Das italienische Thriller-Filmgenre »Giallo«

Die gelbe Gefahr

Vor 50 Jahren entstand in Italien eine morbide Variante des Kinothrillers, die fast vergessen ist, obwohl ihre ästhetischen Spuren noch immer sichtbar sind: der Giallo.

Ein die nächtlichen Straßen Roms durchquerender Passant wird Zeuge, wie in den hell erleuchteten Hallen einer menschenleeren Kunstgalerie eine Frau und eine Gestalt im schwarzen Regenmantel miteinander kämpfen. Der Zeuge, ein amerikanischer Journalist, ist von dem Geschehen durch eine Glasscheibe getrennt, die der Szene den Anschein eines vor seinen Augen ablaufenden Stummfilms verleiht. Unfähig einzugreifen, vermag er die Gestalt in Schwarz dennoch zu verjagen, die Frau – Gattin des Galeriebesitzers – überlebt verletzt. Offenbar wäre sie fast Opfer eines Serienmörders geworden, der die Hauptstadt unsicher macht. Der Journalist, von der Polizei als Verdächtiger behandelt, macht sich auf die Suche nach dem Täter. Einige Plot-Twists und Leichen später wird ihm klar, dass er sich getäuscht hat: Bei der Gestalt im Regenmantel handelte es sich nicht um den Mörder, sondern um den Galeriebesitzer, der seine psychopathische Frau von einer weiteren Tat abhalten wollte.
Der 1970 unter der Regie von Dario Argento gedrehte Thriller »L’uccello dalle piume di cristallo« (»Der Vogel mit dem Kristallgefieder«) kam in Deutschland unter dem tumben Titel »Das Geheimnis der schwarzen Handschuhe« in die Kinos und wurde im Rahmen der im Absterben begriffenen Edgar-Wallace-Serie als Film nach einer Vorlage von Wallaces Sohn Bryan Edgar vermarktet. Im Vergleich mit den Wallace-Filmen war ihm jedoch wenig Erfolg beschieden. Liebte das deutsche Publikum an diesen doch deren offenbare Harmlosigkeit: In jedem Spukschloss ließ sich unschwer das heimische Jagdschlösschen, in jedem Engländer der Volksschauspieler erkennen, und kein Todeskrampf dauerte länger als zwei Sekunden (Jungle World 38/2009). Die italienischen Kinothriller jener Zeit ähnelten den Wallace-Filmen in der Vorliebe für hohen Body Count und holperige Plots, machten aber mit allem, was darin bieder-humorvoll überspielt wurde, so unappetitlich-genüsslich ernst, dass sie hierzulande vorwiegend in anrüchigen Bahnhofskinos gezeigt oder verboten wurden. Einer der spätesten Streifen des Genres, Argentos »Tenebrae« von 1982, ist noch immer bundesweit beschlagnahmt.
Bekannt wurde die italienische Variante des Serienmörder-Thrillers unter dem Namen Giallo, was auf die gelbe Farbe anspielt, an der in Italien die Umschläge der Groschenromane zu erkennen waren. Im Gegensatz zu den Wallace-Streifen, die als Bricolage aus Versatzstücken des expressionistischen Films ein Phänomen des Schwarzweiß-Kinos der jungen Bundes­republik waren, ist der Giallo knallbunt, seine Protagonisten leben in Art-déco-Wohnungen und gehen in dunkelblauen Nächten spazieren, und wenn sie sterben, quillt aus ihren Mündern oder Kehlen unnatürlich leuchtendes, breiiges Rot. Dario Argento hat die antinaturalistische Farbästhetik der Gialli besonders weit getrieben, angelegt ist sie schon in Mario Bavas 1964 in die Kinos gekommenem Film »Blutige Seide«, dem ersten echten Giallo, der in einer Modelagentur spielt und seine schwelgerische Farbästhetik aus der Inszenierung von Kostümen und Interieurs bezieht. Er versammelt bereits alle Charakteristika des Genres: den psychopathischen Serienkiller (oft eine Frau), das internationale, mondäne Ambiente, den antipsychologisch eingesetzten, teils überhaupt nicht als Film-, sondern als Clubmusik konzipierten Soundtrack, den konfusen Plot, den Triumph von Atmosphäre über Stringenz sowie die brütend morbide Grundstimmung.
Obwohl der Giallo dem Exploitation-Film zugerechnet wird, waren seine wichtigsten Regisseure – neben Bava und Argento Sergio Martino und Massimo Dallamano – aus dem neuen italienischen Kino hervorgegangen. Viele von ihnen hatten bei den Italo-Western Sergio Leones mitgearbeitet, Argento hatte 1968 mit Bernardo Bertolucci das Drehbuch für »Spiel mir das Lied vom Tod« geschrieben, Dallamano war Leones Kameramann. Die Faszination für die Underground-Variante ame­rikanischer Populärkultur war sogar noch wesentlich älter, Luchino Visconti hatte schon 1943 als Vorlage für »Obsessione« auf den Hard-boiled-Krimi »The Postman Always Rings Twice« von James M. Cain zurückgegriffen. Vermittelt über Michelangelo Antonionis an Hitchcock geschulten Paranoiathriller »Blow Up« (1966), dessen Grundidee – jemand glaubt Zeuge eines Mordes zu sein, deutet seine Beobachtung aber falsch – von vielen Gialli verwendet wird, ging die Begeisterung für amerikanische Reißer Mitte der Sechziger mit dem Giallo in die italienische Populär- und Subkultur ein. Beides war damals keineswegs strikt getrennt: Mit geringen Budgets ausgestattet und durch die Abwesenheit staatlicher Filmförderung auf Improvisa­tion angewiesen, wollte der Giallo wie der Italo-Western ein Massenpublikum ansprechen und verzichtete auf psychologische Differenziertheit, konnte sich aber ebenso wenig die Glätte und Professionalität kulturindustrieller Großproduktionen leisten. Aus diesem doppelten Mangel entstand seine suggestive Ästhetik, die als moralisch gefährlich erschien.
