Alain und Dafroza Gauthier im Gespräch über ihre Suche nach den Tätern des Genozids

»Wir kämpfen gegen das Vergessen«

Seit 2001 gibt es den Opferschutzverband Collectif des Parties Civiles pour le Rwanda (CPCR). Nach einem Prozess gegen Verantwortliche für den Völkermord in Ruanda in Belgien entschieden sich Dafroza und Alain Gauthier, in Frankreich lebende Schuldige des Genozids an den Tutsi und gemäßigten Hutu aufzuspüren und anzuklagen. Seither haben sie mehr als 25 Täter ausfindig gemacht und mit ihrer erfolgreichen Zivilklage gegen Pascal Simbikangwa im März 2013 zum ersten Mal ein Urteil in Frankreich erwirken können. Die Jungle World sprach mit dem Ehepaar über die Tätersuche im Ausland, das Zusammenleben von Opfern und Tätern in Ruanda und nie geleistete Reparationszahlungen.

Wie viele Personen, die für den Genozid Verantwortung tragen, leben bis heute unbehelligt in Frankreich und Europa?
Alain: Es ist sehr schwierig, dies in konkreten Zahlen festzuhalten. Was wir wissen, ist, dass unsere Organisation alleine schon 25 Personen ausfindig machen konnte, die wir für mitschuldig halten. Wir wissen zumindest, dass sich diese Personen in Frankreich befinden. Allerdings gehe ich davon aus, dass es noch sehr viel mehr gibt. Es ist fast unmöglich, eine Schätzung über die genaue Anzahl abzugeben.
Dafroza: Ich bin davon überzeugt, dass viele der Verantwortlichen in Europa Zuflucht gesucht haben. Eine große Anzahl davon lebt in Frankreich, da sie hier aufgenommen wurden und niemand daran interessiert war, sie zu verurteilen oder auszuliefern. Das war ein guter Grund für die Täter, sich hier niederzulassen. Es ist vollkommen normal, dass sie hier leben und sich auf die eine oder andere Weise einer Verurteilung entziehen. Ich bin mir aber sicher, dass sich auch in anderen Ländern Europas, auch in Deutschland, Täter versteckt halten. Leider ist mir keine Organisation in Deutschland bekannt, die sich mit diesem Problem beschäftigt.
Weiß die ruandische Regierung von den Tätern, die in Europa leben?
Alain: Von vielen Personen, die hier in Frankreich leben, weiß man auch in Ruanda nichts. Wir als Organisation stehen trotzdem im Kontakt mit den ruandischen Justizbehörden. Unsere Anklagen werden dorthin weitergereicht, so dass man dort im Bilde ist, wie viele Täter in Frankreich auf der Anklagebank sitzen. Allerdings wissen sie ebenso wenig wie wir, wie viele Verdächtige hier Zuflucht gefunden haben.
Wie gestaltet sich die Suche nach den Völkermordverantwortlichen?
Alain: Die ersten Informationen werden häufig durch Mundpropaganda geliefert. Wir erfahren von Nachbarn oder durch Gerüchte, dass sich gewisse Personen hier aufhalten, dass man sie kennt oder gesehen hat. Durch dieses Netzwerk haben wir einige Mittel, uns des Aufenthalts eines Täters in Frankreich gewiss zu sein. Wenn wir sie einmal aufgespürt haben, beginnt die richtige Arbeit. Dann versuchen wir, eine Klage einzureichen. Es wird dann notwendig, nach Ruanda zu reisen, um Zeugenaussagen zu sichern, was viel Arbeit und Zeit erfordert und daher nur langsam voranschreitet.
Dafroza: Ich denke, die Verurteilung der Täter ist wichtig, weil damit erst eine Anerkennung der Opfer stattfindet. Indem wir sie der Gerichtsbarkeit zuführen, kämpfen wir gegen das Vergessen und für die Perspektive der Opfer. Erst wenn der juristische Prozess abgeschlossen ist, ist es für Überlebende und Angehörige der Opfer möglich, ihren Schmerz zu bewältigen.
In Frankreich leben viele Täter unbehelligt, während in Ruanda Opfer und Täter mitunter sogar dieselben Dörfer bewohnen. Wie ist diese Nähe für die Überlebenden zu ertragen?
