Schriftstellerinnen zwischen Exil und Kaltem Krieg

In den Häusern der Angst

Episoden aus dem Leben von Schriftstellerinnen zwischen Exil und Kaltem Krieg.

Im August 1948 fuhren der deutsche Schriftsteller Bodo Uhse, seine Frau Alma, Uhses Stiefsohn Joel Agee und das gemeinsame Kind Stefan von Mexiko nach Ost-Berlin, in die Sowjetische Besatzungszone. Die Reise auf einem ­sowjetischen Frachter über Leningrad dauerte mehrere Wochen. Dass Uhse sich dieser Anstrengung unterwarf, war nicht verwunderlich, denn als eingeschriebenes Mitglied der deutschen Kommunistischen Partei unterstand er deren Weisungen und die Partei forderte von ihren Mitgliedern, die die Jahre des Nationalsozialismus und des Krieges im Exil verbracht hatten, sich vor Ort und mit aller Kraft dem deutschen Neuaufbau zur Verfügung zu stellen.
Dass Alma ihrem Mann folgte, war hingegen nicht selbstverständlich. Ehe ist Ehe, aber sie ließ immerhin ein Leben zurück, das zwischen Mexiko-Stadt und Cuernavaca angesiedelt war, wo man sich ein Haus mit Garten und zwei Swimmingpools hatte leisten können. Darüber hinaus hatten die Uhses – im Gegensatz zum Rest der deutschen Exilantengemeinde in Mexiko weist Alma in ihren Erinnerungen ausdrücklich dankbar auf diesen Umstand hin – über ein sogenanntes Dienstmädchen verfügt, eine criada, die in der Regel in einem Verschlag auf dem Dach oder in der Küche lebte. Und anders als in der Sowjetischen Besatzungszone beziehungsweise der DDR, wo sich die Familie nach ihrer Ankunft niederließ, war sie in Mexiko nicht nur die Ehefrau eines bekannten Schriftstellers und Parteifunktionärs gewesen, sondern hatte die Familie als Angestellte einer renommierten Kunstgalerie ernährt. Im Nach­hinein sollte Alma Mexiko so auch als ein verlorenes Paradies empfinden.
Dazu kam: Alma Uhse war Amerikanerin und Jüdin; sie war nach dem Scheitern ihrer ersten Ehe mit dem Schriftsteller James Agee mit ihrem kleinen Sohn Joel von New York nach Mexiko gefahren, wo sie den Exilkommunisten Uhse kennen- und das Leben unter tropischer Sonne lieben gelernt hatte. Nun kam sie in zweifaches Feindesland. »Ich hatte wenig Sympathie für die Leute um mich herum«, schreibt sie in ihren Erinnerungen über ihren anfänglichen Aufenthalt in Ahrenshoop. »Es ist schwer, solch erbärmlichem Selbstmitleid gegenüber Mitgefühl aufzubringen. Außerdem war ich gerade von Leningrad gekommen, und hier waren Deutsche, deren Soldaten in die Sowjetunion eingefallen waren und Leningrad blockiert hatten, die über ihr Los jammerten – obwohl sie alle in besserer Verfassung zu sein schienen als die Russen.«
Das Verhältnis, das Alma Uhse zu ihrer deutschen Umgebung entwickelte, blieb ein distanziertes. Die Familie – Bodo Uhse nahm als Schriftsteller und Parteimitglied sofort eine maßgebliche Stellung innerhalb der Politik- und Kulturszene der DDR ein – zog bald in ein Haus in Groß-Glienicke am Stadtrand von Berlin. Auch hier gab es Hausangestellte, unter anderem die Witwe eines Soldaten, über die Alma schreibt: »Frau Lohmann wusste genug über Bodos Rolle im gewandelten Deutschland, um ihre Gedanken für sich zu behalten, aber wenn sie träumerisch auf einen entfernten Ort starrte oder von den phantastischen Dingen sprach, die ihr Mann ihr aus Dänemark oder Bulgarien gebracht hatte, dann wusste auch ich genug, um nicht über die Art und Weise zu reden, wie er an diese schönen Lederstiefel oder an die seidene Unterwäsche und die Blusen gekommen war.«

