Ein Besuch in Braunau am Inn, dem Geburtsort Adolf Hitlers

Ein unbequemes Haus

Im österreichischen Braunau am Inn befindet sich das Geburtshaus Adolf Hitlers. Dass die Stadt nicht zu einem Pilgerort von Neonazis geworden ist, liegt auch an der lokalen antifaschisten Bewegung.

»Seit der Stein da ist, hat Braunau es leichter«, sagt Martin Simböck. Vor allem er hat es leichter, denn er weiß jetzt, wo er Touristen hinschickt, die bei seinem Tabakwarenladen reinschneien, um nach »dem Haus« zu fragen. Salzburger Vorstadt 15 lautet die Adresse des dickwandigen, hellgelben Hauses, das einzig dafür berühmt ist, dass hier am 20. April 1889 Adolf Hitler geboren wurde.
»Früher habe ich ihnen nicht die Adresse gesagt, sondern habe erst versucht zu beurteilen, aus welchem Grund sie das Haus suchen«, erzählt Simböck. »Wenn ich den Eindruck hatte, es sind Rechte, dann habe ich sie in die verkehrte Richtung geschickt, in Richtung Kläranlage. Wenn ich den Eindruck hatte, sie fragen aus antifaschistischem Interesse, haben sie eine ordentliche Auskunft gekriegt. Wenn jetzt wer fragt, sag ich: ›Salzburger Vorstadt 15, da steht der Stein – das Haus ist nicht so interessant –, die Inschrift ist auswendig zu lernen, ich überprüfe das nachher.‹«
Die auswendig zu lernende Inschrift steht auf dem Mahnstein, der 1989 vor dem Haus gesetzt wurde, und lautet: »Für Frieden Freiheit und Demokratie/Nie wieder Faschismus/Millionen Tote mahnen«. Sie ist in einen Granitblock eingraviert, der aus dem Steinbruch der NS-Zwangsarbeiter unweit des ehemaligen Konzentrationslagers Mauthausen stammt. Zum ersten Mal gab es dieses Jahr einen Angriff auf den Mahnstein: Mitte April hat jemand blaue Farbe darüber geschüttet – das knallige Blau, mit dem Kurzparkzonen markiert werden. Ein paar Farbreste sind noch zu sehen, aber alles wurde so weit wiederhergestellt, dass sich die Stadt nicht vor ihren Gästen genieren muss. Denn am 19. April, einen Tag vor Hitlers 125. Geburtstag, kamen Hunderte zur antifaschistischen Demonstration unter dem Motto: »Schöner leben ohne Nazis!«
Braunau liegt knapp 130 Kilometer westlich von Mauthausen im oberösterreichischen Innviertel. Überquert man die Innbrücke, ist man in Simbach, der bayerischen Grenzstadt. Die wenigen Kilometer trennen heute zwei befreundete kleine Städte – der Historiker und Braunauer Schuldirektor in Ruhestand, Florian Kotanko, macht aber auch darauf aufmerksam, dass der NS-Staat jenseits der Grenze schon fünf Jahre früher bestand als diesseits. »Wie viel hat man also von dort erfahren? Es waren ja einige Braunauer drüben, Nazis, die über die Grenze geflüchtet sind.« Bei den jährlich von Kotanko mitveranstalteten Braunauer Zeitgeschichtetagen wird es diesen Herbst unter dem Arbeitstitel »Endlich deutsch …« demnach auch um den Austrofaschismus und die Entwicklung zum Nationalsozialismus in Österreich gehen. Die Zeiten, in denen man sich hierzulande an der Mär vom Überfall über den Inn festgehalten hat, sind zum Glück vorbei. Dass Hitler mit seinen Truppen beim Durchzug Richtung Linz in seiner Geburtsstadt nicht einmal angehalten hat, kann heute als Erleichterung verbucht werden, im März 1938 dürften davon nicht alle begeistert gewesen sein.

