Kritik an der Aufarbeitung der NSU-Morde

Muttis größte Lüge

Der im Mai 2013 vor dem Münchner Oberlandesgericht eröffnete NSU-Prozess wird voraussichtlich bis 2015 dauern. Die Aufklärung der unzähligen Ermittlungspannen ist im Verfahren kaum von Interesse.

Angela Merkel (CDU) hatte es zugesagt. »Als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland verspreche ich Ihnen: Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen.« In ihrer Rede auf der offi­ziellen Gedenkveranstaltung für die Opfer rechtsextremer Gewalt am 23. Februar 2012 in Berlin betonte sie, dass »alle zuständigen Behörden in Bund und Ländern mit Hochdruck« an der Aufarbeitung der NSU-Morde und -Anschläge mitwirkten.
Zwei Jahre später, beinahe ein Jahr nach dem Prozessauftakt in München, werden die kritischen Stimmen dagegen immer lauter. »Von der Politik ist es verlogen, wenn sie – auch was das Staatsversagen anbelangt – immer auf den Strafprozess verweist. Sie entledigt sich so ihrer Verantwortung und schiebt sie auf das Gericht, das diese Aufgabe gar nicht zu erfüllen vermag«, kritisiert der Nebenklageanwalt Jens Rabe in einem Interview mit dem Weser-Kurier.

Vor allem die schlampige Ermittlungsarbeit der Behörden wird kritisiert. So überprüfte das Bundeskriminalamt (BKA) vor drei Jahren nur vier von elf Schusswaffen aus dem Zwickauer NSU-Versteck auf Fingerabdrücke. Bekannt wurde diese weitere Ermittlungspanne, weil den BKA-Ermittlern »erst jetzt« die entsprechenden Aktenvermerke dazu aufgefallen seien. Als besonders pikantes Detail stellte sich heraus, dass die Untersuchung der Tatwaffen in neun von zehn Mordfällen ebenfalls bis dato nicht stattfand. Die damalige Entscheidung verteidigt das BKA mit dem Verweis auf technische Probleme: »Die sieben anderen Waffen waren auf Grund der Brandeinwirkung für eine entsprechende Untersuchung nicht geeignet, daher konnten keine daktyloskopischen Spuren ge­sichert werden.« Doch nicht wenige Nebenkläger im NSU-Prozess haben Zweifel an dieser Darstellung. Sie fordern, wie Jens Rabe, endlich Aufklärung. »Das Vorgehen der Polizei ist für mich völlig unverständlich«, so der Nebenklageanwalt. Er fühle sich in seiner Auffassung bestärkt, »dass die Arbeit der Ermittlungsbehörden ständig hinterfragt und kontrolliert werden muss«.

Von den anfänglich mehr als 400 Ermittlern, die im Auftrag der Bundesanwaltschaft mit den laufenden Ermittlungsverfahren zum NSU-Komplex befasst waren, sind gerade noch 35 Beamte aktiv. Deren Ermittlungstätigkeiten richten sich gegen neun Beschuldigte aus dem Umfeld von Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe, weil diese unter anderem den untergetauchten Neonazis mit der Bereitstellung von Fahrzeugen, Ausweispapieren oder Krankenkassenkarten geholfen haben sollen. Gegen sie wird ermittelt wegen des Verdachtes der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung.
Eine solche Anklage droht womöglich noch weiteren Personen. So ist zum Beispiel die Herkunft der Waffen sowie des Sprengstoffs noch völlig unbekannt. Bislang konnten die Bundeskriminalbeamten lediglich den Beschaffungsweg der Čes­ká-Pistole nachvollziehen, der Tatwaffe, mit der neun Migranten ermordet wurden. Bleiben noch zehn weitere Schusswaffen aus dem Zwickauer NSU-Versteck. Doch nicht nur die Waffenlieferanten sind im Visier der Fahnder. Schließlich sind noch mehrere Verfahren gegen Unbekannt anhängig, weil die Frage, ob es weitere rechtsterroristische Zellen gab und gibt, die vielleicht mit dem Trio kooperierten, bisher nicht vollständig geklärt ist. Eine Mammutaufgabe, die auf zu wenig Schultern verteilt ist.
Ein weiteres Detail ist den Ermittlern bei den Untersuchungen der finanziellen Situation des NSU-Trios aufgefallen. Bei eingehender Auswertung der Beträge, die durch die bisher bekannten Banküberfälle zur Verfügung standen, zeigte sich, dass die im Untergrund lebenden Neonazis sich nicht allein aus den Überfällen finanzieren konnten. Entweder bekamen die Untergetauchten Geld aus bisher unbekannten Quellen oder es sind noch nicht alle kriminellen Aktivitäten des Trios aufgedeckt worden.
Schon im vorigen Jahr wurde bekannt, dass sich Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe mit dem Verkauf des selbstgebastelten Spiels »Pogromly«, ein Würfelspiel in Anlehnung an das Spielprinzip von Monopoly, Geld dazuverdienen wollten. Eine dauerhafte Finanzierung wäre damit nicht möglich gewesen, aber bei der derzeitigen Zeugenbefragung von Juliane Walther, der ehemaligen Freundin des mutmaßlichen NSU-Unterstützers Ralf Wohlleben, erinnerte sich diese, dass sie 1998 gemeinsam mit dem Trio und Wohlleben das Spiel »Pogromly« gespielt habe. Eine Aussage, die so bisher noch nicht vorlag. Nun steht fest, dass Wohlleben nach dem Abtauchen auch privat noch Kontakt zu seinen ehemaligen Mitstreitern hielt. Ansonsten geht es Walther wie so vielen weiteren Zeugen aus der damaligen Neonaziszene, die sich bei ihren Aussagen gegenüber dem BKA noch erinnerten und nun vor dem Münchner Oberlandesgericht schweigen. Entweder berufen sie sich auf den Paragraphen 55 der Strafprozessordnung (das Recht auf Aussageverweigerung, wenn man sich selbst belasten könnte), oder sie behaupten, sie hätten die Erinnerung verloren. Auch Walther sagte vor Gericht aus, dass sie an diese Zeit wenig bis keine Erinnerung habe. Die damaligen Vorkommnisse lägen weit zurück und sie sei damals jung und naiv gewesen.
Walther war damals derart naiv, dass sie, die nach dem Untertauchen des NSU-Trios mit einer Mülltüte voller Kleidung aus Zschäpes damaliger Wohnung spazierte, kurz darauf Geld vom Verfassungsschutz annahm. Der thüringische Verfassungsschutz führte sie unter dem Decknamen »Jule« und hoffte, über sie an die flüchtigen Neonazis heranzukommen. Geld nahm sie bei den zwei Treffen gerne an, konkrete Ergebnisse lieferte sie aber nie. Für Opferanwalt Rabe ist es »ärgerlich, dass so viele dieser Zeugen unter einer Art Generalamnesie zu leiden scheinen«. Ihm und seiner Mandantin Semiya Şimşek bleibt noch als letzte Hoffnung, »dass Beate Zschäpe ihr Schweigen doch noch brechen wird«.

