Der Tarifabschluss im öffentlichen Dienst

Win-Win, mehr war nicht drin

Im Tarifkonflikt des öffentlichen Dienstes gab es eine schnelle Einigung, die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi sammelt Sympathiepunkte.

Das bundesdeutsche Wirtschaftsleben ist doch recht gemütlich und vorhersehbar, zumindest wenn es um Arbeitskämpfe geht. Trotz umfassender und langer Kämpfe, etwa im Einzelhandel und in der Metallindustrie, wurde 2013 mit 551 000 ausgefallenen Arbeitstagen sogar noch weniger gestreikt als im Jahr zuvor. Entsprechend dürftig sieht die Streikbilanz im interna­tionalen Vergleich aus. Dessen ungeachtet landet bei jedem Pilotenstreik das Thema Tarifeinheit – also: die Einschränkung des Streikrechts – wieder in den Zeitungsspalten. Eine beliebte Schlagzeile dazu lautet: »Die Macht der Zwerge«.

Im öffentlichen Dienst demonstrierte Verdi nun die Macht der Riesen und begleitete die Tarifverhandlungen mit großen Warnstreiks. Mitte März begannen die Verhandlungen, Anfang ­April wurde bereits eine Einigung erzielt. Das sollte keineswegs gering geschätzt werden. In linken Kreisen mag man längere Streiks lieber, ermöglichen diese angeblich doch die Entwicklung von »Bewusstsein«. In Gewerkschaftskreisen hingegen ist klar, dass lange Streiks auch ein Zeichen der Schwäche sind – am besten kurz, knackig und erfolgreich.
Genau das machte Verdi nun vor, wobei die Frage nach dem Erfolg dieses Vorgehens freilich Ansichtssache bleibt: In einer klar erkennbaren Eskalationsstrategie brachte die Gewerkschaft nicht nur ritualisierte Demonstrationen zustande. In der ersten Woche sollen sich gut 100 000 Beschäftigte, in der zweiten bereits 200 000 beteiligt haben – so hat man, wie Beamtenvertreter Willi Russ resümierte, »den nötigen Einigungsdruck aufgebaut«. Beteiligt waren nicht nur die üblichen Verdächtigen aus Nahverkehr, Krankenhäusern und der Müllabfuhr, sondern etwa auch Mitarbeiter öffentlicher Flughafenbetreiber, die Fluggesellschaft Lufthansa spricht von »Millionenschäden«. Einige Kollegen streiken wohl zum ersten Mal, und nicht wenige auch ohne Gewerkschaftsbuch – der Unmut ist offensichtlich. Und dazu ist eine Gewerkschaft da: die Arbeitgeber unter Druck zu setzen und die Kollegen zu ermutigen. Dies gelang sicherlich dadurch, dass von Anfang an auch ökonomische Schlüsselbereiche wie die Flughäfen miteinbezogen wurden. Wenn die Schifffahrtsverwaltung des Bundes hinzugekommen wäre, die bereits im Sommer 2013 ihre Streikfähigkeit demonstriert hatte, wäre die Wirkung noch eindrucksvoller gewesen. Zum Arsenal gewerkschaftlicher Kämpfe gehört auch die Plakatkampagne »Wir sind die Guten«, die in ihrer Pop-Ästhetik recht gelungen scheint.

Öffentlicher Dienst, die streiken schon wieder? Ja und nein. Im vorigen Jahr hatten die Beschäftigten der Länder zu kämpfen, 2004 hatten die Länder die Tarifgemeinschaft verlassen. Nun ging es um rund 2,1 Millionen Beschäftigte von Bund und Kommunen. Auf Gewerkschaftsseite waren neben Verdi auch andere DGB-Verbände, die Bildungsgewerkschaft GEW und die Polizeigewerkschaft GdP sowie der DBB Beamtenbund und Ta­rifunion vertreten. Zu den allgemeinen Forderungen gehörten eine Sockelerhöhung um 100 Euro als »soziale Komponente«, eine Lohnerhöhung um 3,5 Prozent auf ein Jahr Laufzeit und eine Anhebung des Urlaubsanspruchs auf sechs Wochen. Daneben gab es Teilbereichsforderungen für den Nahverkehr und die Krankenhäuser sowie Forderungen mit Blick auf Übergangs-, Übernahme- und Befristungsregelungen. Das alles sollte »zeit- und inhaltsgleich auf die Beamtinnen und Beamten übertragen werden«, deren Streikrecht ja immer noch umstritten ist.
Insbesondere die Forderung nach einer Sockelerhöhung um 100 Euro, die nicht nur Geringverdienenden, sondern auch Auszubildenden zugute kommen sollte, dürfte der Gewerkschaft linke Sympathien einbringen. Denn es ist eine egalitäre Forderung, sie nützt vor allem den Niedriglohngruppen, schließlich profitieren von prozentualen Erhöhungen Besserverdienende mehr als andere Beschäftigte: Fünf Prozent sind bei einem monatlichen Bruttoverdienst von 1 500 Euro nun mal 75 Euro, bei 4 000 Euro aber 200 Euro mehr im Monat. »Wer weniger hat, bekommt mehr«, heißt es dazu beim Bundesvorstand. Schon 1969 und 1970 verbreiteten sich Festgeldforderungen in wilden Streiks international. Dementsprechend umstritten war das Thema vor genau 40 Jahren bei der ÖTV, der Vorgängerin von Verdi: Prozent- und Sockelforderung oder Festgeldforderung – der Apparat entschied sich für die Kombilösung und setzte sich gegen aktive Teile der Basis durch.

