Die Abstimmung über Netzneutralität im EU-Parlament

Europa netzneutral

Nach der Abstimmung im Europäischen Parlament herrscht unter Netzaktivisten große Erleichterung. Die verabschiedeten Änderungen der Telekommunikationsverordnung sind allerdings nur ein erster Schritt im Prozess der gesetzlichen Festschreibung der Netzneutralität auf EU-Ebene.

Nach einer ersten Entscheidung im Europäischen Parlament müssen die Internet-Anbieter innerhalb der EU künftig alle Daten gleich behandeln: Bei der Abstimmung über die Schaffung eines »europäischen Binnenmarkts der elektronischen Kommunikation« setzten sich vergangene Woche die Befürworter der Netzneutralität in wesentlichen Punkten durch. Die Fraktionen der Sozialdemokraten, der Liberalen, Grünen und Linken konnten Änderungen am Entwurf der EU-Kommissarin für die Digitale Agenda, der liberalen Neelie Kroes, erzwingen, und dadurch Internet-Anbietern die bevorzugte Behandlung bestimmter Dienste und Server untersagen.
Die Netzneutralität ist ein Prinzip, das Anbieter verpflichtet, jedes Datenpaket nach best effort (»bestem Bemühen«) an ihre Kunden auszuliefern, ohne nach Inhalt oder Ursprung zu unterscheiden. Manche Internet-Anbieter würden aber reine Inhaltsanbieter (content provider) wie ­Google gerne dafür zur Kasse bitten, dass etwa die Daten von Youtube schneller zum User gelangen. Das hieße auch, dass Youtube-Konkurrenten ebenfalls zahlen müssten, wenn sie nicht durch längere Übertragungszeiten und Videos schlechter Qualität an Attraktivität verlieren wollten. Vor allem kleinere Konkurrenten mit begrenztem Kapital könnten dann nicht mehr mithalten.
In Deutschland drohte die Telekom vergangenes Jahr, ab 2016 ihre Flatrate-Tarife mit einer Volumengrenze zu beschränken: Schleust der Kunde zu viele Daten durch seine DSL-Leitung, so das Prinzip, wird die Übertragungsgeschwindigkeit gedrosselt. Die Nutzung datenintensiver Dienste, etwa Video-Streams oder Echtzeitanwendungen wie Internet-Telefonie, wäre damit unmöglich. Das käme einer Aufhebung der Netzneutralität und der Entstehung eines geteilten Netzes gleich, in dem die Daten bestimmter Dienste – nämlich die des zur Telekom gehörenden Unterhaltungsprogramms oder auch die von zahlenden Drittanbietern – weiterhin mit vollem Tempo fließen, während beim Zugriff auf das restliche Internet Datenstau herrschen würde.
Smartphone-Nutzer kennen das Prinzip bereits. Mobile Internet-Tarife unterliegen einer ähnlichen Volumenbegrenzung, nach deren Überschreitung der Anbieter die Transfergeschwindigkeit erheblich einschränkt. Auch hier können Anbieter eigene Dienste freischalten, damit sie trotzdem nutzbar bleiben. Zudem unterbinden manche Provider die Verwendung von Diensten wie Skype, die gebührenpflichtige Handy-Telefonate ersetzen könnten.