Offizieller Antifaschismus, inoffizieller Antisemitismus

Alma Uhse arrangierte sich, aber dass es ihr nicht immer gelang, sich und ihre Gedanken zurückzuhalten, davon berichtet ihr Sohn Joel Agee. Während Alma Uhse sich Ende der siebziger Jahre in New York an einen Schreibtisch setzte, um über ihr Leben in Mexiko und in der DDR zu schreiben, veröffentlichte Joel seine Erinnerungen im Jahr 1981. 1982 erschienen sie unter dem Titel »Zwölf Jahre. Eine amerikanische Jugend in Ostdeutschland« auch in deutscher Sprache.
Zwar weist sowohl Alma Uhse in ihren Memoiren »Always Straight Ahead« als auch Joel Agee in »Zwölf Jahre« darauf hin, dass Anti­semitismus in der DDR offiziell geächtet war: »Rassistische Bemerkungen zu machen«, erklärt letzterer, »oder gar in den Medien zu verbreiten, war eine strafbare Handlung. Ein Hakenkreuz auf dem Bürgersteig hatte zur Folge, dass der Staatssicherheitsdienst Ermittlungen aufnahm.«
Aber es kam dennoch zu Vorfällen, die Joel Agee darauf zurückführt, dass seine Mutter anders war als die deutschen Frauen ihrer Umgebung: Sie schminkte sich stark, flocht sich Wollfäden in die Haare, wie sie es in Mexiko gesehen hatte, tanzte wild und rauchte: »Bei einer öffentlichen Tanzveranstaltung«, berichtet er über sie, »kam einmal ein angetrunkener Mann mit Säbelschmissen auf sie zu, schlug ihr die Zigarette aus dem Mund und schrie: ›Deutsche Frauen rauchen nicht!‹ Dass er sofort aus dem Saal hinausbefördert wurde und alle Anwesenden, Fremde wie Freunde, Alma ihre Anteilnahme bekundeten, war ein gewisser Trost. Aber dann gab es noch einen zweiten, wesentlich übleren Zwischenfall in einem Gasthaus in Schierke, einem Wintersportplatz im Harz. Alma und Bodo saßen mit Freunden zusammen und redeten und tranken. Vom Nebentisch beugte sich ein Mann herüber und schrie Alma an: ›Verdammte Judenhure!‹«
Diese Vorfälle, das führt Agee in »Zwölf Jahre« weiter aus, beförderten Almas antideutsche Haltung: »Wir saßen einmal«, fährt er fort, »in irgendeinem trostlosen Esslokal und schauten zu, wie draußen Hunderte von Männern und Frauen stumpf und verbissen am Fenster vorbeizogen, mit steifem Rücken, freudlos, unglücklich. ›Guck sie dir an‹, sagte Alma, ›die Herrenrasse.‹ Sie schnaubte vor Verachtung. So heftig, so bösartig klang das – so war sie sonst nie.«
Ganz ähnlich empfand die zweite Amerikanerin, die ab Ende 1947 in der SBZ und nach der Staatsgründung im Oktober 1949 in der DDR lebte, und deren Wege Alma Uhse fast notgedrungen kreuzte: Wie Bodo Uhse hatte auch der deutsche Kommunist Max Schroeder im westlichen Ausland, in diesem Fall in New York, geheiratet und war unmittelbar nach dem Krieg in die SBZ gegangen, um die Leitung des Aufbau-Verlags zu übernehmen. An Weihnachten 1947 folgte ihm seine Frau Edith Anderson ins zerstörte Nachkriegsdeutschland. Und Edith Anderson hatte mit Alma Uhse einiges gemein: Auch sie stammte aus New York, auch sie war Jüdin, auch sie sollte ihre Erfahrungen literarisch verarbeiten. Unter dem Titel »Love in Exile« erschienen sie aber zuerst 1999 in den USA und erst im Jahr 2007 auf Deutsch unter dem Titel »Liebe im Exil«.
Dem Kapitel ihres Buches, in dem sie ihre Ankunft in Berlin schildert, hat Edith Anderson ein Brecht-Zitat vorangestellt: »Das Haus ist gebaut aus Steinen, die vorhanden waren.« Dass nur wenige gute Steine vorhanden waren, ging ihr bald auf: »Die guten Deutschen«, stellte sie fest und zählte ihren Mann natürlich dazu, »würden sich mit den schlechten Deutschen abfinden müssen. Es gab nicht viele gute Deutsche.«
Es gab aber bald auch andere Gründe, um sich Sorgen zu machen: Noch 1949, im Gründungsjahr der DDR, begann eine sogenannte Parteikontrollkommission alle diejenigen damaligen KP-Mitglieder einer Überprüfung zu unterziehen, die sich in einem westlichen Exilland aufgehalten hatten, unter anderem also in Mexiko und in den Vereinigten Staaten.
Niemand verstand, was vor sich ging: »Zeitungen waren keine Informationsquelle«, schreibt Edith Anderson über diese Zeit, »sie waren Vernebler oder Einpeitscher. Wir waren wie Komparsen einer Massenszene, die durch das Filmstudio gescheucht wurden, ohne zu wissen, in was für einem Film wir überhaupt mitspielten.«
Doch Bodo Uhse und Max Schroeder ahnten, dass sie Grund dazu hatten, besorgt zu sein. Und als zu Beginn der fünfziger Jahre eine Prozesswelle die Staaten des sowjetischen Einflussbereiches überrollte, deren antisemitische Stoßrichtung bald offensichtlich war, gab es gar Grund zu Panik.

