Eine Retrospektive der Filme von Kathryn Bigelow in Berlin

Explodierende Diskurse

Kathryn Bigelow ist nicht nur die erste Regisseurin, die einen Oscar für die beste Regie erhielt, sie hat mit ihrem konzeptuellen Interesse an Gewaltdarstellungen auch das männlich codierte Action-Genre revolutioniert. Das Kino Arsenal in Berlin widmet ihr eine Retrospektive.

Kathryn Bigelows in den fünfziger Jahren angesiedeltes Langfilmdebüt »The Loveless« (1982), das in Zusammenarbeit mit Regisseur Monty Montgomery entstand, beginnt mit einem Song, der im coolen Rock’n’Roll-Swing davon erzählt, wie einer schon »überhitzt« auf die Welt kam. Die Bilder dazu zeigen ein Motorrad, gefilmt im blaustichigen Licht des Morgengrauens und ein paar Männerbeine in Biker-Boots, die das Bild von rechts wie eine Bühne betreten. Langsam, fast lasziv fährt die Kamera nach oben, tastet einen männlichen Körper ab und endet schließlich auf dem Gesicht von Vance (Willem Dafoe in seiner ersten Filmrolle) – ein gut gestylter Biker, der eine schnelle Maschine hat, aber wenig Eile.
»We’re going nowhere«, sagt Vance einmal – ein Satz, der zu Bigelows kinetischem Hochspannungs- und Körperkino kaum antithetischer ausfallen könnte. Auch die ebenso gedehnten wie distanzierten Einstellungen des Films setzen sich von den immersiven, subjektnahen Kameraperspektiven ab, die ansonsten für Bigelows Arbeiten charakteristisch sind: »Blue Steel« (1989), »Strange Days« (1995) und »The Hurt Locker« (2008) etwa beginnen jeweils mit einer radikalen Point-of-View-Einstellung. Doch vor allem im Rückgriff auf die Syntax des amerikanischen Avantgarde-Kinos, insbesondere auf die Arbeiten Kenneth Angers – »The Loveless« verweist ganz explizit auf seine queere Bikerfilm-Appropriation »Scorpio Rising« –, lassen deutlich Bigelows Erfahrungen mit der konzeptuellen Kunst erkennen.
Eine stärker diskurstheoriegeschulte Filmemacherin wird man in Hollywood mit Sicherheit nicht finden. Nach einem Malereistudium in San Francisco bewegte sich Bigelow gut ein Jahrzehnt lang im Umfeld der New Yorker Kunstszene. Sie arbeitete mit Lawrence Weiner, Richard Serra und dem New Yorker Ableger der englischen Konzeptkunstgruppe Art & Language zusammen und kollaborierte mit dem französischen Theoretiker Sylvère Lotringer, unter anderem für »Set Up« (1978), ihren Abschlussfilm an der Columbia University. Der Film zeigt zwei Versionen einer Straßenprügelei zwischen zwei Männern, die mit einem Kuss endet – einmal im O-Ton, das zweite Mal mit den Off-Kommentaren von Lotringer und dem Semiotiker Marshall Blonsky. 1983 war Bigelow außerdem als militante Journalistin in Lizzie Bordens feministischem Sci-Fi »Born in Flames« zu sehen.
»The Loveless« wirkt aus heutiger Sicht wie ein Scharnier zwischen den frühen kunst- und theorieaffinen Aktivitäten und Bigelows Hollywood-Produktionen. Denn bei aller Distanz zu den Standards des klassischen Erzählkinos sind hier bereits zahlreiche Motive versammelt, die bald zu Bigelows signature style zählen – ein Faible für androgyne Frauenfiguren und Mavericks, aber auch für Männerbünde und sub- und gegenkulturelle Zusammenhänge: die pöbelhafte Biker-Gang, die hedonistischen Punkrocker-Vampire in »Near Dark«, die esoterische Bankräuber-Surfer-Clique in »Point Break«. Hinzu kommt ein Hang zu Überformungen. Die Art, wie in »The Loveless« Figuren und Waren ikonisiert werden – die Biker wirken ebenso zeichenhaft wie die Coca-Cola-Automaten, Wurlitzer-Boxen und Harleys –, nimmt bereits vorweg, was Bigelow in den folgenden Filmen mit geradezu exzessiver Fetischisierungslust ausagiert. Im Vorspann von »Blue Steel« etwa tastet die Kamera die Oberfläche einer Handfeuerwaffe ab, erforscht ihren Mechanismus und überhöht sie zum sexuellen Fetisch; im Verlauf des Films wird die Waffe zum Objekt des Begehrens und des Tauschs zwischen einer Polizistin und einem Serienmörder – mit all seinen psychoanalytischen Implikationen.