Am häufigsten äußerte sich diese Sorge im Vorwurf der Frauenfeindlichkeit. Tatsächlich lassen sich besonders Argentos Filme kaum anders denn als neobarocke, geradezu liebevoll ausgemalte Gewaltphantasien mit misogynem Oberton beschreiben. »L’uccello dalle piume di cristallo« ist in dieser Hinsicht beispielhaft: Die Mordszenen, dominiert von zu Fetischen des Giallo gewordenen Objekten wie den schwarzen Handschuhen, der blinkenden Rasierklinge und den in Großaufnahme gezeigten aufgerissenen Augen des Opfers wie des Täters, sind inszeniert als hypnotisch verlangsamte, gegenwartsentrückte Alb- und Wunschträume in einem. Dass als Urheber der vorwiegend gegen Frauen gerichteten Gewalt zunächst ein Mann vermutet wird, der Mörder aber schließlich weiblich ist, wurde zur fixen Idee des Giallo, der immer wieder von jungen Männern erzählt, die auf der Suche nach einem sexualpathologischen Killer zunächst auf dubiose Freunde, Konkurrenten und Gegenspieler stoßen, bis schließlich eine Frau als Täter identifiziert wird.
Der ihm innewohnenden Projektionen überführt wird dieses Prinzip in Sergio Martinos grandiosem Giallo »Der Killer von Wien« von 1971, in dem sich nach und nach alle Freunde, Geliebten und Verehrer der Protagonistin als Angehörige eines Männerkomplotts erweisen, die einen in der österreichischen Hauptstadt umgehenden Serienkiller als Tarnung ihrer eigenen Verbrechen benutzt haben. Die Auflösung des Rätsels ist so unrealistisch und einleuchtend zugleich, dass das Happy End, das sich zwischen der Protagonistin und einem Psychologen andeutet, der sie zartfühlend kurieren will, mehr als nur eine Spur von Unbehagen hinterlässt. Mit seinem zwischen Wahn und Erkenntnis changierenden Ende führt der Film die zweifelhafte Moral, die in schlechten Gialli von der spektakulären Dramaturgie überblendet wird, schockhaft vor Augen. Doch auch wo diese selbstreflexive Wendung fehlt, etwa in Argentos fast schon surrealem »Profondo Rosso« (1975) oder Dallamanos »Solange« (1971), der als »Das Geheimnis der grünen Stecknadel« ebenfalls als Wallace-Film vermarktet wurde und sich anhand der Mordserie in einem Mädcheninternat dem Verhältnis des Katholizismus zur Sexualität widmet, exponieren sich die Filme durch ihre psychedelischen Farben, die jede Identifikation verhindernde, experimentell-minimalistische Musik (oft komponiert von dem auch für Leone arbeitenden Ennio Morricone), durch die dilettantischen Darsteller, den Wechsel zwischen plakativer Gewalt und dramaturgischem Stillstand sowie die wirren Plots als inszenierte Träume, die als solche verstanden und gedeutet werden müssen. Die ­Inszenierung konterkariert die Ideologie und setzt die Filme als konkret gewordene sadistische Phantasien ins Bild.
In der Ausstellung des ihnen innewohnenden Sadismus ähneln die Gialli Alfred Hitchcocks vorletztem, in England gedrehtem Thriller »Frenzy«, der 1972, in der Hochzeit des Giallo, in die Kinos kam. Seine Dramaturgie und Bildsprache ist bis ins Detail den Gialli entlehnt: der pathologische Serientäter, der Fetisch (hier die Krawatte), die derb inszenierten Morde, die Großaufnahmen aufgerissener Augen, die anpreisend gefilmte Metropole (in diesem Fall London) als Kulisse abstoßender Geschehnisse, schließlich Misogynie nicht als Ideologie, sondern als eigentlicher Gegenstand des Films. Dass Hitchcocks britischster Film, in dem er – unbewusst wohl auf die sexuelle Revolution und die Frauenbewegung reagierend – zu einem drastischen Realismus bei der Darstellung der routinierten Verachtung der Geschlechter findet, insofern auch ein italienischer ist, ruft die Internationalität der Gialli in Erinnerung. Zwecks besserer Vermarktung meist koproduziert, existiert von kaum einem Giallo eine unsynchronisierte Originalfassung, sondern jede Fassung enthält, weil französische, deutsche und angloamerikanische Schauspieler mitwirken (in »Profondo Rosso« spielt David Hemmings aus »Blow Up«, in anderen Gialli haben Karl Malden oder Telly Savalas Gastrollen), bereits synchronisierte Passagen. Den Personen verleiht das eine befremdliche Chargenhaftigkeit, die sie als Helden unbrauchbar macht und das Obsessive der Handlung betont. In heutigen Thrillern, die den Giallo beerben, künstlerisch aber sehr viel ambitionierter sind – »In the Cut« von Jane Campion oder Eros Pugliellis Argento-Pastiche »Eyes of Crystal« – ist dank besserer Produktionsbedingungen diese Brüchigkeit getilgt. Nicht diese Filme aber, sondern die schmuddeligen Gialli rufen ins Bewusstsein, dass die Kulturindustrie die Gelüste, die sie anstachelt, immer auch unterdrückt. Gerade dass der Giallo so wenig Ambitionen und noch weniger Mittel hat, um die Triebe, auf die er spekuliert, in den Konventionen des Krimis einzuhegen, macht seine Stärke aus.

Für wichtige Hinweise danke ich Uli Krug.