Die Bücher von Sibylle Lewitscharoff

Von Stuttgart nach Vulgarien

Die Äußerungen von Sibylle Lewitscharoff zur Reproduktionsmedizin gelten vielen als unhaltbar. Ihr Werk aber sei davon zu unterscheiden. Enno Stahl hat die Bücher der Autorin einer kritischen Relektüre unterzogen.

Sibylle Lewitscharoff hat sich in ihrer Dresdner Rede in hochproblematischer Weise gegen die Reproduktionsmedizin gewandt. Kinder, die daraus hervorgegangen sind, bezeichnet sie als »zweifelhafte Geschöpfe, halb Mensch, halb künstliches Weißnichtwas.« Das – ebenso wie ihr Vergleich dieser medizinischen Praktiken mit den nationalsozialistischen »Kopulationsheimen« – sorgte für Empörung, die Ablehnung erfolgte nahezu einhellig.
Nun drängt sich die Frage auf: Sind Lewitscharoffs unzumutbare Äußerungen eine akute Entgleisung oder finden sich Spuren dieser menschenfeindlichen Anschauungen bereits in ihren Romanen, für die sie in Deutschland die höchsten literarischen Auszeichnungen erhalten hat? Besonnene Rezensenten warnen davor, eine Autorin, deren Kunstproduktion womöglich klüger sei als sie selbst, für ihre unhaltbaren gesellschaftspolitischen Verlautbarungen in Haftung zu nehmen. Die Verurteilung der politischen Haltung Sibylle Lewitscharoffs dürfe nicht zu einer Verurteilung ihres künstlerischen Werkes führen. Das wäre natürlich schlecht, bedeutete es doch, dass all die Rezensenten, all die Jurymitglieder, die Lewitscharoff als herausragende Autorin würdigten, sich glattweg getäuscht haben.
Aber, sind literarische Werke nicht immer auch politisch zu lesen? Sie stehen doch nicht außerhalb des Zeitgeschehens und der Geschichte. Selbst die vorgebliche Absenz des Politischen in der Literatur wirkt sich politisch aus. Besonders in Fällen wie dem Lewitscharoffs, wo sich äußerst bedenkliche Haltungen manifestieren, ist die Kritik geradezu verpflichtet, Spuren im Werk zu suchen, jedenfalls wenn sie sich noch als Kritik und nicht als Marktpartner, als bloßer Empfehlungsgehilfe des Literaturgeschäfts versteht.
Dabei geht es nicht darum, die Werke zu zerstören, sondern darum, sie zu verstehen und einzuordnen. Man kann von Célines »Voyage au bout de la nuit« begeistert sein und wird trotzdem bei der Lektüre stets dessen antisemitische Ausfälle im Hinterkopf behalten. Dass Heideggers Philosophie – wie gerade jetzt anlässlich des Erscheinens der Notizhefte – immer wieder neu auf den Prüfstand gestellt wird, um etwaige Koinzidenzen zwischen seiner Ontologie und seinen Führer-Bekenntnissen zu dekuvrieren, ist selbstverständlich. Das ist die Arbeit der Kritik, so verläuft Kanonbildung. Den Kanon dekretieren nämlich nicht irgendwelche Großfeuilletonisten, er entsteht vielmehr historisch, durch kontinuierliche Prüfung, Um- und Neu­bewertungen ästhetischer, aber auch politischer Art. Geprüft wird etwa, ob bestimmte Haltungen und Einstellungen der Verfasser noch zu unserer gegenwärtigen Weltsicht passen. Solche Untersuchungen bereits bei aktuellen Elaboraten anzustrengen, ist eine selbstverständliche Aufgabe der zeitgenössischen Kritik.
Lewitscharoff selbst hat in ihren Poetikvorlesungen nachdrücklich betont, dass »eigene Erfahrungen des Autors in seine Texte« einflössen und dort gerade »für die Würze des Lebendigen« sorgten. Daher liegt es nahe, dass ihr vielfach bekundeter Abscheu gegen die heutigen »neuen Formen geistiger Wirrnis« in ihre Romane eingedrungen ist. Nun ist Lewitscharoff mit ihrer barock-manieristischen, teilweise tatsächlich glänzenden Sprachgestaltung schwer zu fassen, zumeist spricht sie bildlich, allegorisch oder beißend ironisch, wie wären da Bekenntnisse zu erwarten, an denen sich ihre Meinung festmachen ließe?
