Albanischer Nationalismus und Proteste im Kosovo

Konsequent nationalistisch

Bei den Parlamentswahlen im Juni im Kosovo könnte die Oppositionspartei ­Vetëvendosje Erfolg haben, deren Jugend­organisation sich an den jüngsten Stu­dierendenprotesten beteiligt hat. Doch sie vertritt einen großalbanischen Nationa­lismus.

Im jungen Staat Kosovo bereiten sich die fünf großen Parteien auf die Parlamentswahl im Juni vor – die zweite seit der Erklärung der Unabhängigkeit von Serbien 2008. Konflikte im Land werden bis heute anhand ethnischer Zuschreibungen ausgetragen: Nationalistische Albaner verachten die serbische Minderheit, die wiederum kämpft im Norden Kosovos für den Anschluss an Serbien, alle zusammen diskriminieren die Minderheit der Roma. Auch bei der Oppositionspartei Vetëvendosje (Selbstbestimmung) sucht man vergeblich nach einer Alternative zum Chauvinismus.
Ein Hoffnungsschimmer bei der Suche nach emanzipatorischen Positionen waren die Studierendenproteste Anfang 2014. Studierende und Dozierende der Universität Priština demonstrierten tagelang, besetzten Ende Januar das Universitätsgebäude und lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei. Sie forderten die Demokratisierung der universitären Gremien, die Achtung der gesetzlich garantierten Autonomie der Hochschulen und vor allem den Rücktritt des Rektors Ibrahim Gashi. Sie warfen ihm vor, sich seine akademische Reputation erschlichen und seinen Posten nur wegen seiner politischen Beziehungen erhalten zu haben: Der Politikwissenschaftler war bis 2012 Mitglied des Parlamentarischen Ausschusses für Außenpolitik und hatte drei der fünf für eine Professorenstelle an der Universität Priština notwendigen Artikel in einer dubiosen Zeitschrift der indischen Plattform »Society for Sciene and Nature« veröffentlicht – statt in einem wissenschaftlichen Fachmagazin. Der öffentliche Druck auf ihn stieg, als die Studierenden landesweit zu einer Großdemonstration in Priština aufriefen. In der Regierung wuchs die Sorge vor einer möglichen Koalition verschiedener Protestbewegungen und einem »kosovarischen Frühling« . Gashi trat schließlich am 8. Februar auf Druck des Ministerpräsidenten Hashim Thaçi und seiner Regierungspartei Partia Demokratike e Kosovës (PDK) zurück.

Ein solches Aufbegehren hat es im Kosovo bislang nicht gegeben. »In diesen Protesten scheinen die Ansätze einer ehrlich demokratischen Kultur auf«, kommentiert der Presseoffizier des deutschen Kfor-Kontingents, Gerd Broich, die Studierendenproteste. »Auch der Rektor musste feststellen, dass er von der herrschenden Klasse nicht mehr geschützt wird«, so Broich. Bis heute sind im Rahmen des Kfor-Einsatzes knapp 700 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr im Kosovo stationiert. Auftrag der Kfor ist, die öffentliche Sicherheit zu garantieren, wenn die lokale Polizei und die europäische Rechtsstaatlichkeitsmission Eulex versagen.
Bislang sieht man die Lage im deutschen Feldlager in Prizren noch gelassen und ist bemüht, nicht den Anschein von Beschäftigungslosigkeit zu erwecken. Man konzentriere sich auf die Bereitschaft für den Ernstfall, die Aufrechterhaltung der Infrastruktur und ein gutes Verhältnis zur lokalen Bevölkerung, berichtete der Stabschef bei einem Besuch im Februar in Prizren. Zwiespältig ist das Bild des »interkulturellen Einsatzberaters« von der gesellschaftspolitischen Situation im Kosovo: Die Arbeitslosigkeit sei mit über 40 Prozent (und über 60 Prozent unter den bis 25jährigen) die höchste in ganz Europa, die Bevölkerung überdurchschnittlich jung und gut gebildet, die politische Führung überdurchschnittlich korrupt und primär an der Privatisierung des Landes ­interessiert, ein Sozialsystem existiert nicht. Kosovo sei einer der europäischen Hauptumschlagplätze für Organ- und Drogenhandel, Geldwäsche ein wichtiger Geschäftszweig und Ministerprä­sident Hashim Thaçi, ehemals Kommandeur der UÇK, wird unter anderem in einem Bericht der EU-Kommission vorgeworfen, an diesen Geschäften beteiligt zu sein. Auch die Lage der Minderheit der Roma beurteilt die Bundeswehr entsprechend schlecht und möchte doch nicht von systematischer Diskriminierung sprechen – vielleicht mit Rücksicht auf die deutsche Abschiebepraxis. Die von den Soldaten beschriebenen Zustände sind allerdings weit entfernt von dem, was als demokratischer Rechtsstaat verstanden wird. Das erklärt womöglich, warum die Studentenproteste von der Bundeswehr eher positiv beurteilt werden.

