Die Netzpolitik der Bundesregierung

Politiker von Neuland

Eine Netzpolitik wäre notwendig, doch beim Großteil der Regierenden in Deutschland herrscht digitale Ahnungslosigkeit.

Als die Piratenpartei noch glaubte, einmal im Bundestag und vielleicht sogar in der Regierungzu landen, gehörte ein Internetministerium zu dem, was sie unbedingt durchsetzen wollte. Einfach wäre dies sicher nicht geworden, denn fast alle Ministerien hätten dafür Befugnisse abgeben müssen. Aber auch außerhalb der Piratenpartei gab es Überlegungen, ein solches Ressort zu schaffen, vor den letzten Koalitionsverhandlungen hegte die SPD noch zaghafte Hoffnungen, den ersten Internetminister der Republik zu stellen. In der Bundesregierung haben gleich mehrere Ministerien ein Interesse daran, die Internetpolitik zu bestimmen, und so konnte man sich bei der Regierungsbildung nicht auf einen zentralen Ansprechpartner einigen. Zwar wird Alexander Dobrindt, Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur, gerne als »Internetminister« bezeichnet, seine Behörde ist aber lediglich für den Netzausbau zuständig. Die Bundesnetzagentur dagegen untersteht dem Wirtschaftsministe­rium. Sie ist das, was vom Bundesministerium für Post und Telekommunikation nach der Privatisierung von Post und Telekom übriggeblieben ist, und ist als Regulierungsbehörde für die Aufrechterhaltung und Förderung des Wettbewerbs in sogenannten Netzmärkten zuständig – und das schließt den Wettbewerb auf der letzten Meile bei den Internetanschlüssen durch die Festlegung der Durchleitungsgebühren mit ein. Zusätzlich vertritt das Wirtschaftsministerium die wirtschaftlichen Interessen der Internetindustrie. Das Innenministerium hat Interessen im Rahmen der inneren Sicherheit und der Kriminalitätsbekämpfung, während das Justizministerium sich um die Gerichtsbarkeit des digitalen Raums kümmert. Dann gibt es noch das Kanzleramtsminis­terium, dem der Bundesnachrichtendienst untersteht, dessen Interesse am Internet keiner weiteren Erklärung bedürfen sollte.
Ein Schwerpunkt der Politik ist der Netzausbau, mit gutem Grund. Würde man ihn allein dem freien Markt überlassen, käme man niemals auf eine nennenswerte Flächenabdeckung, denn der Netzausbau ist an sich nur in den Ballungszentren rentabel. In Gegenden mit nur wenigen Haushalten kämen über die monatlichen Gebühren einfach nicht genügend Einnahmen zustande, um die Kosten für Kabelverlegung und Verteiler abzudecken.