Alain: In Ruanda betrifft das vor allem ländliche Gebiete. Die Menschen leben einfach weiter dort, wo sie schon vorher gewohnt haben. In der Stadt hat man mehr Möglichkeiten, sich auszubreiten, wegzuziehen. In Dörfern ist das aufgrund der beschränkten Infrastruktur nicht möglich. Wir hatten schon Fälle, in denen Opfer nicht gegen die Täter ausgesagt haben, die ihre Familie ermordet haben, aus dem einfachen Grund, dass diese ihre nächsten Nachbarn und die Einzigen sind, die ihnen bei der Bewirtschaftung ihrer Felder helfen können. Andere haben schlichtweg Angst, ihre Nachbarn zu denunzieren. Die Menschen sind damit verdammt, mit ihren Peinigern zusammenzuleben. Das ist ein wesentliches Merkmal dessen, was man génocide de proximité nennt. Man spricht viel von Hutu-Milizen, die zum Töten von weit weg gekommen sind, doch zum überwiegenden Teil kamen die Täter aus unmittelbarer geographischer und sozialer Nähe: Nachbarn haben ihre Nachbarn getötet, Ehemänner ihre Frauen.
Dafroza: Das ist von außen betrachtet schwer verständlich. Dieses Zusammenleben, täglich den Menschen zu begegnen, die dir und deiner Familie großes Leid zugefügt haben, ist eine schmerzhafte Erfahrung. Ich denke, die Menschen haben eine außergewöhnliche Widerstandsfähigkeit entwickelt, um mit dieser Situation umzugehen.
Durch dieses enge Zusammenleben ist aber eine Geschichtsschreibung aus Perspektive der Opfer und Überlebenden unmöglich. Welche Aussicht gibt es darauf?
Alain: Ich glaube, diese Dinge brauchen Zeit. Po­litisch wird alles darangesetzt, um Aussöhnung voranzutreiben, aber das geschieht nicht von selbst. Der Genozid wurde in so kurzer Zeit vollzogen und hat so viele Opfer gefordert, dass man den Menschen erst einmal Zeit lassen muss, sich mit dem Geschehenen auseinanderzusetzen. Ich denke, es wird mehrere Generationen brauchen, bis eine neue Basis gefunden wird, auf der sich Opfer und Täter begegnen können. Hinzu kommt, dass die Ideologie, die hinter dem Genozid stand, bis heute nicht ganz verschwunden ist. Nach wie vor gibt es Hutu, die, gäbe man ihnen die Mittel, wieder mit dem Morden anfangen würden.
Was muss aus Ihrer Sicht geschehen, damit sich diese Ideologie ändert?
Dafroza: Entscheidend sind hier die Organisationen, die sich dem Kampf gegen den Genozid und der Erinnerungsarbeit verschrieben haben. Diese Arbeit muss weiter gehen. Aufklärung und Bildung sind zentrale Ziele. Wir müssen die jungen Menschen in Ruanda durch politische Bildung dazu erziehen, in Frieden miteinander zu leben. Das Wiederaufkeimen des Hasses kann nur über Bildung umgangen werden.
Wie sieht die Erinnerungsarbeit in Ruanda aus?
Dafrovza: Zunächst gibt es die »Woche des Schmerzes« zum Gedenken der Opfer des Genozids, die jedes Jahr vom 7. bis 14. April begangen wird. Das ist ein wichtiger Teil der Erinnerungsarbeit. Die Organisation »Commission de Lutte contre le Génocide« ist, was Geschichtsaufarbeitung angeht, sehr aktiv, doch es gibt viele kleinere Gruppen und Organisationen, die sich ebenfalls damit beschäftigen. Diese »Wächter der Erinnerung« werden ihre Arbeit noch lange weiterführen.
Der Genozid hat für viele Überlebende auch schwere materielle Schäden mit sich gebracht. Täter, die vor den lokalen Gacaca-Gerichten verurteilt wurden, haben aufgrund ihrer eigenen Armut oft keine Reparationszahlungen geleistet. Was muss hier in den nächsten Jahren geschehen, damit die Geschädigten zu ihrem Recht kommen?
Alain: Ich kann hier das Beispiel der Familie meiner Frau anführen. Das Haus und Grundstück meiner Schwiegermutter im Süden Ruandas wurden vollkommen zerstört. Heute steht dort nichts mehr. Niemals hat es eine finanzielle Entschädigung für die Familie gegeben. Manchmal wurden die Täter dazu verpflichtet, Häuser wieder aufzubauen und Felder wieder herzustellen. Doch das Problem ungeleisteter Reparationszahlungen bleibt bestehen und wird in der Öffentlichkeit wenig thematisiert. Ich denke, hierfür kann nur mit internationaler Hilfe eine Lösung gefunden werden. Die ruandischen Behörden haben nicht die Mittel, Reparationszahlungen für alle Geschädigten durchzusetzen. Der Internationale Gerichtshof für Ruanda, der die Hauptverantwort­lichen des Genozids anklagt und verurteilt, muss ebenfall dafür Sorge tragen, dass ein System für gerechte Reparationszahlungen in Kraft tritt.