Feminismus, Kapitalismus und Identität

Wir und die anderen

Ist der Feminismus, wie TOP Berlin nahelegt, »kaum noch geeignet, eine radikale Kritik der Verhältnisse voranzubringen«, wenn etwa die Bild-Zeitung 100 Frauen* einlädt, über Sexismus am Arbeitsplatz zu sprechen? Und gilt das gleiche für den Antikapitalismus, wenn sich auch Heiner Geißler ihm irgendwie sozialmarktwirtschaftlich anschließt? Ist Antikapitalismus überhaupt geeignet, eine radikale Kritik an den heterosexistischen Verhältnissen voranzubringen?

Für die traditionelle sozialistische Linke, die optimistisch den Fortschritt der Geschichte auf ihrer Seite wähnte, waren Wahrheit und Mehrheit verschränkt. Eine richtige Position, darauf ließ sich vertrauen, würde von den Massen angenommen werden. Und eine Position, die sich nicht hatte durchsetzen können, musste wohl irgendwie falsch gewesen sein. Seit den faschistischen und nazistischen Massenbewegungen wollte diese These vor allem in Deutschland und Österreich nicht mehr so recht überzeugen. Aber erst die Linke nach 1968 und mehr noch nach 1989 gewöhnte sich an, ihren fortgesetzten Niedergang in den Rastern des Differenzkapitalismus – Konsumtion und Distinktion – zu interpretieren und Radikalität mit Marginalität zu identifizieren. Tendenziell kann so jede Majorisierung minoritärer Politik als Ausverkauf beklagt und jede durchgesetzte Forderung unter Integrationsverdacht gestellt werden. Das ist Politik nach dem Modell des Hipsters. Die abschätzige Formel »Da gehen jetzt ja alle hin« lässt sich auf den Club ebenso anwenden wie auf die Demo.
Vor zehn Jahren schrieb die linksradikale Splittergruppe Sinistra ihre Texte im universellen ­Femininum und stieß damit auch bei Jungle World-Redakteurinnen auf Unverständnis. Heute verkündet bereits die Staatsuniversität Leipzig, dass sich von der weiblichen Form alle Geschlechter gemeint fühlen dürfen. Ist das F-Wort deswegen »so 2013«? Aber wenn auch in der CDU für die Frauenquote gestritten wird, dann bedeutet das nicht in erster Linie, dass sich der Feminismus angepasst hat, sondern dass er erfolgreich war. Das heißt zunächst, dass er in anderen Ländern, etwa den USA, erfolgreich war. Erfolgreich genug zumindest, um auch die deutsche Politik dazu zu bringen, nachholend zu modernisieren. Denn aus eigener Kraft war der westdeutsche Mittelschichtfeminismus trotz marxistischer Theorie in den siebziger Jahren vor allem auf kulturellem Gebiet (Sprechen, Pinkeln, Flirten) einflussreich, nicht auf dem ökonomischen. Mit einer US-amerikanischen »Butlerisierung« der deutschen feministischen Theorie hat das recht wenig zu tun. Das geschlechtliche Lohngefälle hierzulande ist schon viel länger eines der größten der Welt, es gibt in Deutschland weniger weibliche Führungskräfte als in den Arabischen Emiraten. Deswegen ist es auch kein Zufall, dass die erste Kanzlerin aus der DDR stammt. Nur der Ostfeminismus war in der Lage, eine Angela Merkel hervorzubringen.

Brechen und Biegen
Der relative Erfolg feministischer Kämpfe ist einer der für Linke so seltenen Anlässe zu berechtigter Freude. Er entbindet aber zugleich nicht davon, die vielen verschiedenen Feminismen immer wieder auf ihre emanzipatorischen Potentiale zu befragen. Dies kann immanent geschehen, etwa wenn gefragt wird, ob eine bestimmte Kritik des Patriarchats nicht zugleich die dieses bedingende Zweigeschlechtlichkeit theoretisch reproduziert – eine Frage, die TOP Berlin im Anschluss an Judith Butler formuliert (12/2014). Dies kann aber auch historisch-materialistisch geschehen, wenn untersucht wird, inwiefern queerfeministische Forderungen im Laufe langjähriger Auseinandersetzungen, Niederlagen und Teilerfolge kooptiert und rekuperiert werden, inwiefern sie also umgebogen, entwendet, ab­geschwächt oder – wie die Gruppe Kitchen Politics (14/2014) es nennt – eingehegt wurden. Ähnlich hat Nancy Fraser neulich im Guardian die bereits einige Jahre alte These wiederholt, dass die Zweite Frauenbewegung, die angetreten war, das Private zu politisieren und die auf Geschlechterdifferenz basierende Ungleichheit herauszufordern, in Teilen mit postfordistischen Verhältnissen kompatibel gemacht werden konnte. Die Aufmerksamkeit für Kultur, Habitus und Selbstverhältnisse ließ sich so verbinden mit der Anrufung eines aus der Fürsorge des Staates entlassenen flexiblen Subjektes, Emanzipation als in­dividuelles Erfolgsprojekt der Selbst­optimierung zu betreiben: Eine emanzipierte Frau* schafft es schon in Führungspositionen. Die feministische Kritik an männlichem Versorgergehalt und fordistischer Verwaltung von Reproduktion seitens des sozialdemokratischen Nachkriegsstaates ließ sich somit auch als Affirmation flexibilisierter und prekarisierter Arbeitsverhältnisse deuten. Eine teilweise Emanzipation für einen Teil der für Emanzipation Kämpfenden.
Der entscheidende Mechanismus, durch den sich diese Spaltung vollzog, war jener der Indi­vidualisierung. Durch ihn können soziale Kämpfe in der Form identitärer Projekte wiederkehren. Gesellschaftliche Beziehungen werden so entnannt zugunsten von Eigentumsbestimmungen und endlosen Abgrenzungen. Dieser Prozess von Fremd- und Selbstidentifizierung ist untrennbar mit den kapitalistischen Verhältnissen verbunden, in welchen rassistische und heteronormative Spaltungsregime die Reproduktion von Arbeitskraft und Vererbung von Eigentum reglementieren und Subjekten Plätze der Zugehörigkeit und Teilhabe zuweisen.
Der Prozess ist aber nicht beschränkt auf diejenigen, an deren Beispiel er am häufigsten beschrieben und kritisiert wird – nämlich bei den anderen. Gerade auch Linksradikale* betreiben unter differenzkapitalistischen Bedingungen Politik häufig in Form von Identität, die durch Dress­codes, Jargon und Kanon verteidigt wird. Wie sonst könnten die kommunistischen Intellektuellen von TOP den Marxismus als »eigenen Sumpf« bezeichnen, nicht aber den Feminismus? Dass die kommunistische Linke aufs Universelle spezialisiert ist, hindert sie nämlich nicht daran, aus sehr partikularen Positionen heraus zu schreiben. Links ist eine relationale Position, die räumlich bestimmt wird. Als solche stammt sie aus der Sitzordnung des französischen Parlaments und diese bürgerliche Herkunft haftet ihr als transhistorische immer noch an: Links ist da, wo die anderen rechts sind. Das war so auch im Real­sozialismus, wo es Links- und Ultralinksabweichungen gab und das blieb bei gleichbleibender Bestimmung auch im Kommunismus so. Kommunismus? »Ach, da gehen jetzt doch alle hin.«