In Wolfgang Glechners humoristischer Kindheitsautobiographie »Niemand ist in Braunau geboren« (Sonnberg, 2013) erzählt der Autor von einem Russen, der gemeinsam mit einer Braunauer Familie »das Haus« zu Gold macht. Der Mann nutzt den Umstand aus, dass Touristen Adolf Hitlers Geburtshaus statt in der Salzburger Vorstadt in der Salzburger Straße 15 suchen. Der Russe bringt eine Tafel am Haus an und verkauft den Gästen nicht nur Fotorechte, sondern auch entsprechende Devotionalien. »Und wenn diese unglaubliche Geburtshausgeschichte nicht größtenteils erlogen ist«, schließt Glechner, »so muss sie wohl ganz und gar wahr sein.«
Ganz und gar wahr ist sie nicht, aber auch nicht ganz und gar erfunden: Den Russen gibt es wirklich. Er heißt mit bürgerlichem Namen Franz Adamowitsch Klinzewitsch, ist Duma-Abgeordneter und sorgte im November 2012 kurz für Aufregung, als er verlauten ließ, er sammle Geld, um Hitlers Geburtshaus zu erwerben und abreißen zu lassen. Seit die Organisation »Lebenshilfe« mit ihren Behindertenwerkstätten aus baulichen Gründen ausgezogen ist, steht das Haus leer. Es befindet sich in Privatbesitz und wird vom Österreichischen Innenministerium gemietet. Was damit in naher Zukunft passieren soll, darüber wird gestritten.
Auch die Tafel beruht auf einer nicht ganz unwahren Geschichte, unternahm die Stadtgemeinde doch den etwas ungeschickten Versuch, auf dem echten Geburtshaus eine Mahntafel anzubringen. Nur zu dumm, dass vergessen wurde, die Besitzerin des Hauses zu fragen – die daraufhin per Gerichtsbeschluss erwirkte, dass auf ­ihrer Immobilie nichts montiert wird. Daher der Stein am Gehsteig vor dem Haus. Und die Devotionalien schließlich, auch die hatten ihr reales Pendant in den Touristen-Shops gegenüber dem Haus in der Salzburger Vorstadt. Dort habe es, so erzählt der antifaschistische Aktivist und baldige Geschichtelehrer Robert Krotzer, bis in die achtziger Jahre »Hitler-Ramsch« zu kaufen gegeben. Erst der damalige Bürgermeister Gerhard Skiba (SPÖ) habe dieser Art touristischer Ökonomie ein Ende gesetzt. Seiner Initiative war es letztlich auch zu verdanken, dass der Stein entgegen der Stimmung in seiner eigenen Fraktion aufgestellt wurde und Anstoß zu einer öffentlichen Debatte gab, die man heute als durchaus produktiv bezeichnen kann.
Immerhin steht auch die geschichtspolitisch versierte Gemeinde in Braunau am Inn vor einer kniffligen Frage: Wie umgehen mit einer Geschichtsbaustelle, die nicht Ort des Verbrechens oder des Widerstandes war, sondern »nur« Geburtsstadt eines Kindes, das knappe 50 Jahre später der deutsche »Führer« sein würde?
Leicht wird es Braunau dabei nicht gemacht. Erstens dieser unsägliche Name; und dann die vielen wachen Augen, die Braunau beobachten – nur nichts falsch machen! Schließlich ist es der historischen Schuld schon genug, dass ihr »den da« hervorgebracht habt. Dass Braunau keine spezielle historische Schuld trifft, die größer wäre als andernorts in Österreich, ist schwer zu vermitteln. Einen Umgang muss die Stadt vielmehr mit der Aktualisierung, den Nachwirkungen, dem Neonazismus finden. Denn der sucht hier eine Kultstätte, und die gilt es, ihm zu verweigern.
Die Organisatoren der Demonstration am 19. April, Astrid Hainz und Robert Krotzer, zählen die rechten Attacken auf, die in den vergangenen zehn Jahren ernsthaften Schaden angerichtet haben: zwei gewalttätige Überfälle auf Jugendkonzerte, der Farbanschlag auf den Mahnstein und einige Nazi-Aufkleber. Das sei, so befindet Florian Kotanko, »auf jeden Fall zu verurteilen, aber quantitativ durchaus im Rahmen des Üblichen«.
Es ist nicht nur ihm ein Anliegen, festzustellen, dass Braunau eben kein spezielles Problem mit Rechtsextremen hat. Auf diesbezügliche Anfrage beim Bürgermeister Johannes Waidbacher (ÖVP) kommt die knappe Antwort, man möge sich für genauere Auskünfte an die Bezirkshauptmannschaft oder die Bundespolizei wenden.
