Talmi

Barfußwein

Der Zauber, der um Rebsorten, Südhänge und Dekantiergläser gemacht wird, kann traditionell auf zwei Weisen gedeutet werden: nämlich als das Brimborium, das verzweifelte Trinker in der vorletzten Phase ihres unerbittlichen Abstiegs veranstalten, um ihre Sucht als Lebensart und höhere Kultur zu tarnen – oder als der Empfindungsreichtum jener Getränkehändler, die dem Kunden nicht einfach nur den Rausch, sondern auch die ­legitimierende Ideologie liefern müssen. Denn Rausch ohne Grund, man weiß es, ist die Vorstufe zur Anarchie, und damit praktisch Sozialismus. Weil aber Kultur und Lebensart auch schon vom Bürgertum als Lüge erkannt sind und höchstens als ironisches Zitat fortleben dürfen, geben es die großen Weinfabriken mittlerweile auf, mit gravitätisch dunklem Glas und feudalem Pomp auf den Etiketten zu werben. Die Flaschen werden bunter, die Gestaltung schriller; Wein wird zum Fun-Produkt, ja zum Fitnessgetränk. Sehr radikal ist darin die Marke »Barefoot Wine«, die mit geradezu psychedelischen Spektralfarben und dem Sprüchlein »Get barefoot and have a great time« in die Supermarktregale stößt und auf Schnickschack wie Herkunftsbezeichnungen ostentativ verzichtet. In Deutschland darf man Alkoho­lika nicht mit dem Hinweis bewerben, dass sie so herrlich betrunken machen; die »great time« ist aber schon ein relativ drastischer Schleichweg um das Anarchieverbot herum. Und die nackten Füße? Auch sie rufen zu repressiver Entsublimierung auf, zielen auf jene Barbaren der Lüfte, die sich schon heute in jedem zweiten Bahnabteil ihres Schuhwerks entledigen, kaum dass sie Platz genommen haben. Der nächste logische Schritt ist dann Marketing auf dem Niveau von »Schlüpferstürmer« und »Kalter Muschi«, mit Dosen-Riesling und Bordell-Bordeaux.