Das neue Album der Swans

Immer noch High Noon

Wie es die Band schafft, auch nach Jahrzehnten nicht im Sumpf der Reunions unterzugehen, kann man auf dem neuen Album der Swans hören. Das Mastermind der Gruppe, Michael Gira, gewährt im Gespräch mit Hendrik Otembra Einblicke ins Universum der Schwäne und die Entstehung von »To Be Kind«.

Im Jahr 2010 habe ich die Swans zum ersten Mal live gesehen. Jemand hatte meinem Kumpel Malle gesagt, dass man das erlebt haben müsse. Während des Konzerts in Berlin, das Malle daraufhin besuchte, schickte er mir eine SMS nach der anderen. Seine Wortwahl sorgte dafür, dass ich ein paar Tage später bei einigen wenig älteren Musikfanatikern auf die dreiteilige Autokolonne aufsprang, um nach Köln ins heute von der Schließung bedrohte »Gebäude 9« zu pilgern und die Band zu erleben. Ehrfürchtig stand das Publikum vor der Bühne, Kristof Hahn setzte mit seiner liegenden Steelguitar bestimmt fünf Minuten lang einen Ton frei, der, sehr reduziert, eine starke Anspannung herzustellen vermochte. Nach und nach kamen die anderen Musiker auf die Bühne, allesamt ihrem Aussehen nach entweder einem Fantasy-Film entsprungen oder gerade aus dem Knast entlassen, schufen Atmosphäre und schichteten perkussive Elemente aufeinander. Als der Bassist Chris Pravdica nach gut zehn Minuten den ersten Ton anschlug, setzte ich zufällig gerade meine Bierflasche an den Mund: Das Glas vibrierte an meinen Zähnen. Dann kam Michael Gira, sang, spuckte, fluchte, schrie, lachte und trat. Malle hatte Recht. Unglaublich.
Ich gehöre zu einer Generation Musikbegeisterter, die sich zuweilen beim Besuch von Wohnungen (zumeist älterer Menschen) dabei ertappen, neidisch jene Plakate längst vergangener Konzerte zu beäugen, die die Wohnungen zusammenzuhalten scheinen. Alte Platten kann man kaufen, vergangene Konzerte hingegen sind als Echtheitserlebnis verschwunden. Ein Phänomen des Retrozeitalters ist es eben, viele der Dinge, die einen begeistern, nicht im Moment ihres Stattfindens erlebt zu haben. Aber immer nur Gestern? Gute Platten erscheinen immer wieder, auch unfassbar tolle Live-Bands bespielen nach wie vor, wieder oder zum ersten Mal die Bühnen – aber es existiert eine unerfüllbare Sehnsucht nach Dingen, die man sich zwar archivarisch auf Tonträgern erschließen kann, die aber nicht mehr in dem Moment ihrer Blüte genossen werden können. Viele Gruppen, die einst in aller Munde waren, spielen auch heute noch Konzerte, bringen nach wie vor Schallplatten raus. Aber das, was sie einmal bedeutet und erschaffen haben – so meint man zumindest –, ist längst vergangen. Natürlich ist es schön und vollkommen nachvollziehbar, dass die The B-52s noch Alben aufnehmen, Wire ihre alten Stücke wieder auf die Bühne bringen, dass es Flipper wieder gibt, dass Black Flag versuchen, irgendwo anzuknüpfen – warum auch nicht? –, aber man beobachtet ihr Schaffen in dem Bewusstsein, dass diese Künstler selbst wissen, dass sie langsam von dem Berg herunterschreiten, den sie einst erklommen haben.
Wie es sich angefühlt hat, Michael Giras Band Swans in den achtziger und neunziger Jahren live zu sehen oder später deren ruhigere Nachfolger Angels of Light, kann meine Generation nur erahnen. Das ist in diesem Fall auch überhaupt nicht schlimm. 2010 ist mit der Wiederaufnahme der Swans nämlich etwas entstanden, das in der Epoche der Reunions die Ausnahme ist: Es kam zu keiner Wiederauferstehung, sondern zu so etwas wie einer Wiedergeburt. Eine Band fand mit zur Hälfte verändertem Line-up unter Gründervater Michael Gira wieder zusammen, bekräftigte ihren Kultstatus und erschuf auf dessen Grundlage etwas völlig Neues. Der repetitive Charakter mancher alter Stücke, eine Härte und Intensität, die das Gebaren der meisten Hardcore-Bands wie einen Aufstand im Kindergarten erscheinen lassen, der dringlich zelebrierte Wahnsinn auf der Bühne – das war den Swans sicher auch schon früher eigen. Aber doch entstand mit den Alben »My Father Will Guide Me Up a Rope to the Sky« (2010) und dem epischen »The Seer« (2012) eine neue Ära. Menschen, die zu jung waren, um die alten Swans erleben zu können, mussten das Einzigartige nicht missen: Da war plötzlich diese neue alte Band, die so fest mit zwölf Beinen in der Gegenwart stand, dass man gar nicht auf die Idee kam, dass sie ja von irgendwo hergekommen sein musste. Die neuen Swans konnte man entdecken, ohne über die alten Swans überhaupt irgendetwas zu wissen. Die durch die ekstatischen Live-Auftritte und die Ausnahmequalität der Alben entstehende Aufmerksamkeit ließ manche Hörer den Back-Katalog erst entdecken.
