Auszug aus: »ein totes im see’bolo«

ein totes im see’bolo

Gecko Neumcke sucht in den Abfalltonnen der Zukunft nach einem Mörder.

vorbemerkung

ich verwende hier das asa’pili, das in unserem bolo üblich ist und sich noch sehr an der ur-version aus der zeit vor der transformation orientiert. für alle bewohner anderer bolos, die vielleicht ein anderes asa’pili verwenden, habe ich eine übersetzung der wichtigsten wörter aufgetrieben. sie stammt aus der zeit, als das asa’ar­chiv noch wikipedia hieß, und ihr findet sie ganz am ende des buchs.

wanderschuhe

als die oldies mich anpiepsten, dringend-dringend, war ich gerade dabei, die sauna anzuheizen. ein gemütlicher abend wartete auf mich, schwitzend und dampfend unter dem goldenen oktoberhimmel.
wie immer weigerte ich mich, das holo anzumachen, und schnappte mir stattdessen meine neuen wanderschuhe aus dem schuhbolo. warum nicht mal die dinger einlaufen, das hatte ich ja sowieso auf’m zettel gehabt. wenn der oldienotfall wieder nur ein bedienungsfehler der gehhilfenprogrammierung war, hatte mir der wenigstens einen herbstspaziergang aus meinem bolo raus beschert. manchmal nervten sie schon gewaltig, diese alten knorzköppe mit ihren befindlichkeiten und wehwehchen.
ich war noch keine 100 meter auf der straße, da bremste schon eines neben mir.
– na, willste mit? spring auf, muss meinen schnitt halten.
es hatte natürlich sein blödes fitnessomat angeschaltet, und da machte sich die muskelkurve heut abend sicher sorgen über seine kondition. ich war so undankbar, auch noch abzulehnen. sieht der mensch denn nicht, was ich für schuh anhab. muss ich denn wie alle andern trottel auf den wanderwegen laufen, wenn ich zu fuß gehen will? wie hieß dieser song aus dem letzten jahrhundert, these boots are made for walking and thats just what they’ll do … vergiss nicht dein ebike aufzuladen, trottel.
als das nexte anhielt und mir seinen rücksitz anbot, nahm ich an. das war wirklich zu anstrengend, diese hilfsbereiten gesichter abblitzen zu lassen. es schaltete die e-unterstützung einen gang rauf und strampelte los. one of these days these boots are gonna … eine hand kam von vorne auf mich zu und schüttelte meine.
– ist dein ebike leer? unfall? hey, ibu monti übrigens, wo willsten hin?
– precious heiß’ ich. nee, wollte zu fuß gehen. hab mein freies viertel, warum soll ich da nicht mal einfach …
– sag das doch gleich. soll ich dich zu nem wanderweg bringen? gehste zum see runter? biste auf pilzen unterwegs? ach, mal wieder einfach auf fasi gehn, ungebunden und nur die schuhe an den füßen!
– zum see, genau, schmeiß mich doch an der ecke ab.
ich ersparte uns die details darüber, dass ich eigentlich auf dem weg zu den oldies war, aber keine lust hatte, auf jedes piepsen hin angerannt zu kommen. also doch irgendwie reproviertel, was jetzt nicht unbedingt rumschlendern heißt, aber ich hatte keine lust, mich vor einem fremden zu rechtfertigen, es sah eigentlich ganz nett aus. und noch weniger lust hatte ich, mich vor mir selbst zu rechtfertigen. sollen sie mich doch alle in ruhe lassen mit ihren vierteln am tag, in den alten zeiten wär ich einfach müllmensch gewesen und gut, acht stunden keulen, dann feierabend. jetzt war der müll mein notwendiges viertel, und dann kam noch dieser quatsch mit dem repro und der politik und dem freien für mich. danke, santa frigga. keine ahnung, warum ich schon wieder so ne scheißlaune hatte.

track 1

holo startet automatisch. wenn nicht, bitte fehlerprogramm aktivieren oder nextgelegene werkstatt kontaktieren.
blick von oben auf den kulkwitzer see und die angrenzenden bolos. ranzoomen auf das ol­die’gano. quelle: öffentliches material des fudo-archivs, region 7.

