.
Die offizielle Wahlbeteiligung lag trotz allem bei 83,01 Prozent. Dennoch ist nicht nur aufgrund der anschließenden Freudenfeiern davon aus­zugehen, dass eine sowjetnostalgische Mehrheit der Einwohner der Halbinsel wirklich für den Anschluss ist. Kurz vor der Flucht von Viktor Janu­kowitsch hatten sich in einer repräsentativen Umfrage 41 Prozent der Bevölkerung für den Beitritt zur Russischen Föderation ausgesprochen.

Vor der Abstimmung schürten russische Fernsehsender weiter die Hysterie um westukrainische Nationalisten, die angeblich Terroranschläge und ethnische Säuberungen auf der Halbinsel und im Osten vorbereiten würden. Die »grünen Männchen« von Wladimir Putins Besatzungsarmee blockierten gemeinsam mit teils aus Südrussland importierten, teils aus dem Milieu der Kleinkriminalität rekrutierten sogenannten Selbstverteidigungskräften weiter Stützpunkte des ukrainischen Militärs und der Grenztruppen. Gesperrt wurden auch die Zugänge zur Halbinsel. Die Übertragung ukrainischer Fernseh- und Radiosender über Antenne und Kabel wurde sicherheitshalber gleich ganz eingestellt und durch Angebote des großen Nachbarn ersetzt.
Mit der Unabhängigkeit und dem möglichen Beitritt zu Russland fangen die Probleme für die Krim aber erst an. Die Halbinsel mit ihren mehr als zwei Millionen Einwohnern ist wirtschaftlich abhängig vom ukrainischen Kernland. 80 Prozent des Stroms und des Wassers sowie 70 Prozent der Touristen kommen aus der Ukraine. 65 Prozent des Haushaltes wurden bisher von Kiew dotiert. Ähnlich dem verfallenen sowjetischen Touristenparadies Abchasien könnte bei einer miesen Sommersaison in diesem Jahr dem Krimsekt ein herber Kater folgen.
Im ukrainischen Osten und Süden setzte Russland derweil die Politik des »lenkbaren Chaos« fort. Bei organisierten Zusammenstößen wurde in Donezk ein 22jähriger Ortsfunktionär der nationalistischen Partei Swoboda erstochen. In Charkow erschossen Unbekannte zwei prorussische Demonstranten, als diese das Büro des ukrainophilen Vereins Proswita (Aufklärung) zu stürmen versuchten. Am Sonntag verbrannten russische Nationalisten ukrainischsprachige Bücher. Das Außenministerium beschuldigte den ukrainischen »Rechten Sektor« der Morde. Dessen Anführer, Dmitrij Jarosch, wiederum verkündete, wie auf Bestellung aus Moskau, dass die Russen bei einem Einmarsch an »ihrem eigenen Blut ersticken werden«.

Trotz der Provokationen und der Propaganda in den russischen Medien vermochte es der Kreml jedoch bisher nicht, den beschworenen »russischen Frühling« zu erzeugen. Selbst in Donezk versammelten sich am Sonntag lediglich wenige Tausend Menschen, die aufgrund der Zurückhaltung der inzwischen demoralisierten Miliz das Gebäude der Staatsanwaltschaft und des Geheimdienstes stürmen konnten. Andere Demonstra­tionen zur Unterstützung des Krim-Referendums und zur Simulation einer Volksbewegung in den südostukrainischen Gebieten vermochten nur einige Hundert Menschen auf die Straße zu bringen. Es reicht jedoch, um dem russischen Fernsehzuschauer einzutrichtern, dass sich seine »Brüder in der Ukraine« durch die »braune Pest« des »Rechten Sektors« bedroht fühlen und nur die russische Armee dem Chaos Einhalt gebieten könne. Die Organisatoren schrecken dabei trotz antifaschistischem Deckmantel offensichtlich nicht vor der Zusammenarbeit mit Neonazis zurück, die immer wieder als Urheber der Zusammenstöße identifiziert werden.
Viele Ukrainer wirken aufgeschreckt von der unverhohlenen russischen Aggression und der Möglichkeit eines Krieges mit dem einstigen »Bruderstaat«. In den sozialen Netzwerken machen bereits Anleitungen für einen effektiven Partisanenkrieg und Panzerbekämpfung in Städten die Runde. Der bekannte Publizist Witali Portnikow meint: »Der gewöhnliche Ukrainer sieht jetzt, dass der einfache Russe den Krieg gegen ihn unterstützt.« Für die wieder gegründete Nationalgarde mit einer Sollstärke von 60 000 Mann hätten sich auch bereits 40 000 Freiwillige gemeldet. Die Regierung versucht sich dabei auch der teils außer Kontrolle geratenen sogenannten Selbstverteidigungskräfte des Maidan zu entledigen, die immer öfter als Schlägertruppe bei Geschäftskonflikten in Erscheinung traten. »Wer das Land verteidigen möchte, der soll sich in die Nationalgarde einschreiben. Alle anderen, die mit Waffen auf den Straßen laufen, übertreten das Gesetz«, warnte Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk am Sonntag. Ob sich die Leute des Maidan dem fügen werden, ist noch unklar. Für die Regierenden haben sie ihren Dienst getan. Linke hoffen jedoch weiter auf eine soziale Revolution, während ihre rechten Gegenspieler die nationale Variante vollenden wollen. Unabhängig davon, ob die russische Armee einmarschiert oder nicht, bekommt die schrittweise mentale Abnabelung von der postsowjetischen Welt nach drei Monaten Maidan und mehr als 100 Toten mit der faktischen Annexion der Krim einen weiteren Schub. Putin hat zwar vielleicht die Krim erobert, aber er hat die Ukrainer verloren.