Achtsamkeit

Praktisch alles wurde in dieser Kolumne schon bemosert, Parfüm, Ketchup und Bratwürste, und der Eindruck mag sich aufdrängen, dass der Autor ein giftiges Individuum ist, dem man es nun wirklich gar nicht recht machen kann. Deswegen wird hier auch mal etwas gelobt – nämlich der öffentliche Nahverkehr in Wien. Funktional unterscheidet er sich wenig von dem in anderen europäischen Hauptstädten, nur dass der Massenmörderblick der Passagiere noch etwas unverhohlener daherkommt und die Mischung aus schwelender Wut, gerade noch aufrechterhaltener Selbstdisziplin und depressiver Geistesabwesenheit, wie sie den durchschnittlichen Öffi-Fahrgast überall auszeichnet, hier noch etwas explosiver wirkt. Nein, wahrhaft lobenswert ist die Durchsage, die eine weiche Frauenstimme gelegentlich durchs Interkom flötet: »Bitte seien Sie achtsam. Andere brauchen Ihren Sitzplatz vielleicht notwendiger.« Wie sacht dieser Potentialis, wie distinguiert die Wortwahl, wie zärtlich die pädagogische Absicht! Hier will sich einer eben nicht moralisch aufspreizen, eben nicht »Aufstehen, ihr Arschlöcher!« brüllen. Hier wird ohne Pathos ans Allgemein-Menschliche erinnert, ein Vorschlag zur Herzensgüte unterbreitet, unter voller Anerkennung des Intellekts des Angesprochenen. Und wo findet das alles statt? In einem Wagen voll mit Wiener Grantlern, Giftspritzen und Klerikalfaschisten! Die misstrauisch Ausländer, Homos, Alte, Frauen, Kinder und Männer auf irgendein Fehlverhalten hin scannen, die nur auf ein Signal zum Durchdrehen, auf Marschmusik und Wiederanschluss warten. Und diese Hundskrüppel will man zur Achtsamkeit erziehen! Der Satz erinnert an ein teures Raumspray, das über einem Klärwerksbecken versprüht wird. Den Luxus einer solch sinnlosen Zärtlichkeit muss man sich leisten können!