Syrien im vierten Kriegsjahr

Assads Milizen

Im syrischen Bürgerkrieg stützt sich das Assad-Regime immer mehr auf paramilitärische Milizen, die zum Teil vom Iran ausgebildet werden.

Für die Aufständischen in Syrien war es nach herben Rückschlägen ein symbolträchtiger Erfolg: Ihre überraschende Offensive in das Stammland der Assads, die Provinz Lattakia im Norden Syriens, brachte sie zum ersten Mal bis zur Küste des Mittelmeers. Ein Teil der Rebellengruppen benannte die Offensive blumig-traditionell nach den »Müttern der Märtyrer« – einen anderen Namen suchte sich die an dem Vorstoß beteiligte jihadistische al-Nusra-Front aus: »Anfal«. Das ist gewissermaßen auch sehr traditionell, Anfal bezieht sich auf eine Koransure und bedeutet Beute. So nannte Sadddam Hussein seine Vernichtungsfeldzüge gegen die Kurden Ende der achtziger Jahre. Dass die Namenswahl der Jihadisten die in Lattakia ansässigen Alawiten und Christen darin bestärken wird, ebenfalls auf ein Ende des Assad-Regimes zu hoffen, ist kaum zu erwarten.
Im Gegensatz zu einem ähnlichen Vorstoß in die alawitischen Berge im Sommer vergangenen Jahres, als Islamisten beschuldigt wurden, Dutzende Zivilisten umgebracht zu haben, scheint es diesmal zu keinen Übergriffen gekommen zu sein. Allerdings war die Bevölkerung vorher geflohen, wenn auch die Aufständischen nun peinlich bemüht waren, in der von Armeniern bewohnten Stadt Kasab die christlichen Kirchen vor ihren übereifrigen salafistischen Mitkämpfern zu schützen. Ein heruntergerissenes Kreuz wurde gleich wieder anmontiert und ein paar zurückgebliebene Alte vor laufenden Handykameras sorgsam über die Grenze in die Türkei eskortiert. Der Propagandaapparat des Regimes lief ebenfalls an, weltweit unterstützt von der besorgten armenischen Diaspora.
Zu Beginn der Offensive im Norden wurde ein Cousin Assads, Hilal al-Assad, getötet, der für die Verteidigung der für Assad zentralen Region zuständig war. Hilal al-Assad fungierte als Befehlshaber der Milizen, auf die sich das Regime stützt. Das großflächige Ausfransen des staatlichen Militärapparates in paramilitärische Organisationen hat System. Die schiitischen und alawitischen Milizen, die von Iranern nach dem Vorbild der Basiji und Pasdaran – der iranischen »Revolutionswächter« – ausgebildet werden, bedeuten bereits eine Investition in eine Zukunft nach Assad. Mit ihrer Hilfe dürfte sich auch nach einem Abgang des Diktators und dem möglichen Zerfall der syrischen Armee ein langer Bürgerkrieg betreiben lassen.
Die militärische Auseinandersetzung ist über die Köpfe der syrischen Bevölkerung hinweg längst internationalisiert worden. In Syrien kämpfen russisch sprechende tschetschenische Gotteskrieger auf der einen Seite und irakische und afghanische Freiwillige, die die Ankunft des Mahdi erwarten, auf der anderen. Sogar Gangmitglieder aus L.A. toben sich mittlerweile auf Seiten des Regimes aus.

Syrien steht vor dem vierten Kriegsjahr. Bashar al-Assad hat seit Sommer 2013 mit massiver Hilfe Russlands, des Iran und nicht zuletzt durch das direkte militärische Eingreifen der Hizbollah, die zur syrischen Kriegspartei geworden ist, seine Stellung wieder etwas gefestigt. Dabei ist das syrische Regime jedoch weit davon entfernt, den Krieg zu gewinnen, wie es westliche Medien anhand eilfertig übernommener Propagandameldungen immer wieder darstellen. Seine Ressourcen an Menschen, Material und Geld lassen das gar nicht zu. Dementsprechend ist die Strategie des Regimes darauf ausgerichtet, ein einigermaßen zusammenhängendes Herrschaftsgebiet zwischen Damaskus, der Küste und der Grenze zum Libanon mit den Hauptverkehrsstraßen zu konsolidieren. Hinzu kommt die Hälfte des Stadtgebiets von Aleppo.