Die nun im EU-Parlament beschlossenen Vorschriften erlauben die Bevorzugung sogenannter spezialisierter Dienste nur auf separater Infrastruktur und wenn Verfügbarkeit und Qualität der Internet-Verbindung davon nicht beeinträchtigt sind. Auch die Blockade bestimmter Server wird grundsätzlich verboten; nur bei strafrechtlich relevanten Inhalten können beziehungsweise müssen Internet-Anbieter Netzblockaden einrichten.
Bislang regeln die meisten EU-Staaten die Rechte und Pflichten der Internet-Anbieter nur punktuell. In den Niederlanden und Slowenien ist die Netzneutralität gesetzlich festgeschrieben, in Deutschland dagegen nicht. Chile war im Jahr 2010 das erste Land weltweit, das ein Gesetz zum Schutz der Netzneutralität verabschiedete.
In den USA wehren sich Internet-Anbieter bislang erfolgreich gegen die gesetzliche Regelung der Netzneutralität. Neben Youtube steht vor allem Netflix im Visier der Provider, ein Streaming-Dienst, der seinen Kunden die Filme und Serien der großen Fernsehsender anbietet. 2012 beschuldigte Netflix den US-Internet-Anbieter Comcast, dass dieser im Widerspruch zum Neutralitätsprinzip Netflix-Videos ausbremse, um Kunden zum eigenen Videodienst zu locken.
Die Federal Communications Commission (FCC), die US-Bundesbehörde für Kommunikation, wollte bereits 2010 Internet-Anbieter zur Netzneutralität verpflichten, allerdings erklärte ein US-Gericht die FCC für nicht zuständig. Auch ihr daraufhin neu entworfener Regelsatz für ein offenes Internet wurde im Januar dieses Jahres für zumindest teilweise ungültig erklärt. Die USA bleiben damit weit von einer klaren Regelung entfernt, auch wenn sich Präsident Barack Obama zur Netzneutralität bekannt hat. Netflix hat mit Comcast inzwischen vereinbart, dass der Streaming-Dienst für die schnelle Übertragung seiner Inhalte an Comcast-Kunden bezahlt. Das zeigt, dass mit Netflix mindestens einer der größten Inhaltsanbieter nicht mit einem neutralen Netz plant.
Die vom Europäischen Parlament verabschiedeten Gesetzesänderungen gehen als nächstes in den EU-Rat, also an die Vertreter der Mitgliedsländer. Sie können Änderungsanträge einbringen, über die wiederum das Parlament in zweiter Lesung abstimmen muss. Ob und in welchem Umfang die zuständigen Minister dies beabsichtigen, ist derzeit nicht abzusehen. Wahrscheinlich werden sie abwarten, ob die Europawahlen im Mai die Mehrheitsverhältnisse im EU-Parlament verändern. Dann könnten die mehrheitlich konservativen Gegner der Netzneutralität vielleicht nachverhandeln, obwohl schließlich auch ihre Abgeordneten den nun verabschiedeten Entwurf mitgetragen haben. In der EU-Kommission hofft man, dass der gesamte Prozess bis Ende dieses Jahres abgeschlossen ist.

Netzaktivisten feiern den Parlamentsbeschluss als ersten Schritt zur Verankerung der Netzneu­tralität auf europäischer Ebene. Die Online-Petition »Save the Internet« hatte 175 000 Unterschriften für ihr Ziel gesammelt und EU-Abgeordnete mit groß angelegten Telefon-, Fax- und E-Mail-Aktionen bombardiert. »La Quadrature du Net«, ein französischer Interessenverband für ein freies Internet, sieht im Abstimmungsergebnis eine direkte Folge der »sehr starken Bürger­mobilisierung«.
Es handelt sich jedoch um einen Kompromiss, der mit der ausdrücklichen Erlaubnis spezialisierter Dienste den Telekommunikationsanbietern entgegenkommt. Zwar hätte die ursprüng­liche Fassung des EU-Ausschusses für Industrie, Forschung und Energie ihnen mehr Spielraum gelassen, aber auch die verabschiedete Variante »lasse offen, welche Anwendungen und Inhalte überhaupt als Spezialdienst angeboten werden dürfen«, warnt der Verein »Digitale Gesellschaft«, der es weiterhin für möglich hält, »Online-Dienste wie etwa Plattformen für Video- und Musik-Streaming aus dem offenen Internet auszugliedern und auf kostenpflichtige Spezialdienste auszulagern.«
Bürgerrechtler, die Zensur und die Zerstückelung des Internet befürchten, finden sich im Kampf für die Netzneutralität an der Seite großer Internet-Konzerne wie Google und Facebook wieder. Letztere profitieren von der offenen Netzstruktur, die ihre Inhalte global ausliefert. Die Internet-Provider argumentieren dagegen mit dem Verursacherprinzip. Der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Telekom, René Obermann, etwa warf Youtube eine »Freifahrermentalität« vor: Wenn sie ihre Videos zum Kunden bringen wollen, sollen sie dafür auch bezahlen. Das tun sie allerdings bereits, wenn sie ihre eigenen Server ans Netz anbinden, während die Kunden ihre DSL-Anschlussgebühr entrichten, um die Daten zu empfangen.