Die Spione sind überall

Den Ausgangspunkt dieser Prozesswelle in den osteuropäischen Ländern, in denen sich die Anklagen sukzessive von Titoismus zu Zionismus, Kosmopolitismus und Spionage verlagerten, bildete die Entführung des Amerikaners Noel Field im Frühjahr 1949, der während der Jahre 1940/41 zahlreiche Flüchtende unterstützt hatte und in den Jahren nach 1949 zu einem amerikanischen Superspion aufgebaut wurde. Jeder und jede, der oder die auf der Flucht durch Frankreich nach Übersee mit Field in Kontakt gekommen war, musste nun fürchten, mit einem Spionagevorwurf konfrontiert zu werden.
»Am 12. Mai«, schreibt Edith Anderson, »verschwand in Prag Noel Field spurlos, einer der uneigennützigsten Kommunisten. Max hatte das Glück, dass er Noel niemals begegnet war. Diejenigen, von denen bekannt wurde, dass sie ihn oder einen seiner Verwandten einmal getroffen hatten, wie flüchtig auch immer, waren in Gefahr. Die Fundamente für die Rajk- und Slánský-Prozesse in Osteuropa waren gelegt. Scheinbar zufällig auch die der McCarthy-Inquisition in den Vereinigten Staaten. Obwohl die zwei Phänomene auffallend gut zueinander passten, schien dieses Faktum damals niemand zu bemerken. Das muss an der Unterentwicklung des Fernsehens gelegen haben und an der Weite des Atlantiks, der Yin und Yang voneinander trennte.«
Der Kalte Krieg hatte begonnen. In den USA mussten Menschen sich darauf einrichten, ihre Jobs zu verlieren oder gar ins Gefängnis zu kommen, denen Sympathien für den sogenannten Ostblock unterstellt wurden, in der DDR musste nervös werden, wem die Staatsführung Sympathien für den Westen anlastete: »Fürchtete ich mich?« fragte sich auch Alma im Nachhinein. »Fürchtete sich Bodo? Ich erinnere mich nicht, ob ich Angst hatte, aber mir, und ich wusste, auch Bodo, war klar, dass etwas völlig falsch lief. Ich war mir völlig der Tatsache bewusst, dass ich Jüdin bin und dass Bodo im Exil in Mexiko gewesen war.«
Am 3. Dezember 1952 wurde in Prag der tschechische Kommunist Otto Katz, auch er war in Mexiko gewesen und ein Freund der Uhses, mit anderen Verurteilten gehängt. Die meisten von ihnen waren Juden. Am 20. Dezember desselben Jahres veröffentlichte das ZK der SED eine Erklärung, in der dem ehemaligen Leiter der deutschen KP-Gruppe in Mexiko eine Verschwörung gegen die Regierung der DDR und prozionistische Positionen vorgeworfen wurde. Merker wurde erst seines Ministerpostens enthoben und in die Provinz verbannt und dann zu einer Haftstrafe verurteilt, die er bis 1956 absitzen musste.
Nachdem Bodo Uhse und alle anderen, die ihre Exiljahre in Mexiko oder einem anderen westlichen Land verbracht hatten, die frühen fünfziger Jahre als bedrohlich hatten empfinden und mit Angriffen und Verfolgungen aus den eigenen Reihen hatten rechnen müssen, erschien 1956 ein anderer Gegner auf der Bildfläche: In der sogenannten Suez-Krise in Ägypten sahen Kommunisten das aggressive Auftreten imperialistischer beziehungsweise vorgeblich imperialistischer Kräfte, Großbritannien, Frankreich und Israel. Und nach dem Aufstand in Ungarn befürchtete Uhse den Einmarsch des westlichen Staatenbündnisses in den sowjetischen Einflussbereich. Er imaginierte Szenen von Verfolgung, Verhaftung und Folter durch die – in seinen Augen faschistische – BRD und steigerte sich in eine Hys­terie hinein, die ihn sogar dazu brachte, bei der Planung seines Selbstmords den Tod seiner Angehörigen einzukalkulieren: Im Falle einer Invasion wollte er seine Familie und sich töten, um sie und sich vor Schlimmerem zu bewahren.
Uhses Hysterie aber hatte noch einen anderen Grund. Im Februar hatte die KPdSU ihren 20. Parteitag abgehalten, in einer anfangs noch geheimgehaltenen Rede hatte Nikita Chruschtschow die Verbrechen des Stalinschen Staatsapparates zur Sprache gebracht – und nun sickerte deren Inhalt auch in der DDR durch: »Bodo war immer schon von zarter und etwas morbider Natur gewesen«, schreibt Joel Agee über dieses Jahr, »und ließ sich gleich aus dem Gleichgewicht bringen; aber diesmal schien er völlig den Boden unter den Füßen verloren zu haben.«
Auch das Jahr 1957 brachte keine Erleichterung. Unter anderem der Philosoph Wolfgang Harich und der Verleger Walter Janka, auch er war mit Uhse im mexikanischen Exil gewesen, wurden mit der Begründung, sie hätten versucht, die Regierung der DDR zu stürzen, zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. In Leipzig ging der Schriftsteller Erich Loest für mehr als sieben Jahre ins Zuchthaus.