Über das Land sind mehrere Hauptfronten verteilt, an denen jeweils entweder das Regime oder die Rebellen in der Offensive sind. Im Südwesten um die Stadt Dara’a und nahe der Grenze zum Golan und damit zu Israel sind die Rebellen im Vorteil, im Grenzgebiet zum Libanon hat dagegen das Regime mit Hilfe der Hizbollah eine erfolgreiche Offensive begonnen. Auch die Kreuzritterburg Krak des Chevaliers, zum Weltkulturerbe gehörig, wurde von den Regierungstruppen zurückerobert. Die von den Rebellen gehaltenen Vororte von Damaskus werden von der Regierung belagert und regelrecht ausgehungert. Hier fanden auch die Giftgasangriffe im vergangenen Jahr statt. In der zentralsyrischen Stadt Homs halten die Aufständischen weiterhin die Altstadt. In Aleppo geht es hin und her; im Winter war das Regime mit der erfolgreichen Wiedereröffnung des Flughafens in der Offensive, mittlerweile scheint sich die Dynamik wieder umgekehrt zu haben. Möglicherweise steht dort mit dem Hauptquartier des Luftwaffengeheimdienstes eine der wichtigen militärischen Bastionen des Regimes vor dem Fall.
In Aleppo wurde gerade der Chef der Hizbollah-Fernmeldetruppe erschossen. Für ihre militärischen Erfolge gegen die Aufständischen etwa in den Kalamun-Bergen nahe der libanesischen Grenze zahlt die Hizbollah einen hohen Preis. Seit Neuestem haben Fanseiten der Organisation offenbar auf Weisung das Posten von Kampfvideos und Märtyrerhuldigungen eingestellt. Beobachter waren auf die Idee gekommen, die im Netz betrauerten Märtyrer zu zählen. Die Verluste der Hizbollah in Syrien dürften mittlerweile zwischen 500 und 1 000 Kämpfern betragen.
Ein anderer Konfliktherd ist im Osten Syriens entstanden. Hier herrschen über weite, meist wenig bevölkerte Landstriche die Hardcore-Islamisten vom Islamischen Staat im Irak und in Syrien (ISIS) und versuchen, den Bewohnern der Provinzhautstadt Raqa die Gesetze der Sharia aufzuzwingen. Nachdem ISIS in heftigen Kämpfen von den anderen Aufständischen aus einem Teil Nordsyriens verdrängt worden ist, fungiert die ehemalige al-Qaida-Organisation de facto als ein Verbündeter des Regimes. Zurzeit führt sie hauptsächlich gegen andere Aufständische Krieg und bindet dadurch Kräfte. Oppositionelle weisen seit längerem darauf hin, dass die markanten Basen der ISIS im Gegensatz zu den getarnten Stützpunkten anderer Aufständischer von der syrischen Luftwaffe nicht angegriffen werden. Mit ihrer ideologischen Schwesterorganisation al-Nusra-Front, die sich neuerdings etwas moderater gibt, ist sie tödlich verfeindet.
Ein Angriff von ISIS auf die von al-Nusra und anderen Rebellengruppen kontrollierte Stadt Abu Kamal konnte Mitte April abgewehrt werden. Der Kampf soll über 100 Tote hinterlassen haben, ISIS schreckt nach wiederkehrenden Berichten auch nicht mehr vor der Massenexekution konkurrierender Islamisten zurück. Kämpfe wie in Abu Kamal entstehen aus einem kaum mehr zu entwirrenden Geflecht aus miteinander verfeindeten wie verbündeten islamistischen Rebellengruppen, bei denen sich die Interessen lokaler Großfamilien, die kriminellen Geschäfte von Warlords und die Paradiessehnsucht von Jihadisten aus dem Ausland miteinander verquicken.