Einem gutgelaunten Michael Gira macht dieser Umstand noch bessere Laune, als ich ihn beim Interview in der Whiskey-Lounge des Berliner Hotel Michelberger darauf anspreche. »Ich empfinde es als Privileg«, sagt er, »dass junge Menschen durch ihre Begeisterung für das, was die Swans jetzt machen, auch die ­alten Sachen entdecken.« Den Grund liefert der zunächst etwas einschüchternd wirkende Gira gleich selbstbewusst mit; sein freundliches Lächeln und die zufrieden funkelnden, wachen Augen unter dem breitkrempigen Cowboyhut nehmen einem endgültig die Angst, er könne einen bei der falschen Frage auch einfach vor die Tür setzen oder einem die Kehle durchbeißen. »Es ist gute Musik!« lacht er. Musik, die sich nicht nur über die Jahrzehnte verändert, sondern auch in kürzester Zeit Wandlungen vollzogen hat. Er meint: »Eine Sache führt zur nächsten Sache, mich interessiert die Veränderung. Wenn wir eine Platte aufnehmen, klingt sie live wieder ganz anders. Ich bin ja kein Werbeagent, der sein Material vorstellt!«
Als die Swans 2010 wieder anfingen, schloss Gira deshalb aus, da weiterzumachen, wo er einst aufgehört hatte. Spuren der alten Swans lassen sich sicher noch finden, aber es ist die musikalische Kompromisslosigkeit, die erkennen lässt, dass der mittlerweile 60jährige US-Amerikaner noch immer hinter dieser Musik steckt. Freundlicher ist er im Alter geworden, aber auch milder sein Sound. Als er während der Promo-Tage in Berlin das neue Album »To Be Kind« vorstellte, spielte er die Stücke solo und in epischer Länge auf der Gitarre in der Berghain-Kantine. Klangen die Swans in den achtziger Jahren wie Mutter zu Zeiten von »Ich schäme mich, Gedanken zu haben, die andere Menschen in ihrer Würde verletzen« – also kalt, stripped down, langsam und erdrückend –, wirkt ihr Sound beim ersten Hören einladender, wärmer. Die Herausforderung ist nicht mehr die Härte – obwohl es sie noch immer gibt –, sondern der meditative Sog und die Länge der Stücke, die im Schnitt alle über zehn Minuten dauern, zwischen 5:09 bis 34:05 bei einer Spielzeit von über zwei Stunden. Die schleichende Variation und Anreicherung des immer gleichen Motivs ist zum vorherrschenden Stilmittel der Gruppe geworden.
Auch Gira sieht darin eine deutliche Entwicklung: »Die Stücke auf ›My Father Will Guide Me Up a Rope to the Sky‹ waren mit den Angels of Light auf der Akustikgitarre entstanden, ich wollte aber, dass sie härter klingen.« More sonic, more intense, more cinematic – darum ging es ihm bei der Reaktivierung der Swans. Auf dem mächtigen Album »The Seer« ließen die sechs Musiker über verschiedene Wege der Improvisation den Klang wachsen, verschmolzen fast mit den Instrumenten und miteinander. Auch hier stammten noch einige Songskizzen von der Akustikgitarre, andere waren bereits im neuen Setting der Band live entstanden. »To Be Kind« rekapituliert nun die Live-Erfahrungen der sechs Musiker, hier geht es so deutlich wie nie zuvor bei den Swans »um Grooves and Rhythms«, wie Gira freudig zu Protokoll gibt.
»To Be Kind« ist ein Meer voller akustischer Schätze. Dafür sorgen Field-Recordings. So hört man zum Beispiel Pferde, die Gira am liebsten ins Studio geholt hätte, um mit ihnen zu performen; eine Säge, die in ihrem verstörenden, unaufhaltsamen Klang Gewalt und Schönheit im selben Moment erfahrbar macht – eins der Lieblingssujets Giras – und gesampeltes, geschichtetes Gelächter (macht David Lynch nicht auch wieder schräge Musik? Vergiss es!) bei »Just a Little Boy«. Das auf der Sonic-Ranch in der Nähe von El Paso, Texas, entstandene Werk sei »ein Albtraum für jeden Tontechniker gewesen,« nicht nur wegen der Pferde: Weil der Band die Improvisation heilig ist, wurden viele Stücke live eingespielt, oft sogar ohne Kopfhörer. Für das Gefühl im Studio eine ideale Situation, für das Mischen aber eine Katastrophe. Ihren Anforderungen ist die Produktion aber gerecht geworden. »To Be Kind« klingt zwar mächtig und geschichtet, die einzelnen Elemente wirken aber sehr ausdifferenziert und nachvollziehbar.
