Der geplante Mindestlohn

Weniger als das Mindeste

Die Bundesregierung hat die Einführung eines Mindestlohns beschlossen. Doch längst nicht alle Beschäftigten sollen ihn erhalten.

Wie jede Nacht ab drei Uhr dreißig wartet ein kleines Grüppchen vor dem Einkaufszentrum in Köln-Zollstock auf den weißen Lieferwagen. »Mist, die kommen schon wieder zu spät«, sagt ein Mann in roter Jacke. Die sechs Leute hier haben weder Einfluss auf den Zeitpunkt der Anlieferung der Zeitungen noch auf die Zahl der Exemplare, die sie verteilen. Spätestens um sechs Uhr dreißig müssen die Zeitungen bei den Kunden sein – von montags bis samstags, egal ob es regnet, stürmt, schneit oder ein Hund den Zusteller anfällt. Der Mann mit der roten Jacke muss nach dem Austragen seine Tochter für die Schule fertig machen, dann beginnt sein Job als Getränkelieferant.
Manche hier sind Rentner mit zwei oder drei Zustellbezirken, andere haben mehr Bezirke und leben vom Austragen der Zeitungen. Sie werden nach der Anzahl der zugestellten Zeitungen bezahlt, also pro Stück. Etwa zwei Euro im Monat bekommen sie so je Abonnent einer überregionalen Zeitung, etwas mehr bei Abonnenten der beiden Regionalblätter. Wer einen Bezirk mit vielen dicht beieinander wohnenden Abonnenten hat, kommt auf einen besseren Stundenlohn als jemand, dessen Kunden weit auseinander wohnen. Viele Zusteller kommen nicht auf einen Stundenlohn von 8,50 Euro, Tendenz fallend, denn die Zahl der Zeitungsabonnements geht immer weiter zurück.

Die bundesweit etwa 300 000 Zeitungszusteller gehören zu der Gruppe, für die der geplante gesetzliche Mindestlohn von 8,50 Euro in der Stunde nicht gelten soll – jedenfalls wenn es nach dem Willen der Verleger geht. Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi versucht, mit einer Kampagne und einer Online-Petition an Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) zu verhindern, dass die Zusteller vom Mindestlohn ausgenommen werden. Das dürfte schwierig werden. Nur in wenigen Zustellungsfirmen gibt es Betriebsräte, die sich und den Interessen der Beschäftigten relativ gefahrlos Gehör verschaffen können. Die Zeitungsverleger dagegen haben einen guten Draht zur Regierung und – selbstverständlich – zur Öffentlichkeit. Sie haben den bislang bizarrsten Einwand gegen die Lohnuntergrenze vorgebracht: Der Mindestlohn gefährde die Pressefreiheit. Werde er eingeführt, könnten gerade in ländlichen Gegenden die Zeitungen aus Kostengründen nicht mehr zugestellt werden.
Völlig abwegig findet das die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. Denn wer dieses Argument gelten lassen will, der muss auch die Erhöhung der Papierpreise oder der Energiekosten als Gefahr für die Pressefreiheit bezeichnen. Immerhin: Bei der Opposition finden die Zusteller Gehör. Die Linkspartei plädiert für deren Mindestlohn, die Grünen ebenfalls. »Da ich selbst meine erste Wohnung durch das Austragen von Zeitungen finanziert habe, kann ich aus persönlicher Erfahrung sagen, dass es nicht zu viel verlangt ist, dafür 8,50 Euro pro Stunde zu bezahlen«, sagte Tabea Rößner, die medienpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion der Grünen. Der Mindestlohn ist eines der wichtigsten Vorhaben der Sozialdemokraten in der Großen Koalition. Die Lohnuntergrenze von 8,50 Euro gehörte im Bundestagswahlkampf zu ihren wichtigsten Forderungen. Der Parteivorsitzende Sigmar Gabriel machte von der Einführung des Mindestlohns das Zustandekommen der Koalition abhängig. Dabei reicht der vorgesehene Mindestlohn nicht aus, um eine auskömmliche Rente zu erarbeiten. Deshalb ist zum Beispiel die Linkspartei für einen Mindestlohn von zehn Euro. Eine Lohnuntergrenze von 8,50 Euro wäre aber immerhin ein erster Schritt. In Deutschland arbeiten 5,3 Millionen Menschen für weniger Geld. »Wir geben der Arbeit ihren Wert zurück«, behauptete Bundesarbeitsministerin Nahles bei der Vorstellung ihres Entwurfs zum Mindestlohn.

