Nach dem Tod eines Zeugen im NSU-Prozess

How deep is your state?

Mit Thomas Richter alias »Corelli« ist ein wichtiger Zeuge im NSU-Prozess verstorben. Das bewegt manche Beobachter zu wilden Spekulationen.

Zu den Todesfällen, die im Zusammenhang mit dem Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) stehen, ist ein weiterer hinzugekommen. Thomas Richter, unter dem Namen »Corelli« jahrelang als Spitzel des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) geführt, wurde Anfang April tot in seiner Wohnung im Landkreis Paderborn aufgefunden. Beamte des Bundeskriminalamts (BKA) waren eigens für eine erneute Befragung des im Zeugenschutzprogramm untergebrachten 39jährigen angereist. Den Ergebnissen der Obduktion zufolge starb Richter an einem nicht erkannten Diabetes. Der amtlichen Untersuchung zufolge liegen keinerlei Anzeichen für eine Fremdeinwirkung vor.

Thomas Richter machte sich in der bundesweiten Neonaziszene einen Namen als Herausgeber der Zeitung Nationaler Beobachter, als Betreiber mehrere Internetseiten und als Gründer des »Nationalen Widerstands Halle/Saale«. Anfang der neunziger Jahre wurde er Mitglied der »International Knights of the Ku-Klux-Klan« (KKK), einem Ableger des rassistischen Geheimbunds aus den USA. Später trat er zusammen mit Achim Schmid und einem weiteren KKK-Mitglied wieder aus der Organisation aus und wirkte in der 2000 im baden-württembergischen Schwäbisch Hall gegründeten Sektion »European White Knights of the Ku-Klux-Klan« mit, die bis 2003 existierte. Zu den konspirativen Kapuzenmännern gehörten auch zwei Polizeibeamte der Böblinger Bereitschaftspolizei. Dem Untersuchungsbericht des baden-württembergischen Innenministeriums zufolge war einer der Polizisten schwerpunktmäßig an Einsätzen bei Delikten mit »rechtem Hintergrund« beteiligt. In derselben Einheit der Bereitschaftspolizei arbeitete später auch die 2007 in Heilbronn mutmaßlich vom NSU erschossene Michèle Kiesewetter. In seinen Berichten für das BfV teilte Richter damals mit, dass mehr als nur zwei Polizisten Mitglieder des Klans gewesen seien. Als »Kleagler«, offizieller Anwerber des KKK, hatte er den dazu nötigen Einblick in die Mitgliederstruktur des Geheimbunds.
Ein Beamter des BfV bezeichnete Richter als »Spitzenquelle«. Dieser verriet Interna über die rechtsextreme Szene in Sachsen-Anhalt, Thüringen, Baden-Württemberg und Sachsen sowie über die bundesweite Organisation »Blood & Honour«. Drei Jahre lang spitzelte Richter für das Landesamt für Verfassungsschutz in Sachsen-Anhalt, danach weitere zehn Jahre für das Bundesamt. In dieser Zeit zahlte ihm der Inlandsgeheimdienst etwa 180 000 Euro. Sogar Richters Reisekosten samt Spesen aus Anlass eines Treffens des Ku-Klux-Klans in den USA wurden erstattet.
Gegenüber den im Fall der NSU-Morde und -Brandanschläge ermittelnden Behörden war Richter nicht gesprächig. In den Vernehmungen durch das BKA bestritt er, das Trio oder eines seiner Mitglieder gekannt zu haben. Erst der Sonderermittler des NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestags, der frühere Richter Bernd von Heintschel-Heinegg, fand in Akten des Verfassungsschutzes Beweise dafür, dass »Corelli« zumindest 1995 »unmittelbaren Kontakt zu Mundlos« hatte. Im Februar wurde darüber hinaus dem Hamburger Verfassungsschutz eine CD mit brisantem rechtsextremem Material zugespielt, das zum Teil Thomas Richter zugeordnet werden konnte. In einigen Texten auf der CD ist von einem »Nationalsozialistischen Untergrund« die Rede – beschriftet ist die spätestens 2006 erstellte CD mit dem programmatischen Titel »NSU/NSDAP«.