Wenn man sich allerdings ihr Hauptwerk »Apostoloff« (2009) anschaut und es erneut liest, speziell nach ihrer Dresdner Rede, beschleicht einen der Verdacht, man sei hier einer hermeneutischen Täuschung aufgesessen. Was, wenn sie das, was sie sagt, wortwörtlich und nicht etwa doppelbödig meint? Ist Lewitscharoffs »erzkomische Abrechnung« (Brigitte) mit dem Vater wirklich blanke Ironie? Friedrich Schlegel sagte, Ironie sei inverser Ernst, und wir tun angesichts Lewitscharoffs Methode gut daran, ihm zu glauben.
»Apostoloff« ist eine Hasstirade auf Bulgarien, das Land, aus dem Lewitscharoffs Eltern stammen, und auf den Vater, der sich erhängt hat, als die Autorin noch ein Kind war. Der Rezensent Paul Jandl (NZZ) sah darin eine »große Komödie des Hasses« und Eberhard Falcke sekundierte in der Zeit, Lewitscharoff lege es nicht auf Analyse oder Aufklärung des Familienunglücks an, sondern auf dessen Aufhebung durch die »Verwandlung ins Komödiantische, Burleske, Groteske«.
Als Komödie, als »finsterfröhlicher Exorzismus« (Thomas Steinfeld, Süddeutsche Zeitung) oder gar als »possierlich« (Maike Albath, Frankfurter Rundschau) kann man den Roman nur sehen, wenn man Lewitscharoffs Ich-Erzählerin als unzuverlässig, als eine ironische Konstruktion einstuft und – schulmäßig korrekt – davon absieht, sie mit ihrer Autorin zu identifizieren.
Was aber, wenn hier ein Sonderfall vorliegt? Immerhin ist »Apostoloff« unbestreitbar Lewitscharoffs persönlichstes Buch, in dem die autobiographischen Übereinstimmungen zwischen Ich-Erzählerin und Autorin sich geradezu aufdrängen. Vielleicht ist es doch Lewitscharoff selbst, die hier spricht? Dann sieht man hier eine Autorin, die eine misanthropische Reise nach Bulgarien unternimmt und an diesem Land ihrer Ahnen wie auch den Menschen, die es bevölkern, kein gutes Haar lässt: Das Essen ist miserabel, die Kellnerinnen sind lasterhaft, die Bulgarinnen riechen wie parfümierte Wildschweine. Der Geruchssinn, dem man sich bekanntlich am wenigsten verschließen kann, wird bei ihr stark gefordert und sie träumt sich einen »bulgarischen Himmel« herbei, »wo nichts mehr an den nassen Fuchsmief erinnert, gemixt mit dem Gestank von WC-Steinen und billigem Rasierwasser«. Schon in der Kindheit reagierte sie überaus empfindlich auf das Odeur der bulgarischen Großmutter: »Rosenöl, Kampfer, Verwesung, Pygmäenwurz«.
Überall herrscht jener »Vulgarismus«, den Sibylle Lewitscharoff so sehr beklagt: Die Mädchen haben sich »aus dem allgemeinen Ramsch (…) die nuttigsten Fetzen gegriffen. Gehen Männer an ihrer Seite, so sind es die Ringertypen mit öligem Haar und Pferdeschwanz, bis unters Kinn tätowiert, so breit wie hoch.« Kurz: »Die Frauen signalisieren: wir sind Huren, die Männer: wir sind brutal.« Nun mag der eine oder die andere so etwas (vielleicht) mitunter denken, angesichts osteuropäischer Stilvorlagen, wenn man es aber schreibt und dadurch generalisiert, bestätigt und schürt man Vorurteile und Ressentiments. Sollen wir etwa glauben, alle Bulgaren seien so?
Sibylle Lewitscharoff scheint es zu denken, denn bis auf den titelgebenden Chauffeur Rumen Apostoloff, der die beiden Schwestern durch Bulgarien kutschiert, besitzt hier eigentlich gar nichts ein Existenzrecht. Der Fahrer Apostoloff wird gewissermaßen mythisch aufgeladen zum »Meta-Bulgaren«, der, durchaus belesen, gebildet und seelenvoll, verzweifelt bemüht ist, ihnen die Schönheiten und Traditionen der bulgarischen Kultur näherzubringen, von denen die reale Gegenwart so sehr absticht. Überzeugen kann er die Ich-Erzählerin/Lewitscharoff jedoch nicht und in ihrer leidvollen Lage bleibt ihr nur der Ausweg, alles zu verleugnen, was sie umgibt, und »geistig zu entweichen, und zwar geradewegs empor, stracks hinauf in den Himmel«. Dieses freudvollere Jenseits wird postwendend ironisiert, entfleucht sie doch in einen »schwäbischen Ingenieurs­himmel, sauber, ordentlich, ein jeder Engel an seinem Platz«. Womöglich waltet auch hier »inverser Ernst«, denn mit Engeln hat es Lewitscharoff ja.