Wenn in Österreich öffentlich von Neonazis gesprochen werden soll, wird aus der Vokabelschublade gern der Begriff der »Ewiggestrigen« hervorgeholt. Das Versprechen, das dieses Wort in sich trägt, ist die Differenz zu den »Ewigheutigen«, die vermeintlich nichts damit zu tun haben, was der Großteil ihrer Großmütter politisch zu denken und zu tun pflegte. Die Ewiggestrigen irren sich, weil sie ewig an den Ideen von gestern festhalten. Von Kontinuität ist keine Rede. Von einer Gesellschaft, die eine beständige Erneuerung von Rechtsextremismus befördert oder zumindest zulässt, wird geflissentlich geschwiegen. Dabei ist Rechtsextremismus in Österreich ziemlich aktuell, wie man jüngst an der Debatte um den ehemaligen EU-Abgeordneten Andreas Mölzer (FPÖ), der die EU mit dem Dritten Reich verglichen hatte, wieder in allen schmerzlichen Details verfolgen durfte.

Die Braunauer Journalistin Franziska Dzugan hat aus beruflichen Gründen zum lokalen Geschichtsdenken recherchiert. Sie hängt der Idee an, Zeitgeschichte zu aktualisieren: »Letztes Jahr zum Beispiel hätte man die Zeitgeschichtetage gut nutzen können, um über aktuelle Fragen zu reden. Unweit von hier, im Bezirk Vöcklabruck wurde das Neonazi-Netzwerk ›Objekt 21‹ ausgehoben; das war so brisant, und die Debatte dazu ist eigentlich ausgeblieben.«
Dennoch gilt es anzuerkennen, dass die Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte und ihren Konsequenzen in Braunau für eine österreichische Kleinstadt überdurchschnittlich vielschichtig ist. Da ist die jährliche Tagung zur Zeitgeschichte; auf braunau-history.at entsteht eine Online-Plattform für lokale Geschichtsschreibung und die Weiterentwicklung geschichtspolitischer Debatten; Anfang Mai findet die Mahnstunde zur Erinnerung an das Ende des Nationalsozialismus statt; es gibt einen »Demokratischen Chor«, der sich antifaschistischem Liedgut widmet, und neben kleinen autonomen Gruppen hatte auch die kommunistische Partei über mehrere Jahre eine gut organisierte Jugendorganisation vor Ort. »Dadurch, dass Braunau relativ symbolträchtig ist, haben wir als Jugendbewegung immer schon antifaschistische Aktionen gemacht. Darüber bin ich eigentlich politisiert worden«, fasst Astrid Hainz zusammen, die heute zum Studieren in einer anderen Stadt lebt. So wie es die meisten jungen Leute tun, was der örtlichen Antifa durchaus Nachteile bringt: »Es gibt so viel Fluktuation, weil in der Jugendbewegung Leute sind, die dann die Schule abschließen und weggehen.« Und die Neonazis, gehen sie nicht weg zum studieren? »Offenbar nicht«, lacht Astrid. Sie ist seit 2008 an der Organisation der Demonstration beteiligt, bei der rund um den 20. April ein paar hundert antifaschistisch organisierte, hauptsächlich junge Leute durch die Braunauer Innenstadt ziehen. Dann zeigt sich auch das Dutzend Neonazis, das der Bezirk zu bieten hat, feinsäuberlich durch ein Spalier der örtlichen Exekutive von der Demonstration getrennt.

»Bierbüffel? Bruhaha!« kommentiert jemand im des Onlineportal der Tageszeitung Der Standard unter einem Artikel über die Innviertler Neonaziorganisation, die tatsächlich den Namen »Braune Bierbüffel« trägt. Ob aus Blödheit oder aus Selbstironie, bleibt ein Rätsel. Relevant für die Organisationsstruktur dieser Büffelherde ist, dass eine ihrer Führungspersonen 2011 in sehr jungen Jahren bei einem Autounfall ums Leben kam. »Die klassische Geschichte«, erzählt Robert trocken, »zu einem Nazikonzert nach Deutschland gefahren in einem VW-Bus, in dem hinten statt der Sitze eine Bierbank steht, und es fährt der, der keinen Führerschein hat, denn dem können sie ihn nicht abnehmen, und dann in einer Rechtskurve gegen den Baum. Man könnte es sich nicht besser einfallen lassen.« Wie es bei strengen Hierarchien nicht anders kommen kann, wurde damit ein Großteil der Organisation stillgelegt.
