Die neue Verordnung in der EU-Flüchtlingspolitik

Unser Meer, unser Gesetz

Das Europäische Parlament hat neue Regeln für den Umgang mit Migranten an den Seegrenzen verabschiedet. Menschenrechtswidrige Rückschiebungen in außereuropäische Staaten werden juristisch abgesichert.

»Mare Nostrum« – unser Meer: Unter diesem Motto initiierte die italienische Marine im Oktober vorigen Jahres eine Rettungsoperation mit Kriegsschiffen, Hubschraubern und Drohnen, um Menschenleben zu retten. Das Leben von Menschen, die in mehr oder weniger seeuntauglichen Booten versuchen, von Nordafrika nach Italien zu gelangen. Die Rettungsoperation wurde als humanitäre Reaktion auf eine Katastrophe kurz zuvor inszeniert. Am 3. Oktober waren vor der italienischen Insel Lampedusa mehr als 360 Migranten zu Tode gekommen. Den Recherchen des Datenbankprojekts »The Migrant’s Files« zufolge sind insgesamt mindestens 23 000 Migranten seit dem Beginn dieses Jahrtausends auf dem Weg nach Europa ums Leben gekommen.
Gut sieben Monate nach der Katastrophe vor Lampedusa kann Italien bessere Nachrichten vermelden: Etwa 4 000 boat people wurden Mitte April vor der Mittelmeerinsel gerettet. Nach Auskunft der italienischen Marine sind durch »Mare Nostrum« bereits mehr als 17 000 Menschen aufgegriffen und an Land gebracht worden.
Die Katastrophe von Lampedusa hatte nicht nur in Italien, sondern in ganz Europa Empörung hervorgerufen und eine breite Debatte ausgelöst. Neben dem Papst und dem deutschen Bundespräsidenten hatten auch hochrangige Vertreter der Europäischen Kommission ein Umdenken in der europäischen Flüchtlingspolitik gefordert. Konkrete Ergebnisse lassen sich nun in einer Verordnung nachlesen, die das Europäische Parlament in der vergangenen Woche verabschiedet hat. Dort werden Regeln für den Umgang der nationalen Grenzschutzbehörden und der europäischen Grenzschutzagentur Frontex mit Migranten formuliert, die im Meer, in den Küstengewässern der europäischen Staaten oder auf hoher See aufgegriffen werden. Das Ziel soll es sein, mehr Menschen vor dem Ertrinken zu retten und die Menschenrechte der aufgegriffenen Migranten zu gewährleisten.
Ganz in diesem Sinne sieht die Verordnung vor, dass auf hoher See gestoppte Boote in außereuropäische Staaten nur zurückgeschleppt werden dürfen, wenn dort keine politische Verfolgung oder Menschenrechtsverletzungen drohen. Um das festzustellen, soll den Aufgegriffenen vor einer Rückschiebung Gelegenheit gegeben werden, ihre Fluchtgründe vorzutragen. Die Grenzschutzbeamten sollen menschenrechtlich geschult werden, daneben können für die Betroffenen Dolmetscher und rechtliche Berater hinzugezogen werden. Schließlich wird den Grenzschützern aufgetragen, bei einer Seenot Rettungsmaßnahmen einzuleiten. Gute Nachrichten also, angesichts der zahlreichen Berichte von Pro Asyl und anderen Nichtregierungsorganisationen über menschenrechtswidrige Rückschiebungen an den europäischen Außengrenzen?

Das Gegenteil ist der Fall. Die Vorgaben in der neuen Verordnung bleiben schon rein rechtlich vage und lückenhaft. Eine Übersetzung und eine Rechtsberatung müssen nicht zwingend zur Verfügung gestellt werden, eine gerichtliche Überprüfbarkeit ist in der Verordnung nicht vorgesehen. Vor allem aber ist unklar, wie auf See drohende Menschenrechtsverletzungen für den Fall einer Rückschiebung festgestellt werden sollen, wenn mehrere hundert Menschen auf einem Boot aufgegriffen werden, die unterschiedliche Sprachen sprechen und lange Geschichten über ihre Flucht zu erzählen haben. Die Verordnung sieht schwimmende Asylbehörden vor, die in Schnellverfahren Schutzgesuche ablehnen sowie schutzsuchende Menschen vom europäischen Territorium fernhalten, und gibt damit einer menschenrechtswidrigen Praxis eine rechtliche Grundlage.

Wenn die Grenzschutzbehörden verpflichtet werden, auch Menschen in Seenot zu retten, ist dies ebenso zynisch wie die Behauptung von Frontex, in den vergangenen vier Jahren etwa 40 000 Menschen aus Seenot gerettet zu haben. Die Grenzschützer sind ohnehin zu Rettungsmaßnahmen verpflichtet – dies obliegt nach dem internationalen Recht jedem Kapitän, der auf dem Meer unterwegs ist. Zudem kommen die Fälle lebensgefährlicher Bootsüberfahrten nicht von ungefähr. Für die boat people gibt es keine anderen und legalen Möglichkeiten, nach Europa zu flüchten, und wegen der immer umfangreicheren Überwachung der europäischen Seegrenzen müssen sie sich immer gefährlichere Wege suchen, um nicht entdeckt zu werden. Ohnehin haben Frontex und die nationalen Grenzschutzbehörden einen anderen Auftrag, wie zuletzt ein anonym gebliebener Mitarbeiter von Frontex in der französischen Ausgabe von Le Monde diplomatique angab: »Die Arbeit von Frontex ist der Kampf gegen die illegale Migration, nicht die Seenotrettung, und diese Menschen sind tot, das sind keine Migranten mehr.«
Auch sind die Rettungsaktionen der italienischen Marine allenfalls eine kurzfristige Hilfe für die Geretteten. Wie die Marine mittlerweile selbst eingestanden hat, sind auf den Rettungsschiffen auch Beamte aus Libyen anwesend. Das Menschenrechtsnetzwerk Borderline Europe berichtet, dass in diesem Jahr in mindestens drei Fällen Flüchtlinge nach ihrer Rettung von libyschen Beamten übernommen und zurückgebracht wurden. Andere Flüchtlinge werden zwar zunächst auf das italienische Festland verbracht, aber Borderline Europe zufolge sofort oder wenige Tage nach ihrer Rettung wieder abgeschoben, ohne ihr Recht auf Asyl geltend machen zu können.