das oldie’kana

vor dem flachbau der oldies stand eine krankenschwebe und eins von diesen fernbikes. als krönung kam gerade noch eine dieser leichenliegen an. große party.
emma kam mir an der tür entgegen. zerrupfte frisur, ihre gehhilfe war nicht aktiviert, das sah ich doch auf den ersten blick, aber das war wohl heute ihre kleinste sorge. sie sah aus wie eins aus diesen alten flachfilmen, nur ohne die musik. wer weiß, was sie diesmal für drogen ausprobiert hatte.
– precious, da bist du ja endlich! er ist tot. karl.
– shit. mein beileid. was war es denn? das herz? naja, fast hundert, da ist dann alles auf verschleiß.
mir tat es im selben moment leid. wirklich unglaublich unsensibel von mir mal wieder. sie war nur zwei jahre jünger als karl. warum konnte ich nicht einmal meine klappe halten? ich wollte ihre hand nehmen, schließlich hatte ich auch eine andere, wärmere seite, aber sie reagierte gar nicht. stattdessen starrte sie mich nur groß an.
– er ist nicht einfach so gestorben. eins von den untersuchenden ist schon da. einer hat ihn ermordet.
– wieso kommst du drauf, dass es eins in der männlichen phase war? hat er sich vorgestellt? habt ihr ihn gesehen?
– nein, nein. das ist mir nur so rausgerutscht. bin durcheinander. weißt du, früher war das so, mord, totschlag – das waren männer. ich kann mich da immer noch nicht dran gewöhnen, dass ihr jungen leute das nur noch phasenweise sein wollt, ich war mein leben lang eine frau und werde so sterben.
– kannste ja auch. und karl ist als mann gestorben, schon klar, ich wollte ja nur wissen, ob du schon was weißt, wer es war. was ist überhaupt passiert?
– ich hab auch noch keine ahnung. eric hat ihn gefunden. willst du mit dem untersuchenden zusammenarbeiten? es fragt schon die ganze zeit allen löcher in den bauch, vielleicht kannst du mehr dazu sagen.
– klar, ihr seid doch meine reprogang, da werd ich doch nicht einfach spazierengehn, wenn was passiert.
– reprogang, das hast du nett gesagt. als wir dir angeboten haben, einzuziehen, hast du uns noch tattergreise genannt. gang gefällt mir besser.
sie lächelte, jetzt ließ sie mich auch ihre hand halten. sie zog den rotz hoch und wurschtelte in ihren haaren rum.
–danke, dass du hier bist. jetzt bin ich wieder klarer. er ist wirklich tot. ermordet. er hat ein bündel von diesen vouchers in der hand. komm, sieh selbst.
mir wurde kalt. die vouchers. die conomies. karl hatte also recht gehabt mit seinen warnungen. keines hatte ihn ernst genommen. und jetzt war es zu spät, das hätte ich denen nun wirklich nicht zugetraut. drohungen, schubsereien, ja, aber mord?
ich ging nach hinten durch in den garten, wo er lag, sah einen mensch im grünen anzug neben karl stehen, die andern oldies auf den gartenstühlen verteilt, sah karl auf dem boden liegen neben einer gartenliege, erstaunlich wenig blut, die einstiche in seinem rücken, und dann sah ich nichts mehr und ging raus kotzen. in echt war doch was andres, als in den holos.
als ich wieder hochschaute, sah ich den grünen anzug vor mir. lou lammers stand auf dem schildchen auf der brust, untersuchungen kategorie a bereich 7. oha, das war also ein richtig überregionaler fall. einstelligen untersuchenden war ich noch nie begegnet. aber ich war auch noch nie einem erstochenen begegnet.
– ibu lou. du bist precious? kann ich dich ein paar sachen fragen?
– klar.
es hielt mir ohne mit der wimper zu zucken ein taschentuch hin. ich wischte mir den mund ab und nahm einen schluck wasser, der auch vor meiner nase auftauchte.
– mir wurde gesagt, du machst hier dein reproviertel. was ist das hier für ein kana? die sind alle ein alter? keine anderen generationen?
– das sind die oldies. vielleicht hast du mal von ihnen im newsblog gehört. die alten kämpfer. und kämpferinnen. noch aus der zeit vor der transformation.
– das seh ich, dass die noch aus der alten zeit sind. aber warum wohnen sie hier alle zusammen und nicht sozial integriert im bolo?
lou war offensichtlich von der kurz angebundenen sorte. die kurzen haare, die funkelnden augen und der ganzkörperanzug – plauderstimmung kam da nicht grade auf. ich stützte mich an die hauswand, nippte am glas und versuchte es trotzdem.