Die Demonstration kommt in der Salzburger Vorstadt zum Stehen. Vor dem Haus Nummer 15 wird ein LKW zur Bühne umfunktioniert. In den Seitengassen ist pärchenweise Polizei postiert. Kutlu Yurtseven von der Rap-Band Microphone Mafia muss die kleine Menge allein unterhalten, bis Esther Bejarano und ihrem Sohn Joram vom Flughafen kommen. Die Microphone Mafia und die Bejaranos waren recht schnell für das Abschlusskonzert der diesjährigen Demonstration zu gewinnen. Kein Wunder, ist es ihnen doch ein gemeinsames Anliegen, das Wissen über den Holocaust und die Warnung davor, »was die Nazis heute wieder anstellen«, in Beziehung zu setzen, sagt Esther Bejarano, die den Holocaust überlebte. »Ich sehe da auf jeden Fall die Kontinuitäten«, sagt Kutlu Yurtseven: »Die fehlende Bereitschaft, den Nationalsozialismus aufzuarbeiten, die Wehrsportgruppe Hoffmann, Rostock, Hoyerswerda, der NSU – das hat doch miteinander zu tun.« Dagegen setzen die Rapper ihre Musik als Vermittlung politischer Debatten. »Hallo Braunau!«, ruft Kutlu ins Publikum und fügt hinzu: »Außer so ’n paar Gebäuden echt ’ne schöne Stadt.« Was mit dem seit wenigen Jahren leerstehenden Geburtshaus Hitlers geschehen soll, dazu habe sie schon einen Vorschlag, meint Esther Bejarano später: »Es soll eine Begegnungsstätte für Antifaschisten werden, mit Ausstellungen über Neonazis und über das, was die Nazis verbrochen haben. Ich weiß, dass es Vorschläge gab, das Haus abzureißen; das ist natürlich der größte Schwachsinn. Man soll das gerade für einen anderen Zweck benutzen – nicht für das, was es mal verkörpert hat, sondern für Frieden, für Freiheit und so weiter.« Kutlu Yurtseven fände ein autonomes Zentrum angebracht, »in dem man eben Geschichtsarbeit und Zukunftsarbeit macht.«
Das wird es wohl nicht werden. Die langen Debatten über das Haus werden bald zum Abschluss kommen. Natürlich gab es im Laufe der Zeit auch ein paar groteske Nutzungsvorschläge. Der Bürgermeister löste mit seinem wohl eher der Naivität als der Ideologie geschuldeten Vorschlag, Mietwohnungen dort einzurichten, einen Sturm der Entrüstung aus. In Folge wurde ein Arbeitskreis mit der Ideenfindung betraut.
Noch schräger mutet die Phantasie an, durch eine Außenstelle der Gynäkologie des örtlichen Krankenhauses eine besondere Art der Austreibung böser Geister vorzunehmen. In einer öffentlichen »Zukunftstagung« wurde der Vorschlag laut, ein Geburtshaus im medizinischen Sinne einzurichten: So viele Babys sollten in der Salzburger Vorstadt 15 wohl auf die Welt kommen, dass der Geist dieses einen Kindes aus dem Gebäude vertrieben würde. Dieser Idee hängt Vizebürgermeister Christian Schilcher (FPÖ) im Interview mit dem Radiosender »Österreich 1« vom April diesen Jahres weiterhin an. Florian Kotanko sagt in professioneller Sachlichkeit: »Das erscheint mir eine nicht tragfähige Idee.« Nun werden in das Haus, in dem vor 125 Jahren Hitler zur Welt kam, aller Voraussicht nach die sozialdemokratische Wohlfahrtsorganisation »Volkshilfe« und die Volkshochschule mit Sprach- und Kochkursen Einzug halten. Eine »elegante Lösung«, wie Astrid Hainz ganz ohne Zynismus kommentiert. Auch Robert Krotzer sieht einen großen Vorteil gegenüber einer öffentlich zugänglichen Begegnungsstätte: »Ich glaube, die Hemmschwelle, sich als Neonazi für einen Kochkurs anzumelden, ist dann doch recht hoch.«