Natürlich ist die Abrechnung mit Bulgarien psychotherapeutisch motiviert, sie gilt eigentlich dem Vater. Dass dessen Selbstmord, den Lewitscharoff auch in ihrer Dresdner Rede beschwor, bei ihr ein Lebenstrauma auslöste, ist verständlich. Doch was können all die anderen Bulgaren dafür? Der letzte Satz des Buches lautet: »Nicht die Liebe vermag die Toten in Schach zu halten, denke ich, nur ein gutmütig gepflegter Hass.« Die offenkundige Aporie, die darin liegt, wird auch zum Urteil über den Roman, denn hier ist nichts gutmütig, sondern alles gnadenlos. Mit schwäbischer Bigotterie ist es aus- und zuende gedacht, kein Widerspruch möglich.
»Ich kenne dies alles genauer, als mir lieb ist«, vielsagende Worte von Sibylle Lewitscharoff über die »massiv Gestörten«, geäußert in ihrer Büchnerpreis-Rede. So wie sie weiß, wie die Bulgaren sind, weiß sie auch, wie die geistig Behinderten ticken, denen sie in ihrem Erstling »Pong« (1998) ein Denkmal setzte. Hier sorgt ein Zitaten-Potpourri aus Texten und Bildern psychisch Kranker für das geeignete Ambiente, um die Figur des Zwangsneurotikers Pong zu konstruieren, eines Menschen, der ohne finanzielle und institutionelle Bedrängnis in seinem eigenen Universum lebt. Mit der tatsächlichen Innenwelt Zwangsgestörter hat das nicht viel gemein, dazu lese man lieber Wolfgang Welt. Pong dient Lewitscharoff allein als Projektionsfläche für ihre Sprachkunst; als sie davon genug hat, von Plot ist ja nicht zu reden, opfert sie ihn ebenso umstandslos, wie sie ihn zuletzt in dem Buch »Pong redivivus« (2013) wiederbelebte. Dass es auf der Welt zu viele Menschen gebe, dass »moralisch defekte Kinder« ein Problem darstellten, kann sie hier getrost ihrem gestörten Protagonisten unterschieben.
Diese Haltung souveränen Hantierens mit dem Schicksal ihrer Figuren, des demonstrativen Darüberstehens schlägt sich auch in Lewitscharoffs auktorialer Prosa nieder. In »Blumenberg« (2011) etwa mutiert die Erzählerwillkür geradewegs zur Selbstermächtigung (die sie in ihrer inkriminierten Rede bekanntlich Frauen vorwirft, die auf Reproduktionsmedizin zurückgreifen). Hier entreißt sie den gleichnamigen Philosophen, der zeitlebens äußerst zurückgezogen lebte, der privaten Abgeschiedenheit seines Arbeitszimmers und dichtet ihm eine Macke an: einen Löwen als ständigen Begleiter, den nur er sehen kann. Da Blumenberg eine Reihe von Prosaskizzen über Löwen verfasst hat, erschien ihr das offenbar naheliegend. Nun, der Philosoph ist tot und konnte sich nicht mehr wehren. Auch ihre eigenen Geschöpfe, vier fiktive Blumenberg-Schüler, allesamt traurige Gestalten, sind der Autorin ausgeliefert, sie werden kalt lächelnd abserviert, kaum dass sie in den Bannkreis des Romans treten.
Richard scheitert in seinem Studium gründlich, magisch zieht es ihn nach Südamerika, »wohl auch die letzten Wallungen des Revolutionsfiebers, das ihn, den in Paderborn geborenen Sohn eines höheren Postbeamten im Verwaltungsdienst, einst auf dem Gymnasium gepackt hatte«. Mit dazu passender Naivität sitzt er dem 14jährigen Lockvogel Maria (ausgerechnet!) auf, wird von deren Kumpanen entleibt und ausgeraubt. Hansi bringt gleich gar nichts auf die Reihe, endet als durchgeknallter Berber in Berlin, wo er, fortgeschleift von einigen Sicherheitsbeamten, vermutlich an einem Herzschlag verscheidet.