Zurück in die Vereinigten Staaten

Uhse war nun nicht mehr in der Lage, seine Bringschuld gegenüber dem Aufbau-Verlag zu leisten und das dreibändige Heldenepos »Die Patrioten« zu Ende zu schreiben, denn darin kämpfte eine Gruppe deutscher Helden unter Anleitung der Sowjetunion siegreich gegen den Nationalsozialismus, um nach dem Sieg diejenige gerechte Welt zu erbauen, die Uhse sich erträumte. Er entwickelte körperliche Abwehr­reaktionen gegen das Buch; immer wenn er weiterschreiben wollte, begann ein Ekzem seine Hände zu überziehen, diese hätten, notierte er, wie Krötenfüße ausgesehen.
»Der Gedanke an den Tod taucht oft als tröstende Hoffnung auf«, das hatte er schon am 4. November 1952, also angesichts des Prozesses in Prag, in seinem Tagebuch notiert, »ist tief vertraut geworden, sehnsüchtiger Traum«. Im Oktober 1957, drei Monate nach dem Prozess gegen Walter Janka und Wolfgang Harich, musste er auf einer Kulturkonferenz der SED Selbstkritik leisten und verlor endgültig die Kontrolle über sein Leben: Immer schon ein starker Trinker und Kettenraucher, wurde Uhse Ende der fünfziger Jahre endgültig Alkoholiker und litt an Ängsten und Schuldgefühlen. Und er verliebte sich solchermaßen in eine andere Frau, dass Alma den Entschluss fasste, ihn zu verlassen und in die USA zurückzukehren. Sie ließ einen Kranken und Verzweifelten zurück; bereits am 2. Juli 1963 starb Bodo Uhse an den Folgen seiner zerrütteten Gesundheit, er erlitt einen Gehirnschlag.
Nach einem Aufenthalt in Mexiko, wo sie vergeblich versucht hatte, an die glücklichen Jahre von einst anzuknüpfen, ließ sich Alma Uhse wieder in ihrer Heimatstadt New York nieder, wo sie wiederholt von Edith Anderson aufgesucht wurde, die ihre Aufenthalte in den USA auch literarisch verarbeitet hat. Während Anderson in ihrem tagebuchartigen Buch »Liebe im Exil« die Schwierigkeiten und Zumutungen thematisiert hatte, die das Leben in der DDR mit sich brachte, bediente sie das Lesepublikum der DDR mit dem 1972 erschienenen »Der Beobachter sieht nichts. Ein Tagebuch zweier Welten«.
1958, als ihre Mutter im Sterben lag, hatte sie sich bei den DDR-Behörden vergeblich um eine schnelle Ausreisegenehmigung bemüht; fahren konnte sie erst im Winter 1958/59, da war ihre Mutter schon tot. Auch Max Schroeder, der sich für den Aufbau-Verlag aufgerieben hatte, war inzwischen verstorben; Anderson musste sich nach einer Möglichkeit umsehen, ihren Lebensunterhalt eigenständig zu verdienen, und zog die Möglichkeit in Erwägung, dass ihr dies in ihrer Heimatstadt besser gelingen könnte. Den zweiten Versuch dazu unternahm sie zwischen September 1967 und Juni 1968 – Monate, die zur Grundlage von »Der Beobachter sieht nichts« wurden.

