Der Roman »Im Garten der Dissidenten« von Jonathan Lethem

Mit Stalin auf dem Sofa

In seinem Roman »Der Garten der Dissidenten« schildert Jonathan Lethem die historischen Kämpfe, Irrtümer und Widersprüche der Linken anhand einer New Yorker Familie.

Wegen eines gewaltigen Schnee­sturms wird im Februar 1960 der New Yorker Highway zum ersten Mal in seiner Geschichte geschlossen. Viele U-Bahn-Eingänge der Stadt sind vereist, der Central Park lockt Skiläufer an. Tom Gogan, einer der vielen jungen Musiker, die nach Greenwich Village strömen, um sich eine Künstleridentität zusammenzubasteln, verlässt trotz der Kälte seine Wohnung in Manhattan, weil er eine Einladung zu einem Workshop mit einem blinden Blues-Gitarristen hat. Der legendäre Reverend Gary Davis soll im Stadtteil Queens eine Schar junger Bewunderer im Fingerpicking unterrichten. Toms Expedition über den East River lohnt sich: »Dieses Allerheiligste der Wärme und des Kaffeedufts zu betreten, unerwartet fern von Manhattan und an einem Tag, an dem alle Grenzen zwischen Nacht und Tag, Bordstein und Pflaster, Dach und Himmel im Weiß unkenntlich wurden, war eine erhabene Erfahrung.« Zwar wird der junge Gitarrist im Schneechaos von Queens nicht die Kunst des Fingerpicking erlernen – die Technik übersteigt schlicht die Fähigkeiten seiner rechten Hand, die sich unversehens wie ein Fuß verhält, »an den man noch einen Entenfuß genäht hatte«. Dafür lernt Tom am Tag des Blizzard seine zukünftige Frau kennen, die kommunistische Aktivistin Miriam Zimmer.
Trotz der am Himmel treibenden »Wahnsinnsflocken« geht es beim ersten Treffen nicht unumschränkt romantisch zu: Als Tom im Nebel von Marihuanaschwaden eine Eigenkomposition über den letzten Lynchmord in den USA zum Besten gibt, legt Miriam sogleich Einspruch ein. Sie urteilt, sein Lied über die Ermordung des Afroamerikaners Mack Parker in Mississippi sei gekünstelt. Wenn er über Schwarze schreiben wolle, müsse er doch bloß vor die Tür gehen und die Augen aufmachen: »Die Männer da unten, die sind die Wirklichkeit.« Wie ernst es Miriam mit ihrem Rat ist, demonstriert sie, als sie umstandslos aus der Wohnung stiefelt und die im Schnee lagernden Obdach­losen mit Kaffee versorgt.
Der 1964 in Brooklyn geborene Jonathan Lethem hat in seinem neuen Roman »Der Garten der Dissidenten« der New Yorker Linken ein Denkmal gesetzt – engagierten Menschen wie Miriam und Tom, die mitten im Herzen des Kapitalismus gegen die Zentren der ökonomischen und politischen Macht in der Stadt protestieren. Dabei interessiert sich Lethem nicht für pompöse linke Selbstinszenierungen, sondern spürt den oft unscheinbaren Formen des Widerstands nach: dem wütenden Protestsong, dem Leben in der Kommune, dem Engagement für eine Stadtteilbibliothek, dem Pazifismus der von Hippies unterwanderten Quäker. Der Gefahr, dabei ins Banale abzugleiten, begegnet er, indem er das Randständige kurzerhand zum Zentrum erklärt. So sind seine Helden keine Chefideologen und Gewerkschaftsbosse, sondern linienuntreue Grenzgänger, die nicht selten mit den Apparatschiks ihrer eigenen Gesinnungsgenossen in Konflikt geraten.