Letztlich scheinen alle froh, dass es bei Warnstreiks geblieben ist und am 1. April in Potsdam eine Einigung erzielt wurde. Deutlich abgerückt ist die Gewerkschaft von der Forderung nach 100 Euro Sockelerhöhung und 3,5 Prozent Lohnerhöhung. Arbeitgeber und Gewerkschaften ­verständigten sich auf eine Steigerung der Bezüge um drei Prozent, mindestens aber 90 Euro. Auszubildende erhalten in zwei Stufen insgesamt 60 Euro mehr. Die zweite Stufe der Lohnerhöhung kommt im März 2015 mit 2,4 Prozent. Das ergibt insgesamt 5,4 Prozent, die Laufzeit beträgt zwei Jahre. Der Abschluss ist damit durchschnittlich ausgefallen. Vor einem Jahr gab es bei den Ländern und in der Metallindustrie ein ähnliches Ergebnis, jüngst auch in der Chemie­branche. Auch hinter den Tarifabschluss von 2012 fällt der neue Abschluss wohl kaum zurück: Jener hatte zwar 2012 deutlich höher gelegen, das jedoch war auf einen Nachholeffekt der Tarifrunde im Krisenjahr 2010 zurückzuführen.
Daneben konnten sich die Gewerkschaften lediglich in Sachen Urlaub durchsetzen. »Gespräche« über eine Regulierung von Leiharbeit im Staatsdienst wurden vereinbart und die Bewertung der »Entwicklung befristeter Beschäftigungsverhältnisse im öffentlichen Dienst«, die laut Onno Dannenberg, Bereichsleiter bei Verdi für Tarifpolitik im öffentlichen Dienst, »rund 70 Prozent aller Neueinstellungen« betreffen, soll Experten überlassen werden. Trotz grundsätzlicher Kritik und trotz des Bedauerns darüber, dass am Ende immer weniger durchgesetzt werden kann als anfangs erhofft, weist die Kombilösung mit dem 90-Euro-Sozialsockel doch in die rich­tige Richtung. Für bestimmte Beschäftigtengruppen sind das »teils über sieben Prozent mehr Lohn«, heißt es bei Verdi. Dieser Mindestbetrag habe auch eine »erhebliche Genderdimension«, sagte Ilona Ziesche-Grosse, Mitglied der Tarifkommission, denn viele Frauen im öffentlichen Dienst fänden sich in der unteren Hälfte der Entgelttabellen wieder. Die zuständige Tarifkommission empfiehlt die Annahme des Ergebnisses, bis Ende April können die betroffenen Mitglieder abstimmen – allerdings hat diese Befragung keinen bindenden Charakter und eine Ablehnung ist erfahrungsgemäß auch nicht zu erwarten.
Dass Verdi sozialpartnerschaftliche Traditionen nicht vollends über Bord wirft, wird man der Gewerkschaft kaum ernstlich vorhalten können. Eine Wende hin zu einem kämpferischeren Verhalten ist jedoch unverkennbar. Mit Blick etwa auf die Verweigerungshaltung des Handelskonzerns Amazon scheint dies nur konsequent. Es ist jedoch auch ein Ergebnis politischer Debatten in der Gewerkschaft, die etwa zur Ablehnung der sogenannten Tarifeinheit führte (Jungle World 49/2013). Bei Verdi scheint man begriffen zu haben: Wer sich als Gewerkschaft ernst nimmt, wenn man sich schon gegen Alternativgewerkschaften wendet, dann nicht per Gesetz, sondern durch schlichte Interessenvertretung. Und das bedeutet wenn nicht kämpferisches Vorgehen, so doch zumindest kämpferisches Auftreten. Man darf gespannt sein auf die beiden tariflichen Großkonflikte, die 2014 noch anstehen: bei den Banken und in der Baubranche.