Die Petition für die Abschaffung von Hartz-IV-Sanktionen

Wer sanktioniert das Jobcenter?

Eine Petition, die die Abschaffung von Sanktionen für ALG-II-Empfänger forderte, erhielt mehr als 90 000 Unterschriften. Vorige Woche beschäftigte sich der Petitionsausschuss des Bundestags damit.
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Am Montag voriger Woche sprach die »Hartz-IV-Rebellin« Inge Hannemann vor dem Petitionsausschuss des Bundestags. Ihre Petition mit der Forderung, sämtliche Sanktionen gegen Bezieher von ALG II zu streichen, fand mehr als 90 000  Unterzeichner. Hannemann weiß, wovon sie redet: Jahrelang war sie Mitarbeiterin im Jobcenter Hamburg-Altona, bis sie an die Öffentlichkeit ging und die Zustände in den Jobcentern medienwirksam kritisierte. Seitdem ist sie von ihrer Arbeit freigestellt. Das Jobcenter würde sie am liebsten ganz hinauswerfen – ein Prozess vor dem Arbeitsgericht läuft noch.
Ein verpasster Termin oder die Ablehnung eines Stellenangebots können genügen, um einem ALG-II-Empfänger die Bezüge zu kürzen – bis hin zur Streichung sämtlicher Zahlungen. Im Alltag hatte Hannemann es mit verzweifelten Menschen zu tun, denen manchmal das Geld für eine Fahrkarte fehlte, die sie benötigten, um zum Jobcenter zu fahren. Sie erzählt von einem Diabetiker, der sich sein Insulin nicht leisten konnte und der sie fragte, ob ihm als »letzter Weg der Suizid« bleibe. Die Sanktionen müssen abgeschafft werden, so Hannemann, weil sie das Recht auf Absicherung des Existenzminimums verletzten, das gesetzlich festgelegt ist. Das Kürzen oder Streichen der Grundsicherung bedrohe die Existenz und gesellschaftliche Teilhabe.

Hannemann ist mit ihrer Forderung nicht allein. Neben den Unterzeichnern fordern auch die Grünen, die Linkspartei und die Piratenpartei die Abschaffung sämtlicher Sanktionen. Die Bundesregierung lehnt das ab. Gabriele Lösekrug-Möller (SPD), parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Arbeit und Soziales, trug vor dem Petitionsausschuss vor, dass diejenigen, die Leistungen in Anspruch nehmen, auch zur Mitwirkung verpflichtet seien: »Unser Sozialgesetzbuch erwartet eigene Anstrengungen.« Es werde erwartet, dass die Empfänger von ALG II Termine wahrnehmen, Unterlagen beibringen, sich auf vorgeschlagene Stellen bewerben und Angebote zur Weiterbildung wahrnehmen.
Wer Geld vom Staat will, solle auch etwas dafür tun, lautet die Devise. Diese wohlfeile Argumentation ist angesichts kafkaesker Zustände in den Jobcentern perfide. Die Grundidee des ALG II lautet »Fördern und fordern«, nicht nur die Leistungsempfänger haben Pflichten, sondern auch die Jobcenter. Deshalb wird zu Beginn eine Eingliederungsvereinbarung unterschrieben, vorgesehen ist, dass Fallmanager und Antragsteller gemeinsam aushandeln, welche Maßnahmen sinnvoll sein könnten, sich einigen und eine Art Vertrag unterzeichnen.
Die Praxis sieht häufig anders aus. Der Jurist Michael Mittelbach, der in Berlin für die Piratenpartei in der Bezirksverordnetenversammlung Pankow sitzt, hat schon viele Antragsteller zum Jobcenter begleitet. In der Regel werde einfach eine fertige Eingliederungsvereinbarung über den Tisch geschoben, so Mittelbach. Oft teile niemand den Antragstellern mit, dass sie eigene Vorschläge einbringen können. Wer das komplexe Schriftstück zunächst nach Hause mitnehmen möchte, um es in Ruhe zu lesen, werde unter Druck gesetzt, es schon vor Ort zu unterschreiben. Die Stimmung im Jobcenter sei gereizt, es sei schon vorgekommen, dass Mitarbeiter des Jobcenters den Wachdienst rufen, wenn Mittelbach Antragsteller begleitet. Mittelbach empfiehlt in vielen Fällen, eine solche Eingliederungsvereinbarung einfach nicht zu unterschreiben. Auf den Leistungsbezug habe das keine Auswirkungen: Antragsteller bekommen die sogenannte Vereinbarung dann einfach als Verwaltungsakt aufgedrückt. Was zunächst negativ klingt, hat Vorteile. So neigten die Jobcenter dazu, Klauseln in die Eingliederungsvereinbarungen zu schreiben, die sie später bei Verwaltungsakten weglassen müssten – zum Beispiel den Schadensersatz bei abgebrochenen Weiterbildungen. Beenden Leistungsbezieher eine Weiterbildung vorzeitig, sollen sie ganz oder anteilig für den Kurs bezahlen. Das kann das Amt eigentlich nicht verlangen, es sei denn, ein Antragsteller hat sich mit seiner Unterschrift »freiwillig« zur Zahlung verpflichtet. Gründe, eine Weiterbildung abzubrechen, gibt es durchaus, beispielsweise einen neuen Job. Eine Eingliederungsvereinbarung per Verwaltungsakt enthält weniger Klauseln, gegen die ein ALG-II-Empfänger verstoßen kann. Für die Jobcenter gibt es dann weniger Möglichkeiten, Sanktionen zu verhängen.