Die traumwandlerische Isa, bessere Tochter, »das flaumige Kükenhaar, der kindliche Busen, die kindlichen Patschhände«, hegt eine uneingestandene Liebe zum großen Philosophen Blumenberg und endet durch Selbstmord. Der baumlange Gerhard Baur, aus einfachen Verhältnissen stammend, ist letztlich der Einzige, der nicht komplett versagt, sondern sich habilitiert und in Zürich um eine Professur bewirbt. Jedoch erliegt er nach glanzvollem Probevortrag noch auf dem Uniflur einem Hirnschlag. Lapidar heißt es bei Lewitscharoff: »Baur hinterließ eine Frau, eine Tochter von sechs Jahren, einen anderthalbjährigen Sohn und einen kreuzfidelen, noch nicht ganz stubenreinen Terrier.« Fast höhnisch kommentiert sie diese Tode in einem kurzen poetologischen Zwischenstück: »Siehe da, vor den Augen des mitfühlenden Lesers löscht sich ein Buchstabenleben selber aus.«
So schnöde mit der selbstgeschaffenen Personage umzugehen, ist natürlich legitim. Mit seinen Werkbausteinen, und dazu gehören die Protagonisten, kann der Autor frei schalten und walten. Die hämische Gnadenlosigkeit indes, mit der Lewitscharoff das Sterben ihrer Figuren exerziert, lässt einen frösteln. Es ist nur ein Verrecken, beiläufig dargebracht, die irdische Existenz ein Fliegenschiss, nicht mehr, daran lässt sie keinen Zweifel. Lewitscharoff zeigt sich als eisige Soziographin, die das strampelnde Bemühen ihrer Charaktere leidenschaftslos mitverfolgt wie ein Biologe die Entwicklung seiner Mikrobenpopulationen. Schonungslos gibt die Autorin ihre Figuren der Lächerlichkeit Preis, Gerhard, Isa, Hansi und Richard, aber letztlich auch schon Pong – Hohn und Spott, wir sollen uns über ihre Hirngespinste, dummen Träume, albernen Tode amüsieren. Ist es das, worauf sie in ihrer Rede »Der mörderische Kern des Erzählens« (2009) abzielte? Erzählen sei »kein harmloser Zeitvertreib«, hieß es da, sondern aus »fließendem Blut und zertrümmerten Knochen« sei es gemacht. Dann aber handelte es sich nicht um postmoderne Leichtigkeit, dann ist es keine Ironie, sondern blutiger Ernst.
Vielleicht liegt diese Kompromisslosigkeit in Lewitscharoffs Glauben begründet. Der christlichen Überzeugung nach wartet nach dem Tod das Himmelsreich auf uns, dann hat alle Seelenpein ein Ende. Die geschundenen Romankreaturen, Blumenberg und seine Schüler, treffen sich tatsächlich am Schluss des Buches in einer amorphen Höhle – ist es das Paradies oder doch das Purgatorium?
Schuld haben sie durchaus auf sich geladen, denn Schuld, so Lewitscharoffs Überzeugung, hat jeder: »Kein Zweifel, wir sind schuldig und böse.« Literatur müsse »unsere immer neu sich anhäufende Schuld beäugen und umschleichen«. So bekommen Isa, Richard, Gerhard, Hansi und letztlich auch Blumenberg nur, was sie verdienen.
Ziemlich hellsichtig attestiert Lewitscharoff bei sich »Selbstgerechtigkeit«, die behalte »das rhetorische Ruder fest in der Hand. Daran besteht kein Zweifel. Das ist einfach nicht abzustellen.«
Ihre drastische Mitleidlosigkeit, ihre Intoleranz gegenüber vermeintlicher »Dummheit«, für die ihr unter anderem der verrückte Pong als Sprachrohr diente, dies alles bei zugleich offensiv propagiertem Jesusglauben ist fürwahr protestantischer Puritanismus in Reinkultur, ihn demonstrierte Lewitscharoff in ihren Reden und die Romane führen mehr als nur Spuren davon mit sich. Es stimmt: Ein Autor als politische Person ist nicht mit seinen literarischen Werken zu verwechseln, aber Sibylle Lewitscharoffs zukünftige Produktion sollte man sehr sorgfältig und kritisch lesen. Wenn überhaupt.