Mit seiner Verlobten lebte Thomas Richter bis 2012 in Leipzig, wo er weiterhin das Internetportal »Nationaler Demonstrationsbeobachter« betrieb. Auf Demonstrationen fotografierte er Gegendemonstranten, um die Bilder anschließend ins Netz zu stellen. Dann half ihm der Geheimdienst, in Nordrhein-Westfalen neu anzufangen, um ihn vor möglichen Racheakten zu schützen.
Für Verschwörungstheoretiker ist der Fall »Corelli« ein gefundenes Fressen: »Corellis Tod beschert jener größtmöglichen Koalition aus CDU, SPD und – ja! – selbsternannter Bürgerrechtspartei Die Grünen eine Atempause. Sind es doch die Grünen, die vor allem in Stuttgart, wo sie regieren – aber auch seinerzeit im entsprechenden Bundestagsausschuss in Berlin –, alles daransetzen, eine rückhaltlose Aufklärung zu hintertreiben«, schreiben nicht etwa irgendwelche Truther oder Infokrieger, sondern der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik und der Politikwissenschaftler Hajo Funke. Gemeinsam raunen sie in der Taz: »Als Todesursache gab die Polizei den Klassiker aller unaufgeklärten und nicht aufzuklärenden Todesfälle bekannt: eine ›unentdeckte‹ Diabetes. Ein veröffentlichter Obduktionsbericht liegt nicht vor.«
Altgediente Verschwörungstheoretiker wie Henning Lindhoff, stellvertretender Chefredakteur des neurechten, libertären Magazins Eigentümlich frei, vertreten dagegen die Ansicht, dass es sich beim Tod von Thomas Richter um einen tragischen Zufall gehandelt hat: »Eine kryptisch formulierte Todesursache ruft stets Zweifler auf den Plan. Das wissen Polizeibeamte und Verfassungsschützer sicherlich nur allzu gut.« Sie hätten seinen Tod nicht mit einer »nicht erkannten Diabetes-Erkrankung« begründet, »die Raum für viele Fragen« lasse, schreibt Lindhoff. Das sehen Brumlik und Funke jedoch anders. Die beiden behaupten: »Die nicht anders als kriminell zu bezeichnende Energie aber, mit der die Sicherheitsexekutive und ihre parlamentarischen Wasserträger die Aufklärung des NSU-Skandals verhindern wollen, gefährdet die bundesrepublikanische Verfassung, unterhöhlt das Vertrauen der Bürger in die Demokratie und schafft eine Sphäre jenseits des Rechtsstaates.« Dass die Vernichtung von Akten nicht das Vertrauen in die bundesrepublikanischen Behörden stärkt, ist offensichtlich. Doch die Behauptung, die beauftragten Abgeordneten wären allesamt nicht an einer Aufklärung interessiert, entbehrt jeder Grundlage. Gerade die Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern haben bisher mehr Ergebnisse gebracht als andere Aufklärungsversuche.
Für die beiden emeritierten Wissenschaftler aber ist die Bundesrepublik auf dem besten Weg zu einer autoritären Bananenrepublik: »Beim Nato-Partnerland Türkei ist treffend von einem ›tiefen Staat‹ die Rede, einer jenseits der oberflächlich funktionierenden modernen Verwaltung wirkenden Koalition aus Militär, Geheimdienst und Polizei. Die deutsche Situation stellt sich noch dramatischer dar, führen doch hier nicht nur Dienste und Behörden ein politisch unkontrolliertes Eigenleben, sondern die gewählten demokratischen Institutionen selbst schirmen dieses Eigenleben vor der Öffentlichkeit ab.« Dass die »deutsche Situation« tatsächlich dramatischer ist als die türkische, darf stark bezweifelt werden. Aber die Beschwörung dieses Horrorszenarios hat auch eine entlastende Funktion: Brumlik und Funke müssen kein Wort über das Versagen der vielgerühmten »Zivilgesellschaft« verlieren und keinen Hinweis auf die Tatsache geben, dass auch die Presse nur zu gern von »Dönermorden« berichtete.

Dabei wollen Funke und Brumlik nur das Beste, denn andernfalls droht aus ihrer Sicht ein Rückfall in vergangene Zeiten: »Der NSU-Skandal, dieser noch nicht deutlich genug als Ausnahmezustand erkannte Fall von bewusstem und gewolltem Staatsversagen, beweist, dass Teile der Institutionen aktiv daran beteiligt sind, an die Stelle des demokratischen Souveräns die Souveränität vermeintlicher Staatsschützer zu setzen. Die DDR, die freilich nicht über die Camouflage einer liberalen Alltagskultur verfügte, folgte derselben Logik.« Dass das Morden des NSU der Herbeiführung einer Einparteienherrschaft samt marodierendem Geheimdienstwesen dienen sollte, ist zumindest eine originelle Erklärung. Erhellend ist sie jedoch nicht.