Das soll aber längst nicht für jede Arbeit gelten. Zum 1. Januar 2015 soll zwar ein gesetzlicher Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro eingeführt werden. Langzeitarbeitslosen, also Menschen, die mehr als ein Jahr ohne Job sind, sollen Arbeitgeber jedoch im ersten Halbjahr nach Beginn einer Beschäftigung weniger zahlen dürfen. Der Mindestlohn soll außerdem nicht gelten für Jugendliche unter 18 Jahren, ehrenamtlich Tätige und Praktika, die unter sechs Wochen dauern oder verpflichtend sind. Ausnahmen soll es darüber hinaus nicht nur für Zeitungszusteller, sondern auch für Saisonarbeitskräfte und Taxifahrer geben. In Branchen, in denen Tarifverträge einen geringeren Mindestlohn vorsehen, dürfen die Arbeitgeber übergangsweise weniger zahlen. »Beim Nahles-Mindestlohn wird die Ausnahme die Regel«, kommentierte die Vorsitzende der Linkspartei, Katja Kipping, den Entwurf.
Nach Berechnungen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung droht jeder Dritte im Niedriglohnsektor Beschäftigte unter eine der Ausnahmen zu fallen. Die Empörung über die Sonderregelungen für Arbeitslose, die länger als ein Jahr erwerbslos sind, ist bei Gewerkschaften und Sozialverbänden groß. »Langzeitarbeitslose für sechs Monate vom Mindestlohn auszunehmen, ist zutiefst diskriminierend«, meinte etwa der designierte DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann. »Das muss im laufenden Gesetzgebungsverfahren dringend nachgebessert werden.« Die Ausnahme für Langzeitarbeitslose sei »eine Schwachstelle in einer an sich sehr vernünftigen Entscheidung«, kritisierte der Verdi-Vorsitzende Frank Bsirske. Es gebe keinen sachlichen Grund für die Ausnahme, sagte der Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, Ulrich Schneider. Das von Nahles vorgebrachte Argument, Erwerbslose hätten dank der Ausnahme bessere Chancen auf eine Einstellung, sei zynisch. Die vorgesehene Regelung führe »die Idee des Mindestlohns als einheitliche Lohnuntergrenze für jede Form der Erwerbstätigkeit in Deutschland ad absurdum«. Die Folge sei eine »Zwei-Klassen-Arbeitsmarktpolitik«. Schneider warnt vor Missbrauch der Ausnahmeregelung durch Arbeitgeber, die immer wieder neue Langzeiterwerbslose zum »Discount-Tarif« einstellen könnten.
Groß ist die Aufregung aber auch bei den Gegnern des Mindestlohns. Arbeitgeberfreundliche Ökonomen haben sich in gewohnt alarmistischer Manier geäußert. Der Mindestlohn koste bis zu 900 000 Arbeitsplätze, behauptete Hans-Werner Sinn vom Ifo-Institut. Axel Börsch-Supan vom Max-Planck-Institut für Sozialpolitik sagte: »Der Mindestlohn wird bei der Jugendarbeitslosigkeit voll durchschlagen. Dort werden die Zahlen signifikant ansteigen. Der Mindestlohn darf erst ab 25 Jahren gelten.« Das wünschen sich auch Lobbyorganisationen wie der Deutsche Industrie- und Handwerkskammertag (DIHK). »Wir müssen doch gemeinsam verhindern, dass Jugendliche statt einer Ausbildung mit Perspektive einen kurzfristig besser dotierten Mindestlohnjob annehmen«, sagte der DIHK-Präsident Eric Schweitzer. Doch wenn es Jugendlichen nur ums Geld ginge, würden sie bereits ausweichen. Die durchschnittliche Ausbildungsvergütung liegt nach Angaben des Bundesinstituts für Berufliche Bildung bei 761 Eu­ro im Monat – das macht einen Stundenlohn von 4,63 Euro. Wer die Ausbildung aufgeben will, um mehr zu verdienen, kann das auch heute schon tun. Das Vorbild für den Mindestlohn ab 25 Jahren ist ausgerechnet Griechenland – ein Land mit einer Jugendarbeitslosigkeit von über 50 Prozent.

In 21 von 28 europäischen Ländern gibt es einen gesetzlichen Mindestlohn, zwölf davon kennen keine Ausnahmen bei der Lohnuntergrenze. »Der größte Teil der EU-Länder sieht damit deutlich weniger Ausnahmen vor, als von Arbeitgebervertretern und einigen konservativen Politikern in Deutschland gefordert wird«, sagt der WSI-Forscher Thorsten Schulten. In den Ländern, die mit Deutschland vergleichbar sind, liegt der Mindestlohn über 8,50 Euro pro Stunde: in Luxemburg bei 11,10 Euro, in Frankreich bei 9,53 Euro und in den Niederlanden bei 9,11 Euro. Mancherorts ist der Mindestlohn grotesk niedrig, etwa in Griechenland mit 3,35 Euro, in Tschechien mit 1,94 Euro und in Bulgarien mit 1,04 Euro. In den Niederlanden gilt der Mindestlohn erst ab 23 Jahren. Die Unternehmen wissen das zu nutzen. Das zeigen die sogenannten Verdrängungseffekte. Die Billigstkräfte ersetzen die mit dem Mindestlohn bezahlten Arbeiter. In niederländischen Supermärkten ist mittlerweile mehr als jeder zweite Beschäftigte jünger als 23 Jahre.