Ein Amerika für die DDR, eine DDR für ­Amerika

In diesem Buch schildert sie das Leben in den USA und vor allem in New York in den denkbar tristesten Farben: Die Stadt ist schmutzig und gefährlich, von Reklame wird man buchstäblich verfolgt, die amerikanische Gesellschaft ist von der Rassenproblematik ausgehöhlt, der Vietnamkrieg vergiftet die Herzen und die amerikanische Linke sei, meinte Anderson, hoffnungslos zersplittert oder habe sich im bürgerlichen Leben eingerichtet. Illustriert werden ihre Betrachtungen, indem sie Reklameanzeigen hinein streut, Zeitungsartikel über absurde Kunstprojekte, brutale Mordfälle und Arbeitslosenstatistiken.
Lügt sie, wenn sie den Amerikanern in »Liebe im Exil« das Leben in der DDR als ein schlechtes präsentiert, während sie der DDR-Bevölkerung das Leben in den USA als gleichfalls widerwärtig darstellt? Wahrscheinlich nicht, in beiden Büchern hat sie sich auf die dunkelsten Seiten der jeweiligen Systeme konzentriert. In den USA gehören, mittlerweile auch in der BRD verbreitet, sicherlich die Arbeitsvermittlungsagenturen dazu, die ihre Klienten de­mütigen und sich dafür noch bezahlen lassen. Und sofort glaubt man Anderson die Existenzangst, wenn sie beispielsweise schreibt: »Ich bin erst ein paar Wochen hier. Doch wehe, wenn die Suche nach Arbeit zu lange dauert oder mir ein kostspieliges Missgeschick passiert! Eine Krankheit! Eine Krankenversicherung gibt es hier nicht. Eine Zahnbehandlung hat mich schon 170 Dollar gekostet. Denk Dir, ein Zahn! Es gibt private Versicherungen mit ­Namen wie ›Blue Cross‹ und ›Blue Shield‹, aber man kann nur eintreten, wenn man bereits Arbeit hat – vorausgesetzt, dass die Firma angeschlossen ist, und das ist nicht immer der Fall.«
Bisweilen aber schießt sie in ihren Bemühungen, den Alltag in den Vereinigten Staaten zu diskreditieren, weit über ihr Ziel hinaus, so wenn sie beispielsweise die Fahrt in einer U-Bahn mit einem Transport in ein Konzentrationslager vergleicht: »Nach einer strapaziösen Stadtfahrt mit der Untergrundbahn«, notiert Anderson, »mehr tot als lebendig ins Büro gekommen. Wie bringen die Leute es nur fertig, ohne Luft zum Atmen, angequetscht an andere gequetschte Menschen, Tag für Tag wie in einem jener ins Konzentrationslager rollenden Güterwagen zu stehen, die Semprun in ›Die große Reise‹ beschrieben hat? Ich dachte die ganze Zeit: Das halte ich nicht aus … Ich muss es schaffen … Ich kippe um … Gleich werde ich zertrampelt … Ich muss aushalten … Nur in einer wesentlichen Hinsicht war es besser als auf den KZ-Transporten: Nach einer Dreiviertelstunde war ich wieder frei.«
In New York nahm Edith Anderson ihre freundschaftliche Beziehung zu Alma Uhse wieder auf, die sie im Buch unter dem Namen ­Pilar auftreten lässt. Auch Alma hatte, um einen Job zu finden, ihren langjährigen Aufenthalt in der DDR verschweigen müssen, aber sie hatte – im Gegensatz zu Anderson – New York verändert vorgefunden, und zwar im positiven Sinn: »Aber was mich am meisten überraschte«, schreibt sie in »Always Straight Ahead«, »war der Anblick einer jungen schwarzen Frau im Kaufhaus Macy’s. Dieser Anblick wäre undenkbar gewesen, als ich die Staaten verließ, und zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich damals nicht viel darüber nachgedacht habe, wovon die Schwarzen lebten. Sie waren in Harlem, in abgeschiedenen Wohnblöcken. Die Frauen arbeiteten in der Stadt, sofern sie einen Job hatten, normalerweise als Hausangestellte, und die Männer waren meistens Dienstboten, außerdem gab es einen kleinen Anteil an Jazz-Musikern. Für ein schwarzes Gesicht war es, außer als Komiker, Jazz-Musiker oder Diener, undenkbar, auf einer Leinwand oder einer Bühne zu erscheinen, und man hätte niemals einen Schwarzen hinter einem Schalter bei Macy’s gesehen. Die Stellenangebote hatten sich auch geändert, was ich bemerkte, als ich einen Job suchte. Potentielle Arbeitgeber inserierten nicht mehr ›Nur Christen erwünscht‹ oder ›Keine Juden‹. (Zu schreiben ›Keine Schwarzen‹, war unnötig gewesen.)«
Alma Uhse lernte, das New York der sechziger Jahre zu genießen, und gewann der Stadt ihre positiven Seiten ab. Sie fand eine Stelle, hatte einen großen Freundeskreis und heiratete ein drittes Mal – das ist der Grund, warum ihre Erinnerungen unter dem Namen Alma Neuman erschienen sind. Doch immer quälte sie die Sorge um ihren jüngeren Sohn Stefan, der in Deutschland im Alter von fünf Jahren zuerst an schwerem Asthma erkrankt und nun auch psychisch labil war.