Rose Zimmer, die Mutter von Miriam, ist die beeindruckendste Dissidentin in Lethems New York. Die Leser stolpern gleich zu Beginn in ihr Wohnzimmer, wo ihr von der eigenen Partei, der KP, ein inoffizieller Prozess gemacht wird. Ihr Vergehen? Rose hat ihr Engagement für die Bürgerrechte der Afroamerikaner zu wörtlich genommen und eine Affäre mit einem verheirateten Polizeileutnant schwarzer Hautfarbe begonnen – die weibliche Selbstbestimmung über die eigene Sexualität steht nicht im Parteiprogramm. Dass Rose, die Tochter polnischer Juden, einst gegen Hitler gekämpft hat, belesen und gut organisiert ist, scheint den Genossen egal zu sein. Rose wird aus der Partei geworfen. Allzu unglücklich muss sie darüber nicht sein: »Roses Rausschmiss war der letzte glorreiche Akt (…) dieser herrlich indignierten Gespenster, die längst tot waren, ohne es zu wissen.« Als Chruschtschow kurz nach dem Wohnzimmertribunal die Verbrechen des Stalinismus bekanntmacht, stürzen Kommunisten aller Länder in eine Sinnkrise.
Doch was Rose nicht tötet, macht sie stärker. Unbeirrt setzt sie nach ihrem Rauswurf die Arbeit für eine solidarische Gesellschaft fort. Immer wieder wechselt Lethem seine Erzählperspektive, um den Einfluss nachzuzeichnen, den »die letzte Kommunistin« auf ihre Zeitgenossen hat. Charakteristisch für Rose ist ihre Bodenhaftung, ihr enger Kontakt mit dem großstädtischen Milieu: »Im Gegensatz zu Leuten, die sich nur im Moskau ihrer Träume aufhalten, bin ich stolze Bürgerin einer Gegend, in der Italiener, Iren, Neger, Juden und ab und zu auch mal Proleten aus der Ukraine leben. (…) Wenn ich in Queens unterwegs bin, schweben meine Füße nicht über den Gehwegen.« Als Roses Ehemann eines Tages versucht, seine Frau in eine jüdische Bauernsiedlung in New Jersey zu verpflanzen, um dort mit ihr jiddische Lieder zu trällern, schmettert Rose ihm ein »Nein« entgegen. In Queens, in der von europäischen Migranten geprägten Gartenstadt Sunnyside Gardens, blüht Rose auf.
Stets droht dem von rebellischem Schwung getragenen Roman die Idealisierung seiner dissidenten Helden, doch Lethem bannt diese Gefahr auch immer wieder. Vor allem Rose wird als ambivalenter Charakter gezeigt. Kaum jemand in ihrem Umfeld, den ihr brutales Sendungsbewusstsein nicht verschreckt hätte. Scharf urteilt der schwarze Universitätsdozent Cicero über seine Mentorin: »Sie wollte die Welt befreien, aber sie versklavte jedes arme Würstchen, das sie in die Krallen bekam.« Besonders arm dran ist ihre Tochter. In einer schockierenden Szene stößt die Mutter das Mädchen in den Gasherd und hält deren Kopf für Sekunden in den Ofen. Die 17jährige hatte es gewagt, zum ersten Mal ihr Bett mit einem Jungen zu teilen. Die Jüdin Rose droht ihrer eigenen Tochter mit der Ermordung im Gasherd.
Und Tommy, der Protestsänger im Schneesturm? Ihm ergeht es in dem mit Lokalkolorit bisweilen überfrachteten Roman übel. Seine von Miriams Ideen inspirierte Schallplatte, die die Stimmen der Marginalisierten sammelt, wird mit Hohn aufgenommen. Ein Musikkritiker verreißt das Werk als »ein ekelhaftes Amalgam aus Totenklagen, die sich beim Country & Blues anbiedern, und pseudoverschmitzter Lyrik, gespickt mit Binsenweisheiten des Mitleids«. Schon bald muss Tom mit ansehen, wie ihn ein kometenhaft aufsteigender Musiker namens Bob Dylan an die Wand singt. Ähnlich wie im Coen-Film »Inside Llewyn Davis« wächst der »Tambourine Man« zu einem Koloss an, der Musikern mit weniger Talent, Glück und Gespür für den Zeitgeist künstlerisch das Genick bricht. Es ist Lethems Verdienst, dass er den unbekannten Dissidenten, die an den Rändern der Geschichte leben und kämpfen, ein Gesicht gibt.

Jonathan Lethem: Der Garten der Dissidenten. Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Tropen bei Klett-Cotta, Stuttgart 2014, 476 Seiten, 24,95 Euro