– die sind da eigen, die wollen das nicht. die haben von den kämpfen einen knacks mitgenommen, rumpelig, sagen sie immer über sich. am anfang wollten sie immer noch im bolo mitwohnen, aber es hat nicht geklappt. dann sind sie hier raus an den see gezogen, das haus war frei. und barrierefrei. dann haben sie andere gesucht, die mit rausziehen, mir haben sie auch mal angeboten, mit einzuziehen, aber die sind so krass. die machen immer noch plenum statt freebox und so oldschoolsachen, das ist mir zu anstrengend. probezeit haben sie mir angeboten, die spinnen doch.
– eine art sanatorium. und wie versorgen die sich, die können doch kaum noch laufen? außer der einen, rosa, haben doch alle ne gehhilfe?
– golda ist das, die noch ganz gut laufen kann. das essen wird auf dem weg zur sammelstelle im bolo hier abgeliefert, ich komm alle zwei, drei tage rum und koch für die. schlepp irgendwelche möbel von a nach b, wenn sie mal wieder umräumen wollen. ihre gehhilfen neu löten, wenn die programmierung schrott ist, der ganze mist. ist ein großer teil meines reproviertels. die sind schwierig, aber eigentlich ganz in ordnung. haben sich vorgenommen, auf ihre alten tage noch alle drogen auszuprobieren, die sie sich nie getraut haben. voll die klatsche, aber hey, die waren auch bei dem wahnsinn in dessau mit dabei. die letzte schlacht, sagen sie immer. ich muss ja schon kotzen, wenn ich das blut da hinten sehe.
– erzähl mir mehr von diesem, wie hieß er, karl. hatte er feinde?
– klar, viele. das war kein einfacher typ. hat sich immer mit allen angelegt. im letzten jahr mit diesen conomies vor allem. ich dachte immer, der spinnt sich was zurecht, aber jetzt die voucher …
– die voucher gibt es im gesamten siebten bereich. aber die sind doch nur für diese neuen rüben? spielzeugs?
– am anfang waren die nur dafür. aber inzwischen gibts dafür noch einiges mehr von diesem specialfood. die rackern scheints jedes ihrer freiviertel, um das ding am laufen zu halten. reden dauernd von privatinitiative und motivation und so. karl fand das alles ganz gruselig und wollte immer, dass wir was dagegen machen. aber mir war das egal, sollen sie sich doch den rücken krumm machen für ein paar papierzettel, kann doch jedes mit dem freiviertel anfangen, was es will. aber wenn sie ihn jetzt …
– diese conomies, wo finde ich die?
– auf dem hof in 7-d3. von hier aus noch ein stück außerhalb der stadt. conomies nennen sie sich selbst, nach economy, weil sie eigeninitative beim wirtschaften toll finden. die schmeißen in ihrem notwendigen viertel die landwirtschaft, versorgen drei bolos mit gemüse. die äcker sind über der chipfabrik, dadurch sind die gewächshäuser immer schön warm, da bauen sie die fettesten pflanzen an. und eben nen bereich mit ihren spezialrüben. cono-rüben, hab die dinger nie probiert, kein bedarf an glücksvitaminen.
– gut, dann werde ich die besuchen fahren, hier hab ich alles aufgenommen. aber nicht mehr heute, mein viertel ist jetzt vorbei.
– was machst du repro? blutwurst kochen?
– sehr witzig. bist du für das bolo das lokale ansprech für die geschichte, erreiche ich dich über den code hier?
ich war ein bisschen verblüfft, wie es jetzt schon wieder an meinen code gekommen war. die oldies waren doch immer so paranoid mit daten weitergeben. hatte es sich im freien viertel hellsehen beigebracht? egal, ich nickte nur, vielleicht meldete es sich ja mal, wenn es nicht um so unappetitliche sachen ging, jetzt wo es meinen code hatte. eher unwahrscheinlich.
der eklige geschmack im mund würde mir noch den rest des tages erhalten bleiben. ich verabschiedete mich bei den oldies, nur eric winkte zurück, er wirkte gefasster als die anderen, der fels in der brandung. ich funkte eine absage ohne bild an die sauna, da musste heut ein anderes einspringen beim heizen. bei mir ging heute nur noch zu fuß durch die dämmerung wandern und ab in die wanne. dass das ein scheißtag werden würde, hatte ich ja schon von anfang an im gefühl gehabt …