Wie wichtig die Unterstützung der Politik beim Netzausbau ist, zeigte sich 2011. Im Zuge der damals bevorstehenden Novelle des Telekommu­nikationsgesetzes (TKG) wollte der Gesetzgeber die Anbieter verpflichten, überall schnelles Internet anzubieten. Die Verbände und Lobbyisten der Telekommunikationsunternehmen wehrten sich mit Erfolg dagegen. Ihr die Politik überzeugendes Argument formulierten sie in einem Brandbrief: Wenn man auf Grundlage der Bandbreite eine Mindestversorgung festlege, würden »rein definitorisch fast 50 Prozent der Bürger und weite Teile Deutschlands als unterversorgt gelten«. Der entsprechende Abschnitt flog aus dem Gesetzesentwurf, die verfügbare Bandbreite in vielen Teilen Deutschlands schwächelt weiterhin.
Damit die in diesen Gegenden lebenden Menschen nicht digital abgehängt werden, muss die Politik einschreiten und zwar schnell, denn schon jetzt hinkt Deutschland in Sachen Netzausbau anderen europäischen Ländern weit hinterher. Zwar veröffentlichte der Branchenverband Bitkom im Januar 2014 eine Statistik, nach der 85 Prozent der Haushalte in Deutschland einen Breitbandanschluss besitzen, doch diese Statistik erfasst lediglich die Verbreitung von Breitbandtechnologien wie DSL, ADSL, VDSL, Kabel, Satellit, UMTS und LTE, ohne die verfügbaren Geschwindigkeiten zu berücksichtigen. Die Statistik zählt also nicht mehr zeitgemäße Anschlüsse mit, so erreichen knapp zehn Prozent der Breitbandanschlüsse in Deutschland keine sechs Megabit pro Sekunde – und selbst diese Geschwindigkeit ist antiquiert. Wer ein Video in HD streamen will, sollte mindestens einen Anschluss mit 16 MBit/besitzen.
Für mehr Bandbreite braucht man aber ein ganz neues Netz – aus den alten Telefondrähten aus Kupfer lässt sich einfach nicht mehr Leistung herausholen. Als 1983 die damalige Bundespost ihr Telefonnetz erneuerte und unter Minister Christian Schwarz-Schilling (CDU) dabei auf Kupferkabel statt Glasfaser setzte, berichtete der Spiegel: »Schwarz-Schillings riskante Entscheidung, die Postmilliarden jetzt noch in Kupfernetze zu stecken, stieß sogar im fernen Japan auf Verwunderung.« Die damalige Fehlentscheidung wirkt noch heute nach: Eine 2014 vom »Fibre to the Home Council Europe« veröffentlichte Statistik listete 23 europäische Länder auf, in denen Glasfaserkabel mehr als ein Prozent der Haushalte erreichen – Deutschland ist nicht dabei, die Liste führt Litauen an. Neben IT-affinen Staaten wie Finnland, Schweden und Norwegen werden auch die Ukraine, Rumänien, Ungarn und die Türkei genannt.
In anderen Ländern ist der Breitband-Ausbau nämlich durchaus ein wichtiges politisches Thema. Frankreich hat in diesem Jahr 20 Milliarden Euro in die Glasfaserverkabelung investiert. Der Staat zahlt nur die Hälfte davon: In den am dichtesten bevölkerten Gebieten sollen die Telefongesellschaften ein Drittel der Summe aufbringen, in den Gebieten mit mittlerer Bevölkerungsdichte sollen sich die Gesellschaften die Kosten mit den Kommunen teilen und auf dem Land übernehmen Staat und Kommunen die Kosten komplett.
In Indien war Breitband sogar ein Thema im Wahlkampf. Die BJP legte Anfang April in ihrem »Election manifesto« einen Mehrpunkteplan vor: »Digital India« verspricht Breitbandanschlüsse in jedem Dorf, digitalisierte Lehrbücher für Schüler und Studenten und E-Learning an allen Bildungseinrichtungen. Dazu soll »Telemedizin«, also Sprechstunden via Internet, flächendeckend angeboten werden. Außerdem ist die Digitalisierung aller Archive und Ausstellungstücke aller Museen Indiens geplant, damit jeder Bürger darauf zugreifen kann. Dass die hindu-nationalistische BJP tatsächlich digitale Teilhabe und Chancengleichheit anstrebt, darf bezweifelt werden. Doch wollen sich die Nationalreligiösen als modern präsentieren, und sie haben dafür wohl nicht zufällig ein Thema gewählt, das in der indischen Gesellschaft auf großes Interesse stößt.
In Deutschland macht das Internet in der Bildungspolitik dagegen nur Schlagzeilen, wenn Lehrern verboten wird, mit ihren Schülern bei Facebook befreundet zu sein.
Für den Netzausbau ist die Beteiligung der Politik unverzichtbar, wie das Beispiel Frankreich zeigt. Und es wäre für Opfer diverser Straftaten von Bedrohung über Identitätsdiebstahl bis Kreditkartenbetrug wichtig, wenn eine Verfolgung der Täter auch im Internet möglich wäre. Wer im Online-Handel Rechtssicherheit haben will, braucht Gesetze, die diese Sicherheit herstellen. Und wer gerne ein ausfallsicheres Stromnetz hat, wird auch nichts dagegen haben, wenn sich die eigene Regierung um die Abwehr von Angriffen im Cyberwar kümmert. Das Problem aber ist, dass für all diese zweifelsfrei wichtigen Aufgaben der Politik oft das Fachwissen fehlt. Es regiert oftmals gefährliches Halbwissen – mit der Folge, dass Lobbyisten und Branchenverbände leichtes Spiel haben. Vor 15 Jahren war es noch lustig, wenn Harald Schmidt mit seiner Unwissenheit über das Internet angab und schon mit dem ­gespielt unsicheren Vorlesen der Internet-Adresse seiner Show für Lacher sorgte. Dass Politiker heute noch in der Öffentlichkeit damit kokettieren, keine Ahnung von IT zu haben, ist dagegen keineswegs witzig, denn sie würden sich ja auch nicht trauen, zuzugeben, von einer der anderen großen Wirtschaftsbranchen keine Ahnung zu haben. Doch selbst wenn sie als Internetnutzer halbwegs ohne Probleme unterwegs sind und es wie »Internetminister« Dobrindt schaffen, Sta­tements zu twittern (oder twittern zu lassen), reicht die Kompetenz doch noch lange nicht, um die Funktionsweisen und Hintergründe zu begreifen. Die Enquete-Kommission »Internet und digitale Gesellschaft« des Bundestages, die 2013 nach drei Jahren ihre Arbeit beendete, bestand zwar aus 17 Abgeordneten, aber nur die FDP schaffte es, mit Sebastian Blumenthal (IT-Berater), Manuel Höferlin (geschäftsführender Gesellschafter einer IT-Beraterfirma) und Jimmy Schulz (ebenfalls im Beratungs-Business und stolzer ­Inhaber des Titels »Erster Bundestagsabgeordneter, der seine Rede vom iPad ablas«) überhaupt Fraktionsmitglieder zu finden, die einen IT-Bezug aufweisen konnten.