Ungarische Kunst und Theaterstücke im Berliner HAU

Existentielle Fragen

Im Rahmen des Kunst- und Theaterfestivals »Leaving is not an option?« am Berliner HAU beschäftigten sich ungarische Künstler mit den Entwicklungen ihres Herkunftslandes.

Gehen oder bleiben? Es ist eine grundlegende Fragestellung, der sich die ungarische Kunstszene im Berliner Hebbel am Ufer vom 9. bis 16. März widmete. Gehen oder bleiben – Theaterstücke, Dokumentarfilme und andere künstlerische Arbeiten diskutierten diese Frage anhand der politischen und sozialen Entwicklungen in Ungarn. Es gehe aber nicht darum, einzelnen ­Akteuren die Schuld zuzuweisen, wie Aenne Quiñones, die Kuratorin des Kunst- und Theaterfestivals, betont. »Wir befinden uns im Jahr 25 nach dem Mauerfall«, sagt sie, die selbst in der DDR aufgewachsen ist. Nicht nur der Osten, auch der Westen habe sich seitdem verändert.
Die Art und Weise, wie in Ungarn in Zeiten der Krise auf Volk und Nation zurückgegriffen wird, ist nicht ungewöhnlich. Ähnliches geschieht zurzeit allerorts in Europa. Wenn auch mit weniger Radau und Getöse. Die ökonomische Krise, die in Ungarn Fidesz an die Macht und Jobbik ins Zentrum des Diskurses gespült hat, befördert auch anderswo extrem rechte Parteien in die Parlamente und lässt vielerorts den ohnehin seit jeher latent vorhandenen Rassismus wieder manifest und teils gewalttätig zutage treten. Was gerade in Ungarn geschieht, ist so oder so ähnlich überall in Europa möglich.
In seinem Stück »Dementia«, das in Berlin von der Gruppe »Proton Theatre« aufgeführt wurde, befasst Kornél Mundruczó sich mit denen, die niemand zu brauchen scheint. Die Insassen einer Anstalt für Demenzkranke und deren medizinisches Personal lässt der Regisseur an der Frage zerbrechen, was passiert, wenn ihre Welt, das Leben zwischen den Mauern der Einrichtung aus den Fugen gerät. Die Anstalt lässt sich dabei genauso als Metapher für die Gesellschaft als Ganzes lesen, wie sie sich als Ort der Flucht vor dieser verstehen lässt.
Ähnlich verhält es sich bei »Acts of the Pitbull« von Péter Karpáti und der Gruppe »Secret Company«. Der wütende Prophet kehrt nach Tausenden Jahren der Wanderschaft zurück nach Budapest, um dort nichts als Krisen vorzufinden. Während der Aufführung des Stücks nimmt das Publikum auf der Bühne Platz. Oft ist nicht klar, wer eigentlich Zuschauer und wer Schauspieler ist. »Wir leben in einer Zeit, in der es nicht mehr möglich ist, alles, was man auf der Bühne sieht, zu glauben«, sagt Kárpáti. Die Zeit der großen Illusionen ist auch in der Kunst unwiederbringlich vorbei. Sie durch die kleine Illusion, das Publikum sei Teil der Handlung, zu ersetzen, erweist sich als ebenso gewitzt wie effektiv. Kárpátis Stück gibt keine eindeutige Antwort auf die Frage nach dem Gehen oder Bleiben. Jede seiner Figuren stürmt mindestens einmal hinaus, um im Anschluss doch wieder hereinzukommen. Die Probleme werden am Ende zwar alle gelöst – auf eine Art allerdings, die nur Zyniker zufriedenstellen dürfte.
So wichtig wie der Inhalt ist die Form der Darbietung, die an Bertolt Brechts Theater erinnert. Das sei kein Zufall, sagt Kárpáti. Die Budapester Off-Theater-Szene sei stark geprägt von der Gruppe »Krétakör«, die in den Jahren seit der Jahrtausendwende sehr aktiv gewesen sei. Schon ihr Name, zu Deutsch »Kreidekreis«, ist ein deutlicher Verweis auf den Begründer des dialektischen Theaters. »Brecht ist für uns gewissermaßen zur Muttersprache unserer Arbeitsweise geworden«, sagt Kárpati.
Die Leitfrage des Festivals beschäftigt auch ihn, allerdings weniger im Rahmen seiner Arbeiten am Theater. Die Schauspieler könnten ja nicht einfach gehen, wo sonst verstehe man schon Ungarisch? Eher an der Universität komme er mit dem Thema in Kontakt. Immer wieder seien Studierende plötzlich weg, sagt er, und doch sieht er einen Unterschied zur Auswanderung früherer Zeiten, etwa unter Horthy und Kádár. Damals seien die Menschen aus politischen Gründen geflohen, heute vor allem aus wirtschaftlichen und auch, weil es dank der EU einfacher geworden sei. »Diejenigen, die aus politischen Gründen fliehen müssten, können es oft nicht, weil ihnen das Geld fehlt«, sagt er und meint damit vor allem die Roma. Dass diese auch sonst nirgendwo in Europa mit offenen Armen empfangen werden, macht die Sache nicht einfacher.
Auch die Macher des »SpeakEasy Project«, das sich in seinem Film »Menjek/Maradjak« (Gehen/Bleiben) mit der Situation von im Ausland lebenden Menschen aus Ungarn befasst, sprechen lieber von »neuer Mobilität«. Das Wort Emigration halten sie für unpassend. In New York und London haben sie bereits gedreht, für Berlin werden derzeit noch Partner gesucht. »Am meisten interessiert mich das Gefühl der Entfremdung«, sagt Regisseur Loránd Balázs Imre. Er weiß, wovon er spricht. Er hat selbst schon im Ausland gelebt und sucht derzeit eine Wohnung in Berlin. Dass Menschen fortziehen, sieht er nicht unbedingt negativ. »Ich hoffe vielmehr, dass diejenigen, die Ungarn verlassen, das Land verändern werden, weil sie Ideen aus anderen Ländern mitbringen, die in Sachen Demokratie vielleicht schon etwas weiter sind«, sagt er.
Schätzungen gehen davon aus, dass rund eine halbe Million Ungarn in den Jahren seit Beginn der Wirtschaftskrise und des Rechtsrucks das Land verlassen haben. Für viele in Ungarn seien sie »Vaterlandsverräter«, schreibt der Regisseur Mundruczó in einem Begleittext zum Festival. Paradoxerweise, so Mundruczó, gäben sie damit zu, dass es anderswo tatsächlich besser sei als »in der Heimat«.
Im Grunde ist die Frage des Festivals ohnehin einseitig formuliert. Es kann nicht nur um die Frage gehen, ob Gehen eine Möglichkeit ist. Gehen gehört in unserer sich globalisierenden Welt ohnehin zum Alltag. Es muss auch die Frage gestellt werden, ob denn überhaupt die Möglichkeit besteht, zu bleiben. Für diejenigen, die nach Lesart von Fidesz und Jobbik nicht zum Kern des Magyarentums gehören, weil sie Roma, Juden oder »Kosmopoliten« sind, ist das wahrscheinlich sogar die wichtigere Frage. Sicher, gehen können ist ein Privileg. Ohne Angst bleiben zu können aber auch.