Gira, der selbst Produzent ist, hatte auf die Entscheidungen größten Einfluss: »Ich mag zum Beispiel Bässe, die untenrum breit klingen, aber auch in den Mitten und Höhen Präsenz haben, so wie bei den Stranglers oder Joy Division.« Dass Gira gerne entscheidet, wissen nicht nur seine Mitmusiker. »Wenn ein Produzent wieder mit mir arbeiten möchte, sollte er auf so etwas achten«, lacht er. Was der 2010 dazugekommene, bärenstarke Bassist Chris Pravdica wohl selbst zu seinem Sound sagen durfte? Nun ja, sorgen muss man sich wohl nicht – die sechs Musiker wirken alle so exzentrisch und individuell, dass ein Untergehen im Bandgefüge kaum vorstellbar ist. Und dass jeder Einzelne für den Sound der Swans unersetzlich ist, weiß Gira ganz genau. »Daher gebe ich jedem der Musiker eigene Songwriting-Credits. Ich bin sehr glücklich darüber, dass wir in dieser Konstellation zusammen arbeiten. Ich kann mich aber als Künstler nicht von anderen Menschen abhängig machen.« Die Swans funktionierten also auch in anderer Besetzung? »Ja, aber dann klänge es anders. Ich muss aber unabhängig bleiben. Sie müssen ja noch nicht mal mit einem ›Fuck you!‹ aussteigen. Aber es kann ja sein, dass in ihren Leben Dinge passieren, die es unmöglich machen, weiterhin Teil der Band zu sein.«
Neben den Langzeitmitgliedern Norman Westberg, Phil Puelo, Thor Harris, Hahn und Pravdica arbeitete der Herr der Schwäne für das neue Album auch mit Gastmusikern zusammen. So finden sich auf »To Be Kind« die Stimmen und Instrumenteinspielungen von Bill Rieflin, Al Spx, Little Annie, Julia Kent, Daniel Hart, Sean Kirkpatrick, John Congleton und des gleich auf vier Stücken präsenten St. Vincent. Swans, das ist also Michael Gira in Zusammenarbeit mit ein paar souveränen, sehr individuellen Musikern – eine Kooperation, die so lange wie möglich dauert oder eben ganz exklusiv und punktuell ist: »Ich bin mehr oder weniger so etwas wie ein Künstler, ich habe einen Job, ich bin auf der Erde, um eine fesselnde, zwingende und bedeutungsvolle Arbeit zu erschaffen.«
Der Höhepunkt des Albums ist das achtminütige »Oxygen«, auch, wenn man bei einem so langen Stück nicht von einem Hit im üblichen Sinn sprechen kann. Das markante Bass-Riff hatte Gira auf der Akustikgitarre geschrieben, was kaum noch zu erkennen ist: »OXYGEEEEEEEN, JAJAJAJAJAJAAAAAAGNNNNNNNNN«, singt und schreit Michael Gira nach einer Weile, der Rest bleibt unverständlich. Um Texte geht es bei den Swans aber auch nicht in erster Linie. So sind die Worte, die Gira findet, immer spontan in der Situation des Singens entstanden und erst dann fixiert worden. Bedeutung stellen sie trotzdem her, nur eben keine eindeutige. Manche Texte begleiten Gira schon seit Jahren, verändern sich, blicken in verändertem Gewand immer wieder ins Licht. Die Zeit spielt eine Rolle im Werk Giras, geht es doch auch immer wieder um ihre Überwindung.
Ganz plastisch wird Giras Verständnis von Zeit und Entwicklung im Artwork des Albums. Die stickerähnlichen Babyköpfe, die in sechs Variationen das Cover zieren, entdeckte er schon 1978 bei dem Konzeptkünstler und Slash-Records-Gründer Bob Biggs. Seitdem wollte er ein Cover damit machen, geduldete sich damit aber bis jetzt. Die Köpfe wurden für das Album ausgeschnitten und auf Kartonpappe geklebt, weil er das Schöne mit dem Rauen zusammenbringen wollte. Ein 36jähriger Reifeprozess. Gira macht sich die Zeit zum Untertan, fügt sich ihr nicht, widmet sich seiner Kunst, als gäbe es kein Gestern und Morgen, oder vielmehr: als wären Gestern und Morgen das Material der Gegenwart.
Stichwort Zeit: Schon ist die Gesprächszeit im Hotel Michelberger vorbei. Jetzt solle er aber doch endlich das wohlverdiente Sandwich essen, sage ich zu ihm. Lachen. Als er mir zum Abschied die Hand schüttelt, ist sein Händedruck so fest, dass ich davon ausgehe, dass sich Gira auch in den nächsten Jahrzehnten nicht der Zeit unterwerfen wird.

Swans: To Be Kind (Mute Artists Ltd/Goodtogo)