Die Uno scheint aufgegeben zu haben. Nicht, dass irgendeine der Aktionen ihres Sonderbotschafters Lakhdar Brahimi jemals die Aussicht hatte, von Erfolg gekrönt zu werden; aber man tut nicht einmal mehr so, als hätte man noch einen Ansatzpunkt. Es ist auch keine Rede von einer Genf-III-Verhandlungsrunde. Die auch von Barack Obama angepriesene Verhandlungsrunde »Genf II« ist im Februar so sang- und klanglos wie voraussehbar gescheitert. Im eigentlichen Sinn gab es gar keine Verhandlungen, denn solche setzen voraus, dass die gegnerischen Parteien jeweils einen Spielraum haben, den man zumindest partiell zur Übereinstimmung bringen kann. Aber den gibt es in diesem Fall nicht und das Schicksal von Bashar al-Assad ist nur das Symbol dafür. Er kann nicht anders, als sich nun erneut zum Präsidenten »wählen« zu lassen.
Keine Rebellengruppe könnte es sich hingegen erlauben, einem Präsidenten Assad in irgendeiner Form ihre Zustimmung zu geben, und sei es nur als angebliche Übergangslösung. So forderte die untereinander zerstrittene Opposition in Genf einmütig den Rücktritt Assads und Assads Delegation beschimpfte im Gegenzug die Vertreter der Opposition. Russland war zufrieden mit diesem Ergebnis, es ging in seinem Kalkül bei Genf II sowieso nur darum, Zeit zu schinden. Und Obama hatte erneut außenpolitisch viel Lärm um nichts erzeugt. Mit welchen Druckmitteln hätte er denn auch auf Assad einwirken und mit welchen Versprechungen die Opposition zu Kompromissen nötigen können? Substantielle Hilfe für die syrische Opposition – wie gerade wieder bei dem Staatsbesuch Obamas in Saudi-Arabien nebulös versprochen – ist bisher nie angekommen. Dagegen zerbröselt Obamas Scheinerfolg mit der Giftgasvernichtung dieser Tage endgültig. Nach ersten Meldungen in den vergangen Wochen über angebliche kleinere Giftgaseinsätze haben jetzt sowohl Aufständische wie das Assad-Regime einen Giftgasangriff in der Provinz Hama bestätigt – und beschuldigen sich gegenseitig. Die Übergabe der Giftgasbestände des Regimes an die UN hat sich sowieso längst verlangsamt, Fristen wurden nicht eingehalten.
Die Uno hat angesichts des Desasters in Syrien sogar das – ohnehin folgenlose – Zählen der Toten eingestellt. Anfang des Jahres verkündete das Menschenrechtsbüro der UN, man werde die Zählung der Kriegsopfer in Syrien wegen der unübersichtlichen Lage nicht weiter fortsetzen. Da war es längst bei 100 000 Toten angelangt, die konservative Schätzung des Syrian Observatory for Human Rights spricht von 150 000 Toten, vermutet aber die tatsächliche Zahl bei über 220 000. Das wäre rund ein Prozent der geschätzten Einwohnerzahl Syriens von etwas über 20 Millionen.

Noch werden die Flüchtlinge weitergezählt. Und so durfte die Uno verkünden, dass die Syrer dabei sind, die Afghanen als größte Flüchtlingspopulation der Welt abzulösen. Der Flüchtlingszähler der UN im Internet hat die Marke von 2,5 Millionen längst übersprungen, es gab am 11. April genau 2 611 099 registrierte syrische Flüchtlinge – die in Syrien intern Vertriebenen sind da gar nicht mitgezählt. Ihre Zahl schätzt die Uno auf über sechs Millionen. Der UN-Generalsekretär Ban Ki-moon beklagte außerdem noch rund 250 000 Syrer, die unter einem Belagerungszustand leiden – der Großteil davon, 200 000 Menschen, wird vom Regime in von Rebellen gehaltenen Enklaven planvoll von jeder Versorgung abgeschnitten. Anschließend fordert man diese Orte zu »Waffenstillstandsverhandlungen« auf, ein paar Hilfsgüter gibt es erst, wenn schwere Waffen abgeliefert und Regierungsflaggen für Propagandafotos gehisst werden.
Von den syrischen Flüchtlingen im Ausland hat der Libanon – bei einer eigenen Bevölkerung von etwas über vier Millionen – mit einer knappen Million mit Abstand die meisten Syrer aufgenommen, gefolgt von der Türkei und Jordanien mit jeweils über einer halben Million Flüchtlingen (s. Seiten 4/5). Von diesen ständig weiter steigenden Zahlen, die so erdrückend desaströs klingen, wird die hinter ihnen liegende Realität längst verstellt. Das immer wieder gegen ein Eingreifen in Syrien vorgebrachte Argument, man dürfe den Konflikt nicht noch intensivieren, wird auch weiterhin die Gegenfrage provozieren: Wie hätte es eigentlich noch schlimmer kommen können?