Die Instrumentalisierung von Antisemitismus nach dem Umsturz in der Ukraine

Antisemiten sind immer die anderen

Im Konflikt um die Krim und den Umsturz in der Ukraine bezichtigen sich prorussische und proeuropäische Kräfte gegenseitig der Judenfeindlichkeit. Recht haben beide.

In der vergangenen Woche wurde in Kiew der Rabbiner Hillel Cohen überfallen, antisemitisch beleidigt und leicht verletzt. »Sie schlugen ihn und schrien antisemitische Beschimpfungen«, sagte Cohens Frau Racheli der Nachrichtenagentur JTA. Sie war mit ihrem Mann auf der Straße unterwegs, als dieser angegriffen wurde. »Dies war eindeutig ein judenfeindlicher Angriff.« Der Rabbiner musste ambulant im Krankenhaus behandelt werden.
Es war nicht der erste antisemitische Vorfall im Zusammenhang mit der Maidan-Bewegung und dem Sturz der prorussischen Regierung von Viktor Janukowitsch. So wurde im Januar, ebenfalls in Kiew, ein Hebräischlehrer von vier Männern attackiert. Ein Rabbinerstudent wurde nach einem Besuch der Synagoge von drei Männern mit dem Messer angegriffen und verletzt. Im Februar flogen Brandsätze auf eine Synagoge in Saporoschje in der Ostukraine. Einige Tage später schmierten Unbekannte die Losung »Tod den Juden« auf eine Synagoge auf der Krim-Halbinsel.
Bereits Mitte Februar, einen Tag, bevor Janukowitsch für abgesetzt erklärt wurde, sagte der ukrainische Rabbiner Moshe Reuwen Azman zu israelischen Zeitungen: »Ich habe meine Gemeinde aufgefordert, das Stadtzentrum oder gleich die Stadt und wenn möglich auch das Land zu verlassen.«
Hat Russlands Präsident Wladimir Putin also recht mit seinen Warnungen vor ukrainischem Antisemitismus und Faschismus? Immerhin stellt die rechtsextreme Partei Swoboda vier Minister in der neuen Regierung in Kiew, die neofaschistische Sammlungsbewegung »Rechter Sektor« war an den militanten Protesten gegen das alte Regime maßgeblich beteiligt.

Andere beschwichtigen. Yaakow Bleich etwa, der Oberrabbiner der Ukraine, sagte vor einer Woche der Jüdischen Allgemeinen: »Im Moment sehe ich, Gott sei Dank, keinen Grund, warum man das Land verlassen sollte.« Es bestehe keine direkte Gefahr für Juden. »Die Situation ist an­gespannt und kritisch, aber derzeit stabil.« Ähnlich sieht es Josef Zissels, Vorsitzender der Ver­einigung jüdischer Organisationen und Gemeinden in der Ukraine. »Der viel zitierte ›Rechte Sektor‹ ist kein antisemitischer Club, sondern ein Sammelbecken für alle möglichen Subkulturen«, zitiert ihn die Jüdische Allgemeine. »Sie können erschrecken, aber nicht nur Juden, sondern jede Minderheit.« Sowohl Zissels als auch Bleich vermuten hinter den jüngsten antisemitischen Vorfällen Provokateure, die im Auftrag oder zumindest mit Billigung der russischen Regierung unterwegs sind.
Das amerikanisch-jüdische Magazin Forward berichtete von einer telefonischen Umfrage des Ukrainisch-Jüdischen Kongresses Anfang März, die ergeben habe, dass von 29 Gemeinden im ganzen Land 27 die Situation als »ruhig und normal« einstuften. Lediglich im westukrainischen Winniza und in Sewastopol auf der Krim sei man wegen antisemitischer Äußerungen besorgt gewesen – die aber aus Russland beziehungsweise von prorussischen Gruppen gekommen seien. Zudem verweist Forward darauf, dass einer der drei stellvertretenden Ministerpräsidenten der neuen Regierung Jude sei und der jüdische Oligarch Ihor Komolojskyj zum Gouverneur der Provinz Dnipropetrowsk ernannt wurde. Außerdem habe Dmytro Jarosch, ein Sprecher des »Rechten Sektors«, dem israelischen Botschafter in Kiew bei einem Treffen versichert, seine Organisation sei gegen Antisemitismus und werde die ukrainischen Juden beschützen.

Das allerdings erinnert – angesichts des in der Vergangenheit wohldokumentierten Juden­hasses bei Swoboda und »Rechtem Sektor« – an Schutzversprechen, wie man sie von der Mafia kennt. Und es verweist auf den Kern des Problems: Sowohl Russland und seine Verbündeten als auch die proeuropäischen Kräfte in der Ukraine versuchen derzeit, die Ängste um das Wohlergehen der Juden in der Ukraine für sich zu nutzen.
Antifaschist ist man immer nur insoweit, als es gegen den Antisemitismus des konkurrierenden Nationalismus geht. Denn auch die Selbstinszenierung des autoritären, klerikalen, nationalistischen und homophoben Putin-Regimes als Erbe des Jüdischen Antifaschistischen Komitees ist nur allzu durchsichtig. Nicht ganz so offensichtlich ist, dass die größten Warner vor dem ukrainischen Antisemitismus, etwa der eingangs zitierte Rabbiner Moshe Reuwen Azman, oft der russischen Regierung nahestehenden Organistationen angehören.
Tatsächlich dürfte der Antisemitismus in großen Teilen der russischen und der ukrainischen Bevölkerung ähnlich weit verbreitet sein – was die Region allerdings nicht von vielen EU-Ländern unterscheidet. In einer Umbruchsituation mit nationalistischer Konfrontation, wie es sie derzeit zwischen der Ukraine und Russland gibt, ist der historisch tradierte Hass auf Juden leicht aktivierbar. Das Bündnis gegen Antisemitismus Kassel hat die Situation in einer Analyse mit dem Begriff »Antifaschismus als Farce« bezeichnet. Bleibt nur zu hoffen, dass sich diese Farce nicht allzu schnell zur Tragödie wandelt.