Spuren der Vergangenheit

Ihr älterer Sohn Joel Agee befand im Nachhinein, dass sein Bruder unter der spezifischen deutschen Nachkriegszeit gelitten habe: »Kurz vor seinem ersten Krankenhausaufenthalt«, schreibt er in »Zwölf Jahre«, »hatten Stefan und ich einen Film über die Männer gesehen, die die Vernichtungslager geplant hatten. Er gehörte zum obligatorischen Schulprogramm für alle Kinder in Groß-Glienicke, vielleicht auch in der ganzen DDR. Er hieß ›Der Rat der Götter‹. Er enthielt eine Szene, in der mehrere Tiere – ich glaube ein Lamm, ein Huhn, eine Maus und ein junger Hund – in einer gläsernen Gaskammer erstickt wurden, während eine Gruppe von Staatsmännern und Wissenschaftlern den Vorgang mit Interesse beobachteten. Dieses Experiment hatte sich mehrere Wochen lang Nacht für Nacht in Stefans Träumen wiederholt. Was hätte man ihm sagen können? Dass es nur ein Film gewesen sei? Nur ein Traum?«
Für Agee stand außer Frage, dass sich Stefan, der während eines seiner Krankenhausaufenthalte in einem Glaskasten liegen musste, da Kinderbetten fehlten, in entsprechende Albträume hineingesteigert hatte, die nicht ohne Folgen geblieben waren, und auch Alma Uhse verstand im Nachhinein, dass ihr Kind auf die Spannungen und Ängste der frühen fünfziger Jahre reagiert und dann den Sprung in die andere Welt, den Sprung in die USA, nicht bewältigt hatte. Für Edith Anderson reihte sich Stefan Uhse jedoch vorrangig in das Panoptikum einer Gesellschaft ein, die sie als skurril und dekadent empfand, die sie, nachdem sie 20 Jahre in der SBZ und der DDR gelebt hatte, nicht mehr verstand. Stefan, den sie in »Der Beobachter sieht nichts« Jaime nennt, erscheint ihr »erledigt«, wie er »den ganzen Tag in seinem Zimmer sitzt und grauenhafte Bilder von ausgeweideten kranichähnlichen Menschenwesen mit aufgepaltenem Gehirn zeichnet«: »Dann legt er sich zu Yoga-Übungen auf eine schmutzige Schaumgummimatte nieder. Er weigert sich, Fleisch zu essen, weil es eine Sünde sei, Lebewesen zu töten. Nur wenige, dünne Fäden verbinden ihn noch mit der realen Welt.«
Stefan Uhse war auf die Suche nach einer spirituellen Welterklärung gegangen; er fuhr nach Indien, Tibet, Japan, Kalifornien, Pakistan und in die Türkei. Nachdem Edith Anderson in die DDR zurück gereist war, diagnostizierten die Ärzte bei ihm eine paranoide Schizophrenie – ziemlich genau zu dem Zeitpunkt, sagte Joel Agee in einer Fernsehsendung, in der er sein zweites Buch vorstellte, als »die Gegenkultur« in den Vereinigten Staaten an Bedeutung gewann.