track 2

interaktive straßenkarte see’bolo. mit müllwagenanimation.
quelle: fudo’archiv, öffentliches material. müllwagen private bastelei.

morgendliches müll’sibi

am liebsten mach ich die tour durch den bolo im morgengrauen. noch kaum ein mensch auf den straßen, die ersten lichter gehen an. bisschen nebel. die gingkobäume in langen reihen. eigentlich ein entspannter hopsound dazu, aber heute nicht. amber wollte unbedingt mitkommen, es hatte herbstferien, mir schleierhaft, wieso es nicht die chance zum ausschlafen nutzte. na gut, wir hatten uns darauf geeinigt, dass das hier nicht teil des reproviertels war, sondern mein notwendiges, die fronarbeit, also war ich raus in sachen bespaßungsprogramm. es plapperte natürlich trotzdem die ganze zeit.
– da, preschi, da blinkt eine. fang sie, fang sie, darf ich auch mal die nexte. wow, du hast nichtmal angehalten, darf ich auch mal, bitte.
ich ließ es an den joystick, inzwischen hatte es schon einige übung. dadurch wurden wir langsamer, aber was soll’s. am anfang hatte es noch einige tonnen kaputtgespielt, einmal sogar eine von diesen ebike-hütten, die neuerdings vor jeder tür standen, mit dem greifer aus der verankerung gerupft, aber inzwischen war es eigentlich ganz passabel beim greifen. fahren ließ ich es noch nicht, und wenn ein kinderwagen auf’m gehweg rumstand, ließ ich es auch nicht aus den augen. aber wenn die straßen so menschenleer waren wie im moment, hey, scheiß auf ne kaputte tonne.
– ich hab sie, hast du gesehen, preschi, ohne anecken. meinst du, wenn ich groß bin, darf ich auch den müll fahren? woher weiß die tonne eigentlich, dass sie voll ist, wann sie blinken muss? und was, wenn beide auf einmal voll sind, wo fällt das dann hin?
– die tonne hat einen füllstandanzeiger, wenn die füllung drüber geht, geht die lampe an. ganz einfach. und dann wird der auswurfschlauch auf die andre tonne geschwenkt, und ich bin hoffentlich schnell genug beim leeren der ersten tonne, bevor die zweite voll ist. bei dem großen haus da vorne an der ecke, da war ich mal zu langsam, da ist dann alles auf die straße gerattert, der scheiß. musste ich alles mit kehrschaufel und besen einsammeln. kein spaß, deswegen fahr ich ja auch jeden tag die runde, so schnell wird keine tonne voll. es sei denn, wir übersehen eine, aber das kann dir adlerauge ja nicht passieren.
hinten rumpelte die sortieranlage, fischte das gelbe plastik aus der rotierenden tonne, das metall, und spritzte die kompostenzyme in den rest. amber hatte mal in der schule ein tafelbild gemalt, wie das müllverwertungssystem funktionierte, mit kleinem holo von ihr am joystick, da hatte ich ganz schön ärger bekommen, wie ich ein achtjähriges an die steuerung lassen könne. aber immerhin wusste ich jetzt auch, was da hinten im wagen rumrumpelte, dass die alten plastiksachen, von vor der trafo, die immer noch überall rumflogen, automatisch rausgezogen wurden aus der rotierenden trommel, das metall mit magneten angesaugt wurde, und das restliche zeug inzwischen alles kompostierbar war. das hatten sie mir am anfang bei der müll’pili versucht beizubringen, aber als ich mitkriegte, dass das alles ohne mich lief und ich nur den joystick bedienen musste zum einsammeln, da hatte ich die ohren zugeklappt und angefangen, die fliegen im raum zu zählen.
– luan hat gesagt, der alte karl ist tot. und du wärst dabei gewesen.
jetzt hatte es mich schon wieder auf dem falschen fuß erwischt. ich dachte, das thema könnte mal unter dem gerumpel hinter mir ruhen.