Sicherheitspolitik
Aber es ergibt wenig Sinn, die Kritik der Identitätskritik um eine weitere Wendung zu bereichern: selber, ätsch. Aussichtsreicher ist es, nach den Bedingungen zu fragen, aus denen das Bedürfnis nach Identität erwächst. Unserer Meinung nach hat Hannah Wettig (13/2014) hierfür zu Recht die allgemeine Verunsicherung des Kapitalismus namhaft gemacht. Diese kapitalistische Verun­sicherung ist jedoch keineswegs auf die Krise beschränkt. Denn im Rahmen der Wertvergesellschaftung lässt sich immer nur nachträglich angeben, ob es für bereits geleistete Arbeit eine monetäre Nachfrage gegeben haben wird. So lange die ökonomische Reproduktion über den Wert organisiert wird, bleibt darum die Zugehörigkeit zu dieser Gesellschaft immer prekär. Deswegen – weil nicht der Gebrauchswert, sondern der Tauschwert sozial relevant ist – bedeutet die Zunahme des materiellen Reichtums übrigens auch nicht, dass Stress und Angst abnehmen würden. Zwar haben wir größere Fernseher als unsere Großeltern, aber der Leistungs- und Erfolgsdruck ist mitgewachsen – und zwar, aufgrund des niedrigen Niveaus der Klassenkämpfe, sogar in disproportionaler Weise.
Unter diesen Bedingungen liegt es nahe, den Mangel an sozialer Sicherheit durch symbolische Zugehörigkeit zu kompensieren und etwas Stabilität in Linksradikalität oder Männlichkeit zu finden. Deswegen finden wir es umso erstaunlicher, dass Hannah Wettig, nachdem sie die allgemeine kapitalistische Verunsicherung als Grundlage eines sexistischen Bedürfnisses benannt hat, nicht diese Verhältnisse in den Blick nehmen will, sondern lediglich auf deren kulturell-ideologische Interpretation. Aber radikale Ideologie- wie auch Identitäts- oder Staatskritik bleiben hier in ihrer Fixierung auf Negation – Aufklären, Angreifen, Abschaffen – ähnlich hilflos. Es wäre ein großer Fehler, den eminent linken Begriff der Sicherheit der Rechten zu überlassen, die ihn statt als sozialen als polizeilichen thematisiert. Die Care-Debatte, die das Verhältnis von Geschlecht und Ökonomie anhand der Frage sozialer Sorge diskutiert, verdeutlicht das. Diesbezüglich schließen wir uns Kitchen Politics an: Die queerfeministische Linke wird vermutlich nur dann Aussicht auf Erfolg haben, wenn sie sich mehr an jenen Prozessen gesellschaftlicher Transformation beteiligt, in denen soziale Beziehungen jenseits von Familie, Markt und Staat konstruiert werden. Konkret sehen wir diese gerade dort entstehen, wo die klassischen Institutionen keine Sicherheit mehr bieten können – wie im Griechenland der Krise.
Die Auflösung überkommener Strukturen und Abläufe des Alltags hat Platz gemacht für den Aufschwung selbstorganisierter Solidaritäts-, Produktions- und Vertriebsnetzwerke, die eine Kultur des Gemeinsamen und damit neue Verhältnisse herstellen. In der Konstruktionen und Verteidigung solcher solidarischer Beziehungsweisen sehen wir die Möglichkeit, der individualisierenden Subjektivierung zu begegnen, ohne dem Staatssubjekt anheimzufallen. Was wir im Anschluss an die globalen Bewegungen anstreben, sind auf Commons basierende Beziehungen, die soziale, gesundheitliche, affektive und ökonomische Sicherheit erkämpfen und zur Verfügung stellen. Als queerkommunistische müssen diese Beziehungen hierfür selbstverständlich über die Grenzen von Produktions- und Reproduktionssphäre hinweg geknüpft werden. Denn auch unsere Leben enden nicht an diesen Grenzen.

* Die Sternchen im Text kennzeichnen, dass es sich um Identitäten handelt, die unklare Ränder haben, nicht natürlich und nicht mit sich selbst identisch sind.