Schlüsselerlebnisse

Im Januar 1973 setzte Stefan Uhse seinem Leben ein Ende, indem er aus dem Fenster seines Zimmers sprang. Das war sein zweiter Sprung; der erste – einige Monate zuvor – hatte aus ihm bereits einen Invaliden gemacht.
Den langsamen Tod seines Bruders, seine eigenen Ausflüge in den Wahnsinn, die jedoch auch dem nachhaltigen Konsum von LSD und den Auswirkungen eines typischen Hippie-Lebens der späten sechziger und frühen siebziger Jahre geschuldet waren, hat Joel Agee in dem Buch »In the House of my Fear« verarbeitet, das 2004 in den USA erschienen ist und zu derjenigen Literatur zählt, die zwischen beiden Welten, zwischen Ost und West, angesiedelt ist. In »In the House of my Fear« reflektiert er auch über deutsche Begriffe wie »Glück«, »Heimat« und »Schlüsselerlebnis«, die sich nicht ohne Weiteres ins Englische übertragen lassen.
Sein eigenes »Schlüsselerlebnis« hatte er 1963 gehabt, als er noch einmal in die DDR gereist war, um das Grab seines kurz zuvor verstorbenen Stiefvaters Bodo Uhse zu besuchen. An der Grenze hatte man ihn verhaftet, da er zwei Pässe dabei hatte: einen amerikanischen auf den Namen Agee und einen DDR-Pass auf den Namen Uhse. Joel Agee wurde in ein Büro der Staatssicherheit gebracht. Dann hörte er aus einem anderen Zimmer einen Schrei.
Das war der letzte Kontakt mit der Welt seines Stiefvaters, des Mannes, der – so Agee – gleichermaßen närrisch wie großzügig daran geglaubt habe, dass man die perfekte Gesellschaft errichten könnte. Auch Agee hatte dies geglaubt. »Und deshalb«, schreibt er, »war ich so schockiert, als ich diesen Schrei bei der ostdeutschen Geheimpolizei hörte.«
Die Zitate aus Alma Uhses »Always Straight Ahead« und Joel Agees »In the House of my Fear« wurden von der Autorin ins Deutsche übersetzt.

Literaturverzeichnis

Joel Agee: In the Hose of my Fear. A Memoir, Shoemaker & Hoard Publishers, Washington 2004
Ders.: Zwölf Jahre. Eine amerikanische Jugend in Ostdeutschland. Aus dem amerikanischen Englisch von
Joel Agee und Lola Gruenthal, Fischer Verlag, Frank­furt/Main 1985
Edith Anderson: Der Beobacher sieht nichts. Ein Tagebuch zweier Welten. Aus dem amerikanischen Englisch von Eduard Zak, Verlag Volk und Welt, Berlin 1972
Dies.: Liebe im Exil. Aus dem amerikanischen Englisch von Christa und Clemens Traglehn, BTB-Verlag, München 2010
Alma Neuman: Always Straight Ahead. A Memoir, Louisiana State University Press / Baton Rouge, London 1993