An der Universität Priština protestierte ein heterogener Zusammenschluss aus unabhängigen Studierenden und verschiedenen parteigebundenen Jugendorganisationen. Neben dem marxistischen Klubi Politik i Studenteve (KPS) spielte die Studierendenorganisation Studim Kritikë Veprim (SKV) als Jugendorganisation der Oppositionspartei Vetëvendosje die größte Rolle, ihre Mitglieder besetzten wichtige organisatorische Posten und basisdemokratische Gruppen wurden zugunsten der jungen Parteikader zurückgedrängt.
Vetëvendosje wurde 2010 als Partei gegründet und stellt mit Shpend Ahmeti derzeit den Bürgermeister von Priština. 2010 konnte die Partei bei den Parlamentswahlen knapp 16 Prozent der Stimmen gewinnen, aktuelle Umfragen sehen sie bei 20 Prozent. Das Wählerpotential der Partei, die häufig nur »die Bewegung« genannt wird, ist groß: Kosovo ist der Staat mit der durchschnittlich jüngsten Bevölkerung in Europa – jener Wählergruppe, bei der Vetëvendosje populär ist. In urbanen Gebieten wie Prizren und Priština, in denen die meisten der jungen Menschen leben, erreichte sie bei den Kommunalwahlen 2013 Wahlergebnisse zwischen 40 und 50 Prozent. Unter den durchweg konservativen Parteien ist sie die einzige ernsthafte Opposition: Die Partei verurteilt die Korruption im Land, streitet für die Rechte von Arbeitnehmerinnen und -nehmern und kritisiert vehement die Privatisierungen. Und sie vertritt einen großalbanischen und damit antiserbischen Nationalismus.
Die serbische Minderheit im Norden genieße »zu viele Privilegien« und blockiere »die politische und wirtschaftliche Entwicklung des Kosovo«, sagt Kushtrin Abdinetaj, studentischer Aktivist und Mitglied von Vetëvendosje. Wegen solcher Positionen beurteilt Eli Gashi die Rolle von Vetëvendosje als zwiespältig. Sie ist Sozialwissenschaftlerin, Mitglied des feministischen Kollektivs Alter Habitus und war auch an den Studierendenprotesten beteiligt. »Einerseits hat die Partei vielen unterstützenswerten Initiativen zu einer wesentlich breiteren öffentlichen Wahrnehmung verholfen«, sagt Gashi. Als im Dezember 2012 rechte Hooligans und Neonazis eine Party von LGBT-Aktivistinnen und -Aktivisten angriffen, habe Vetëvendosje diese öffentlich hart verurteilt und sich mit den Betroffenen solidarisiert. Andererseits versuche Vetëvendosje, jede aufkommende linke Bewegung in die Partei zu integrieren, so Gashi. »Das schränkt die Dynamik linker Initiativen immer wieder ein.«
Sehr deutlich aber ist ihre Einschätzung, wenn es um das Verhältnis von Vetëvendosje gegenüber ethnischen Minderheiten geht. »Ganz oben auf deren Agenda steht die albanische Nation«, sagt Gashi. »Alles, was darin keinen Platz hat, wird prinzipiell erst einmal als Problem betrachtet.« Der Nationalismus von Vetëvendosje sei mit Blick auf die jüngere Geschichte der ehemaligen jugoslawischen Republiken sehr bedenklich. Derzeit diene vor allem die serbische Minderheit als Feindbild. Aber Gashi befürchtet: »Wenn die Vetëvendosje irgendwann die Wahlen gewinnen sollte, sieht es für alle Minderheiten im Kosovo düster aus.«