– stimmt, er ist tot. stimmt nicht, dass ich dabei war. ich war später da.
– aber du hast ihn gesehen? wie sieht ein toter aus? luan sagt, die haare wachsen weiter, hat er dann überall haare?
– wo hat luan denn das schon wieder her? karl sah ganz normal aus, wie im schlaf. nur, dass er eben nicht mehr aufwacht.
was nicht stimmte. aber sollte ich etwa von der wunde im rücken erzählen, dass unter der aufgerissenen jacke, der klaffenden haut, etwas weißes zu sehen gewesen war, eine rippe?
– wär zu voll hier, preschi, wenn alle immer wieder kinder kriegen und niemand weggeht, oder?
– na ja, so ist das, wir müssen alle mal sterben. toll find ich das deswegen trotzdem nicht.
– ich fand karl cool. der hat immer mit allen rumgeschimpft, nicht so ein waschlappen wie meine eltern, die mir dauernd mit gewaltfreier kommunion kommen und dann nie da sind. wenn ich groß bin, werd ich ein mann wie karl.
– kommunikation heißt es. egal, kannste ja mal ausprobieren, wie sich das als mann anfühlt. kannst ja auch mal ausprobieren, ob du nicht wie emma sein willst. als frau durchs leben.
– emma ist auch cool. und sie lebt noch, meinst du, ich sollte doch lieber als frau?
– keine ahnung, das ist ja für alle anders. deswegen kannst du das ja ausprobieren. karl und emma sind noch aus der zeit, wo die kinder das schon bei der geburt vorgeschrieben bekommen haben. die konnten sich das nicht aussuchen.
– aber jetzt könnten die oldies doch?
– jetzt wollen sie nicht mehr. nur gustl, kennste das, mit dem grauen lockenkopf? das hat sich entschieden, sich nicht mehr festlegen zu lassen. lacht sich immer über die andern kaputt, in euerm alter, was soll das denn noch. weniger geschlecht, mehr sex, sagt gustl immer.
– hihi. die oldies und sex, hihi. das ist doch schon bei erwachsenen voll eklig, oder?
– ich seh keine tonne mehr, amber, siehst du noch eine?
– hier sind wir vorhin schon langgefahren. preschi, wie machst du das mit dem geschlecht und sex?
– das erzähl ich dir ein andermal. keine zeit mehr. ab mit dem scheiß auf die komposte und feierabend.
– och menno.
auf der deponie war auch kein mensch zu sehen, also ließ ich amber die abkippung machen, das half gegen schlechte laune. metall zur metallschmelze, plaste zur plastepresse und kompost auf die langen dampfenden hügel. dezentrale lagerung in den bolos ist viel effektiver, das versuchte ich ihnen schon seit jahren beizubiegen, aber es war ja immer alles mögliche andre wichtiger bei den dalas. dieses ewige bedürfnissammeln und möglichkeitenabwägen ging mir auf die nerven.
die sonne tauchte auf, blauer himmel, wieder ein schöner tag im anmarsch.
– lässt du mich zurückfahren?
– meinetwegen.
wir parkten das müllauto im unterstand und fuhren gemeinsam auf meinem ebike nach hause. alte tradition. als amber noch heimlich mitkam, hatte es sein ebike daheim gelassen, damit es nicht auffiel, und war auf meinem hintersitz mit. heute wurde ich schon zum zweiten mal durch die gegend kutschiert, volle e-unterstützung, aber trotzdem tüchtig was zu strampeln. irgendwie schien das zur gewohnheit zu werden, dass ich hinten die beine baumeln ließ – wo war sie hin, meine schöne selbstständigkeit, jetzt wurde ich nicht nur in meinem reproviertel zwangsweise sozial integriert mit oldie- und amber-dienst. aber gut, bald waren ja die ferien um, dann hatte ich wieder meine ruhe im morgengrauen am müllgreifer.