Bigelow hat ein überschaubares Werk vorzuweisen. Sie hat acht Spielfilme gedreht und einige Arbeiten fürs Fernsehen. Nach der kommerziell ziemlich desaströsen Großproduktion »Strange Days« (1995) setzte eine künstlerisch laue Zeit ein, mit zwei Filmen, in denen man Bigelows Autorinnenstimme kaum ausfindig machen kann. »The Weight of Water« (2000) wirkt unausgegoren und Bigelow-untypisch weinerlich, der U-Boot-Film »K19: The Widowmaker« ist in seinen Rauminszenierungen nicht uninteressant, aber als Geschichtsfilm nicht zuletzt wegen seines öligen Pathos kaum zu ertragen. Ihre Rückkehr mit dem produktionsökonomisch wesentlich kleinformatigeren Irak-Kriegsfilm »The Hurt Locker« (2008) fiel umso fulminanter aus. Durch die Zusammenarbeit mit dem politischen Journalisten und Drehbuchautor Marc Boal fand Bigelow zu einem neuen Stil: einer reportagehaften Erzählweise, gepaart mit einer an dokumentarische Bildsprachen angelehnten Ästhetik.
Dass Bigelow 2010 mit »The Hurt Locker« als erste und bisher einzige Frau einen Oscar für die Beste Regie gewann, scheint ihre Ausnahmerolle lediglich zu manifestieren. Nicht nur steht sie ziemlich solitär in der Männerwelt des Action-Kinos, sie hat auch einen komplett anderen Begriff davon. Wie sehr sich ihre Filme von den Vereinbarungen des Blockbuster-Kinos abgrenzen, zeigt sich dann auch genau an der Stelle, wo sie ihnen scheinbar am nächsten sind: in ihren hochdynamischen Action-Sequenzen. Anstelle rasanter Schnittfrequenzen und stark fragmentierter Einstellungen arbeitet Bigelow an handwerklich sorgfältig komponierten Bildfolgen, in denen die Akteure und Akteurinnen immer in räumlich nachvollziehbarer Beziehung zu ihrer Umgebung stehen. Dabei ist es gerade der Überschuss an Raumerfahrung, der Bigelows Actionsequenzen etwas geradezu Manisches verleiht. Die spektakuläre, mehr als dreiminütige Verfolgungsjagd in »Point Break« wirft den Betrachter in einen atemberaubend rasanten Hindernislauf durch Straßen, Gärten, Hinterhöfe, Wohnzimmer und Planschbecken, über Zäune und Mauern, vorbei an Schaukeln, bisswütigen Bulldoggen und kreischenden Hausfrauen. In »The Hurt Locker« ist die Stadt Bagdad ganz auf den begrenzten Erfahrungsraum eines Bombenentschärfungsspezialisten beschränkt. Wiederholt wird man in den sperrigen Schutzanzug mit eingeschlossen, nimmt teil an der körperlichen Erfahrung, der Verlangsamung von Bewegungen und Blicken, der Angst. Bildpolitisch ist »The Hurt Locker« regelrecht avantgardistisch, aber es ist eben auch ein Actionfilm, für den der Irak hauptsächlich als Gefahrenraum interessant ist.
Mit äußerster Konsequenz erfüllt und unterwandert Bigelow die Codes und Konventionen der Hollywood-Industrie. Diese Position eines »Dazwischen« ist für ihr Werk charakteristisch: für ihre Genre-Hybride (Vampirfilm/Western, Science Fiction/Noir/Polit-Thriller, Polizeifilm/Slashermovie, Surffilm/Heist Movie), für ihre politischen Uneindeutigkeiten (zwischen Systemkritik und Neokonservatismus) wie auch für ihren Umgang mit Geschlechterrollen und Blickordnungen. Dieser Umgang ist nie ausschließlich kritisch, dekonstruierend, sondern ebenso fasziniert und affirmativ. Für Anhänger eindeutiger Botschaften und trennscharfer Kategorien ist Bigelow ein unangenehmer Fall, eine Troublemakerin; die Interpretation ihrer Filme wird mithin zum heftig umkämpften Terrain. Bei »Zero Dark Thirty« (2012), der nicht nur in Kreisen der Filmkritik kontrovers diskutierten Geschichte über die Jagd nach Ussama bin Laden, reichten die Auslegungen von »Anti-Folter-Film« bis hin zu »Folter-Propaganda«, Naomi Wolf disqualifizierte sich gar mit einem schwachsinnigen Leni-Riefenstahl-Vergleich. Dabei können Bigelows Filme nur gewinnen, wenn man ihre Ambivalenzen auszuhalten vermag.

Grenzüberschreitungen – die Filme von Kathryn Bigelow. Kino Arsenal Berlin. Bis 28. März