Palästinensischer Fußball in Jordanien

Der Applaus nach dem Schuss

Ein syrisches Hackentor für einen palästinensischen Club in Jordanien: Der Jahrhunderttreffer von Moataz Salhani erfüllt die Palästinenser im Land mit Stolz. Aber an ihren Lebensumständen wird er nichts ändern.

Was bleibt, ist das 1:0. Wesentlich mehr als diesen Eintrag in die Fußballstatistik wird Moataz Salhani nicht vom Ruhm der über zwei Millionen Klicks auf Youtube haben. Am 15. März hatte er in der jordanischen ersten Liga für seinen Verein al-Wehdat in der 52. Minute ein sensationelles Tor gegen al-Ramtha erzielt: In etwa 35 Metern Entfernung nahm er aus vollem Lauf den Ball mit der Hacke mit – und der senkte sich ins gegnerische Tor. Sonderlich verwundert ist Salhani, 28jähriger Stürmer mit syrischem Pass, über die Aufmerksamkeit, die sein mitunter als »Jahrhunderttor« titulierter Treffer erhielt, nicht. »Es gibt wirklich gute Spieler in der Region, aber niemand in den europäischen Medien weiß das«, sagte er zu jordanischen Journalisten. Und auch die Fans wissen das: Mahmoud Khalilah etwa, ein jordanischer Fußballfan, schimpfte: »Wenn ein europäischer Spieler wie Ronaldo so ein Tor erzielt, würden die Medien noch nach Jahren darüber reden.«
Aber Salhani ist kein Ronaldo; jordanischer Fußball findet nicht in der Primera Division, der Bundesliga, der Premier League oder der Serie A statt; und obendrein spielt Salhani beim falschen Club. »al-Wehdat ist der Verein der Menschen aus dem Flüchtlingscamp«, sagt Mohammed Hussainy, jordanischer Politologe und Fan von al-Wehdat. Das Camp, das er meint, wird meist Amman New Camp genannt, auf Arabisch heißt es al-Wehdat. 1955 wurde es von der UNRAWA, der United Nations Relief and Works Agency, für palästinensische Flüchtlinge gegründet. Schon ein Jahr später baute die Organisation auch den al-Wehdat SC auf, kümmerte sich um Plätze und Trainingsmöglichkeiten. Das Lager al-Wehdat, ursprünglich außerhalb von Amman gelegen, wurde zum inte­gralen Teil der jordanischen Hauptstadt. Über 50 000 Menschen leben dort, es gibt Krankenhäuser und Schulen – ein Flüchtlingslager ist es nicht mehr.
1975 entschieden sich die Fußballvereine, die es in den Flüchtlingscamps gab, am offiziellen jordanischen Spielbetrieb teilzunehmen. »Die Situation wurde brenzlig, als al-Wehdat 1980 die Meisterschaft gewann, indem es al-Ramtha schlug«, schreibt Joseph A. Massad, palästinensischer Historiker, der an der New Yorker Columbia University lehrt. Al-Ramtha – der Club, gegen den Moataz Salhini Mitte März sein sensationelles Hackentor erzielte – war damals wie heute einer der Vereine, die das traditionelle im Ostjordanland beheimatete Jordanien verkörpern.
Noch stärker als al-Ramtha aus der gleichnamigen Stadt im Norden Jordaniens, erfüllt al-Faisaly aus der Hauptstadt Amman diese Funktion. Einmal, im Jahr 1986, versuchten die Behörden sogar, palästinensische Clubs umzubenennen, damit sie nicht mehr identitätsstiftend wirken können. Der Versuch wurde nach zwei Jahren abgebrochen. Zu besonders brutalen Auseinandersetzungen zwischen Wehdat- und Faisaly-Fans kam es im Dezember 2010. Die Underdogs aus al-Wehdat gewannen 1:0 durch einen Treffer in der Schlussminute. Da­raufhin eröffneten Faisaly-Fans unter anderem mit Steinwürfen die Jagd auf die gegnerischen Supporter. Die Wehdat-Anhänger konnten entkommen, doch auf ihrem Fluchtweg wurden sie von der Polizei, die sie angeblich für Hooligans hielt, mit Gewalt gestoppt: 250 zum Teil schwer verletzte al-Wehdat-Fans waren die Bilanz des Spieltags.
Der Versuch, durch den Fußball die Anhänger von al-Wehdat in die jordanische Gesellschaft zu integrieren, scheiterte. »Der Club ist ein Symbol für die Geschichte und das Erbe der Menschen in Wehdat«, sagt Mohammed Hussainy. »Er steht für die Einheit der Nation«, und damit meint er nicht die jordanische. Joseph A. Massad schreibt in seinem Buch »Colonial Effects«, dass die Frage, welchen jordanischen Erstligisten man unterstütze, eng verbunden sei mit der Frage, ob man sich als Palästinenser oder als Jordanier verstehe: »Wenn keine anderen Formen politischen Protests möglich waren, waren es diese Spiele, die palästinensische Proteste und die Behauptung einer nationalen Identität bewirkten.«