track 3

360 grad view in die alte kirche.
erster umlauf: leer, zweiter umlauf: beim dala (gesichter verpixelt), dritter umlauf: abendliche kantine (gesichter verpixelt).
geschwindigkeit der umdrehungen individuell einstellbar.
quelle: see’bolo-archiv.

beim bolo’dala

bei der vormittäglichen bolo’freebox knisterte natürlich die luft. alle hatten schon von karls tod gehört und wollten vor beginn noch schnell die einzelheiten hören. aber die oldies waren wieder nicht da, und ich hatte keine lust, mir diesen geschmack im mund öfter als nötig ins gedächtnis zu rufen. sowas in der art murmelte ich also bei der blitzlichtrunde.
– top1: precious berichtet über den tod von karl von den oldies. bitte.
– also, ich bin gestern abend da hingekommen, da war schon alles vorbei. karl lag mit zwei stichen im rücken im garten. er sah irgendwie ganz glücklich aus, ist wohl völlig überrascht worden. eric hat ihn entdeckt und dann überall rumgefunkt. eins von den überregionalen untersuchenden war da, einstellige nummer, und hat rumgefragt. ob ich das lokale ansprech sein will, die trauen den oldies wohl nicht zu, da objektiv zu berichten. gab ja ewig keinen mord mehr in den bolos hier, die müssen sicher erstmal alles aus der mottenkiste holen, was sie an geräten haben. aber bis morgen früh wollen sie seine leiche untersucht haben, da soll ja die beerdigung sein.
dann ging das dala-bienensummen los, alle wild durcheinander in ecken, wieder zusammen, ein paar holos standen verwirrt in der holoecke, das ging heut alles zu schnell, um auf die entfernung dranzubleiben. zapp, waren wieder alle zusammen, ein paar vorschläge für die runde. und na klar, alle wollten, dass ich mehr rausfinde. ob sie erwartet hatten, dass ich in begeisterung ausbreche?
– hey leute, ich mach ganz gern meinen job als müllmensch und hab eigentlich keine lust, stattdessen detektiv zu spielen. und ob ich da richtig bin, nen messerstech zu suchen, das glaub ich ja nicht.
zartbesaitet wollte ich nicht sagen. kotzen auch nicht. ich hatte ja einen ruf zu verlieren als dicker brocken und lonely witch. die antworten aus dem dala kamen prompt.
– aber du hast doch schon dem untersuchenden zugesagt.
– du hängst da doch eh immer rum.
– das sind doch deine oldies. dein reprobereich. wer sonst aus dem bolo sollte denn?
so leicht wollte ich mich nicht geschlagen geben.
– meint ihr, die brauchen jetzt keine hilfe mehr beim haushalt? nur weil eines von ihnen abgekratzt ist? die reprozeit ist schon dicht. amber habt ihr mir ja auch noch an die backe gebunden. der hausaufgabenquatsch und so. da bleibt nichts mehr übrig.
jetzt waren sie erstmal still. die dachten doch wohl nicht, dass ich in meinem freien viertel? ich machte jedenfalls keinen mucks. die freebox brummte, als ein paar eingaben von außerhalb gevoted wurden. das übliche ritual, aufbrausende ecken, beruhigung, dann kamen sie mit dem vorschlag raus.
– gerüchteweise soll der mord irgendwas mit den conos zu tun zu haben, wenn du statt dem politviertel?
ha, das war ja wohl nicht ernst gemeint. ich hatte noch die stimmen im ohr, selbstverwaltung geht alle an. der anfang von informellen hierarchien und dominanzen. das politviertel ist teil des lebens und der ganze kram. hatte mich schon immer genervt, dieser teil, sollten sie doch ihren mist alleine entscheiden, für mich war alles ok, wenn ich mein müllauto fahren konnte und ansonsten meine ruhe hatte. also hey,
– warum nicht? das ist doch mal ein vorschlag. vier stunden am tag untersuchen statt freebox und räten. ich glaub übrigens nicht, dass die conos was damit zu tun haben. war auch mein erster gedanke, aber das ist ja wohl wirklich zu plump, ihm die voucher in die hand zu drücken und ihn dann abzustechen. wie hieß das früher, mafiamethoden. wahrscheinlich ist das nur unser neid, weil die besser ­rackern können mit ihrem konzept. egal, abgemacht, ich häng mich rein.
– aber das ist eine ausnahme, das ist hoffentlich allen klar, nicht dass das einreißt und wieder wie früher nur die macker in den räten rumcheckern!
– ja, ist ja gut. vielleicht findet sich ja beim nexten mord ein richtiges untersuchendes hier im bolo, ich werd das sicher nicht auf dauer machen. ich mach das nur wegen der oldies.
allgemeines beifälliges raunen. amber zeigte mir den daumen, offensichtlich hatte es die bemerkung mit den hausaufgaben nicht krummgenommen.
der nexte punkt wurde aufgerufen, irgendwas mit diebstahl im bolo, bei den takus waren alle eigen, aber gleich bis zum rat? wieder das durcheinandergerenne und gemurmle, ich klinkte mich aus dem dala aus, winkte in die runde und machte mich auf den weg zu den oldies. wenn es um was wichtiges ging, ein sadi zum beispiel, würd ich es schon auf mein holo kriegen. aber was war schon wichtig beim dala, karl war tot, das war wichtig.

track 4

blick von oben auf den kodu-bereich. felder, gewächshäuser, hallen, der tunneleingang.
zeit der aufnahme: herbst 2062.
quelle: fudo’archiv.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Gecko Neumcke: ein totes im see’bolo. Verlag Das Beben, Berlin 2014, 140 Seiten, 3,49 Euro als E-Book oder Pdf. Der Band ist soeben erschienen.