Wie absurd die Sanktionspraxis ist, zeigen Fälle von Aufstockern wie Thomas, der als Taxifahrer in Berlin arbeitet und dessen Verdienst dem Job entsprechend wechselhaft ausfällt. Weil es mehr Geld bringt, fährt er meistens nachts. Die Nachtschicht endet um sechs Uhr morgens, danach geht Thomas schlafen. Dennoch erhält er regelmäßig Einladungen vom Jobcenter für Termine um neun Uhr morgens. Für den Fall des Nichterscheinens wird ihm stets eine Sanktion angedroht, dabei müsste dem Jobcenter klar sein, dass Aufstocker arbeiten und für Termine nicht jederzeit zur Verfügung stehen. Was sich problemlos mit einem Telefonat klären lassen sollte, wird zum Papierkrieg, manchmal auch zum Unmut der Arbeitgeber. Jedes Mal aufs Neue sollte Thomas für seine Arbeitszeiten eine Bescheinigung seines Chefs einreichen. Als der Taxifahrer auf Aufforderung des Jobcenters Urlaubsgeld und eine Lohnerhöhung von seinem Arbeitgeber verlangte, wurde er kurzerhand gefeuert. Mittlerweile zeugen dicke Aktenordner von seinen Auseinandersetzungen mit dem Amt. Oft musste Thomas Widerspruch einlegen und jeden Bescheid selbst noch einmal überprüfen. Etliche Male hatte sich das Jobcenter verrechnet, abgesehen von einer Ausnahme immer zu seinen Ungunsten. Vor Jahren war Thomas noch kämpferisch und trat für seine Rechte ein – mittlerweile fühlt er sich zermürbt und sieht in der Bürokratie des Jobcenters eine Beschäftigungstherapie für Arbeitslose und Geringverdiener. Problematisch ist die Sanktionspraxis auch, weil die überbordende Bürokratie viele Antragsteller einfach überfordert. So ist derzeit beim Berliner Sozialgericht die Klage einer psychisch kranken Person anhängig, die sanktioniert wurde, weil sie sich geweigert hatte, eine Stelle in einem Callcenter anzunehmen. Ein entsprechendes ärztliches Attest lag vor, der Mitarbeiter des Jobcenter tat es allerdings als »Gefälligkeitsgutachten« ab. Statt eine zweite Meinung vom Amtsarzt einzuholen, verhängte er einfach eine Sanktion. Wie der Fall ausgeht, muss nun vor Gericht geklärt werden.

Mehr als 30 Millionen Euro gibt der Bezirk Pankow jährlich für sein Jobcenter aus – die tatsächlichen Kosten liegen allerdings wesentlich höher, wenn ein Teil der Arbeit regelmäßig an Gerichte ausgelagert wird. Allein im März 2013 schob das Jobcenter fast 1 000 unerledigte Widersprüche und weit über 2 000 unerledigte Klagen vor sich her. Anreize, diese Praxis zu ändern, gibt es nicht, solange die Jobcenter keine Gerichtskosten tragen müssen. Das Jobcenter begründet die Vielzahl der Klagen und Widersprüche mit Personalmangel und Reibungsverlusten wegen zu vieler befristeter Stellen. Allerdings ist die Zahl der Mitarbeiter zwischen 2009 und 2013 von 327 auf 459 gestiegen, während die Zahl der befristeten Stellen von 146 auf 92 sank und außerdem die Zahl der Arbeitslosen zurückging. Zu besseren Zuständen hat das bisher nicht geführt. Jan Schrecker, der Fraktionsvorsitzende der Piratenpartei in Pankow, sammelt seit Jahren Belege für die mangelhafte Arbeit von Bezirksamt und Jobcenter. Er ist überzeugt: Fördern und Fordern funktioniert schon deshalb nicht, weil das Jobcenter seine Seite dieser Vereinbarung nicht einhält. Aber wer sanktioniert ein Jobcenter, das seinen Job nicht ordentlich macht?