Selbst wenn die geladenen Zeugen reden, ist mit einer Aufklärung kaum zu rechnen. André Kapke, eine bedeutendes Mitglied der Neonaziszene in Jena, spielt im Zeugenstand das vergessliche Unschuldslamm. »Nun, ich bin wirklich nicht der Sportlichste«, lautete seine dreiste Antwort auf die Frage, ob er an Wehrsportübungen teilgenommen habe. Kapke braucht keine Angst vor einer Strafverfolgung zu haben, seine Hilfe beim Untertauchen des Terrortrios ist längst verjährt. Dementsprechend frech tritt er im Gerichtssaal auf. Auf die Frage des Vorsitzenden Richters Manfred Götzl, an welchen Demonstrationen er teilgenommen habe, antwortete der 38 Jahre alte Neonazi: »Nichts für ungut, aber ich war schon auf so vielen Demonstrationen.«
Dasselbe Schauspiel führt Kapke auf, wenn die Nebenkläger auf Antworten drängen. Ob nun Fragen nach den Namen von rechtsextremen Bands, nach seiner Verbindung zum Netzwerk »Blood & Honour« oder dem Slogan des Thüringer Heimatschutzes: »Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte«, der Jenaer Neonazis möchte sich nicht erinnern. »Nehmen sie es mir nicht übel, aber auf so einen Quatsch habe ich keine Lust«, war seine despektierliche Antwort auf die letztgenannte Frage.
Nicht aufgeklärt vor Gericht wurde der Verdacht, dass Kapke gemeinsam mit Ralf Wohlleben durch die Organisation von Rechtsrockkonzerten insgesamt 4 000 D-Mark für die abgetauchten Kameraden sammelte. Das wäre eindeutig als Unterstützung einer terroristischen Vereinigung auszulegen.

Woher das Geld zur Passbeschaffung für Böhnhardt, Zschäpe und Mundlos stammte, konnten weder die Behörden, noch konnte es das Gerichtsverfahren, aufklären. Bekannt ist nur, dass Kapke »leere Pässe« von einem Kontaktmann des ehemaligen V-Manns Tino Brandt bekam.
Die noch anstehende Befragung des umtriebigen Multifunktionärs in der thüringischen Neonaziszene vor Gericht könnte mehr Aufschluss geben, vor allem, was die möglichen weiteren Geldquellen des NSU betrifft. Nach seinem Outing als Spitzel des thüringischen Verfassungsschutzes bestätigte Brandt, dass er die Gelder des Dienstes für seine politische Tätigkeit außerhalb der NPD, insbesondere für den »Thüringer Heimatschutz«, verwendet habe. Insgesamt soll es sich dabei um 200 000 D-Mark gehandelt haben.