Der italienische Soziologe Luigi Achilli war anderthalb Jahre lang zur Feldforschung im Lager al-Wehdat. Er schreibt: »Die Camp-Bewohner ziehen sich den schlimmsten Zorn der Behörden zu, wenn sie Fußballspiele in Massenprotest verwandeln. Das ist schlimmer, als wenn sie politische Demonstrationen veranstalten.« Schmährufe gegen die Königsfamilie und die Regierung gehören zum Standard bei Spielen von al-Wehdat. In den neunziger Jahren habe immerhin die jordanische Nationalmannschaft noch eine Integrationskraft gehabt, schreibt Massad. »Bei der Arabischen Fußballmeisterschaft, die 1997 im libanesischen Beirut ausgetragen wurde, gewann die jordanische Auswahl, bestehend aus den besten Spielern aller jordanischen Vereine, einschließlich al-Wehdat, das Turnier, indem es Syrien schlug.« Danach hätten viele Kommentatoren jordanischer Zeitungen von einem »Zeichen palästinensisch-jordanischer Einheit unter einer jordanischen Identität« gesprochen.
Doch als ein Jahr später, 1998, das palästinensische Nationalteam in den Weltverband Fifa aufgenommen wurde und 1999 ein offizielles Länderspiel gegen Jordanien bestritt, war von der angeblichen nationalen Einheit nichts mehr zu sehen. Die erste jordanische Meisterschaft für al-Wehdat im Jahr 1980 – insgesamt sind es mittlerweile zwölf Titelerfolge – »bedeutete einen Auftrieb für die palästinensischen Jordanier, besonders die im Wehdat-Camp«, schreibt Massad. Und Achilli berichtet, was ihm ein Fan nach einer Niederlage sagte: »Erst nahmen sie uns Palästina, dann al-Aqsa und nun al-Wehdat.«
Siege aber, so hat Achilli, der an der School of Oriental and African Studies der University of London lehrt, beobachtet, »sind immer Momente geteilter Freude und kollektiver Partizipation«. Das Feiern fußballerischer Erfolge sei wichtiger als organisierte politische Demonstrationen oder die jährlichen Manifestationen anlässlich der sogenannten Nakba. Die Bedeutung des Fußballs, so Achilli, könne man kaum überschätzen. »Wenn wir das tägliche Leben von Flüchtlingen in Jordanien verstehen wollen, sollten wir seine Dimensionen beachten – und ihn nicht nur als politisches Medium verstehen. Indem wir auf diese Mehrdimensionalität achten, wird unser Verständnis dafür besser, wie Spaß und Fußball den Camp-Bewohnern helfen, die Unwägbarkeiten ihres Lebens auszuhalten.«
Vor diesem Hintergrund fand am 15. März das konfliktreiche Duell zwischen al-Wehdat und al-Ramtha statt, für die Palästinenser ein Auswärtsspiel. Moataz Salhani spielt erst seit wenigen Monaten bei al-Wehdat. Für umgerechnet 25 000 Euro war er vom Ligakonkurrenten That Ras gekommen. Der ist, anders als al-Wehdat, kein Spitzenclub der jordanischen Liga, aber 2013 wurde der Verein immerhin Pokalsieger. That Ras war Salhanis erste Station in Jordanien, vorher kickte er in Syrien bei al-Wahda aus Damaskus – seiner Geburtsstadt. »Viele wissen gar nicht, dass Salhani Syrer ist«, berichtet Ahmad Eid, ein jordanischer Fußballfan. Nach dem sensationellen Treffer hätten tatsächlich einige Anhänger gefordert, der Fußballer solle doch für die jordanische Nationalmannschaft spielen.
Das zeigt, in welchem Maße Salhani mit seinem Hackentor zum Medium politischer Botschaften geworden ist. »Das Tor war nicht nur schön, sondern auch wertvoll, weil wir es geschafft haben, mit Ramtha den besten Club in dieser Saison zu schlagen«, sagt Zeyad Shilbaya, der Sportdirektor von al-Wehdat. Hussainy, der Politologe, der auch einem al-Wehdat-Fanclub angehört, stellt fest: »Der Treffer war wichtig für das ganze Land, auch wenn Salhani Syrer ist. Das macht den Menschen nichts, er ist einer von ihnen.« Aber die Fans anderer Vereine seien nicht so begeistert. »Sie hätten das Tor lieber für sich gehabt.«
Hussainy ist allerdings sicher, dass auch die weltweite Prominenz, die Salhanis Tor der jordanischen Liga zumindest kurzfristig verschafft hat, keine integrierenden Effekte hat. »Einigend wird das Tor nicht wirken.« Stattdessen beklagt Hussainy, dass die palästinensischen Jordanier trotz der fußballerischen Erfolge im nationalen Fußballverband immer noch unterrepräsentiert sind, auch palästinensische Schiedsrichter etwa gebe es so gut wie nicht. Am Wochenende nach Moataz Salhanis sensationellem Siegtreffer gegen al-Ramtha gewann al-Wehdat sein Heimspiel gegen al-Faisaly mit 2:0. »Fans warfen Flaschen auf das Feld, schleuderten Stühle und riefen Beleidigungen«, heißt es in einem Bericht der jordanischen Nachrichtenagentur Petra, der Verband sprach Strafen aus, das sensationelle Tor vom vorherigen Spieltag war eigentlich schon vergessen.