Die Wirtschaftslage in Argentinien

Unter Geiern

Der jüngste Generalstreik in Argentinien zeigt: Die ökonomisch angespannte Situation erzeugt eine allgemeine Unzufriedenheit und ermöglicht neue Bündnisse gegen den Mitte-Links-Kurs von Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner.

Die Aufrufe zum Generalstreik haben auch dieses Jahr anlässlich des 1. Mai vielerorts Konjunktur. In Deutschland haben massenhafte, branchenübergreifende und politisch motivierte Arbeitsniederlegungen lediglich historische Bedeutung – der letzte Generalstreik fand 1948 statt. In Argentinien gehören branchenübergreifende Ausstände hingegen zum Alltag, auch unabhängig von Traditionsfeiertagen. Es verwunderte daher kaum einen Porteño, wie die Einwohner von Buenos Aires genannt werden, dass das öffentliche Leben in der Stadt am 10. April, einem gewöhnlichen Donnerstag, durch einen Generalstreik vollkommen zum Stillstand kam. Die weitläufigen Straßenzüge der sonst überfüllten Innenstadt waren fast auto- und menschenleer, nahezu alle Geschäfte bleiben geschlossen und in der Millionenstadt, in der sonst die Dieselmotoren der unzäh­ligen Linienbusse dröhnen, war es ungewohnt still.
Zweck des Arbeitskampfs in der Hauptstadt und weiten Teilen des Landes war, die Duchsetzung von Lohnerhöhungen, mit denen die rasante Inflation ausgeglichen werden soll. Die Lage vieler Angehöriger der Mittel- und Unterschicht verschlechtert sich trotz der für argentinische Verhältnisse relativ geringen Arbeitslosigkeit von offiziell etwa sieben Prozent seit Jahren stetig. Obwohl die Gehälter zuletzt jährlich um durchschnittlich ein Viertel erhöht wurden, reichen diese Lohnsteigerungen nicht, um die Teuerungsrate auszugleichen. Unabhängigen Instituten zufolge lag die Inflation 2013 bei knapp 30 Prozent, für das laufende Jahr werden 40 Prozent und mehr prognostiziert.

Generalstreiks sind auch in Argentinien nicht immer erfolgreich, doch dieser Ausstand hatte es in sich. Dem Aufruf von CGT-Azopardo, dem größten Gewerkschaftsverband, schlossen sich Tag für Tag weitere Gewerkschaftssektionen und -verbände an, eine seltene Einigkeit. Schließlich waren alle wichtigen Dachorganisationen und Branchen an dem Streik beteiligt. Zentral war, dass der Transportsektor komplett stillstand – außer einigen Taxis und privaten PKW bewegte sich nichts an diesem Tag. Dies führte zusammen mit den Straßenblockaden durch linke Gruppen und Parteien an Verkehrsknotenpunkten dazu, dass schließlich auch Arbeitswillige kapitulieren mussten. Viele Angestellte, die nicht Mitglied einer streikenden Gewerkschaft sind, wurden von ihren Arbeitgebern für diesen Tag freigestellt.
Die Zusammenarbeit der drei größten Gewerkschaftsverbände, CGT-Azopardo, CGT Azul y Blanco und CTA, Abspaltungen der regierungsnahen Verbände CGT und CTA oficialista, verdeutlichte, dass sich aufgrund der gegenwärtigen politischen und wirtschaftlichen Situation neue Möglichkeiten für pragmatische breite Bündnisse eröffnen. Angesichts der hohen Inflationsrate, die in Lateinamerika nur von Venezuela übertroffen wird, und der Abwertung des argentinischen Peso um 20 Prozent gegenüber dem US-Dollar Anfang des Jahres traf der Generalstreik den Nerv vieler lohnabhängiger Beschäftigter.
Von der Regierung wurde den Streikenden wahlweise Profilierungssucht oder Radikalismus vorgeworfen. So sprach Kabinettschef Jorge Capitanich davon, es habe sich nicht um legitime Streiks, sondern um wahllose Straßenblockaden gegen arbeitswillige Beschäftigte gehandelt. Die Gewerkschaften hingegen betonten die Legitimität ihres Handelns, immerhin seien mehr als 95 Prozent ihrer Mitglieder dem Streikaufruf gefolgt. Hugo Moyano, Generalsekretär der CGT-Azopardo, Hauptinitiator des Streiks und abtrünniger Verbündeter der Präsidentin, meinte: »Heute hat sich die Unzufriedenheit der Bevölkerung manifestiert!« Er mahnte die Regierung, die Warnung ernst zu nehmen.
So richtig es ist, dass der geltungssüchtige Moyano sich mit dem Streik selbst als Machtfaktor darstellen wollte, so war der Ausstand doch auch ein Ausdruck von Unzufriedenheit. Derzeit campieren hungerstreikende Bewohnerinnen und Bewohner von Elendsvierteln im Stadtzentrum von Buenos Aires und fordern die Verbesserung der Infrastruktur in ihren Wohnbezirken. Zu Beginn des neuen Schuljahres Anfang März legten Lehrkräfte im gesamten Land ihre Arbeit nieder. Nach einem ungewöhnlich langen und heftigen Arbeitskampf, bei dem die Bildungsgewerkschaft allen Gerichtsentscheidungen und selbst mahnenden Worten des Papstes zum Trotz an ihrem Ausstand festhielt, einigte man sich in der Provinz Buenos Aires nach 17 Tagen auf Lohnerhöhungen zwischen 30 und 38 Prozent. Neben der Inflation gibt es weitere Probleme, die Unmut hervorrufen: teils wochenlange Stromausfälle, ein allgemeines Gefühl der Unsicherheit, die geplante Kürzung von staatlichen Subventionen für Gas und Strom sowie immer vehementere Angriffe auf das Demonstrationsrecht und die freie Meinungsäußerung, beispielsweise durch den Versuch, strengere Auflagen für Demonstrationen durchzusetzen und Straßenblockaden zu unterbinden.

Zusätzlich zu diesen innenpolitischen Konflikten sieht sich die Regierung unter Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner auch international mit vielen Problemen konfrontiert. Faktisch ist Argentinien seit dem wirtschaftlichen Zusammenbruch Ende 2001 von der Aufnahme internationaler Kredite ausgeschlossen, da von dem Land seither absurd hohe Zinsen gefordert werden. Rating-Agenturen haben es längst auf Ramsch­niveau heruntergestuft, die argentinische Währung hat enorm an Wert verloren.
Verschärft wird die Situation durch den Druck, den einige Hedgefonds auf Argentinien ausüben. Sie haben in der Zeit der Wirtschaftskrise Staatsanleihen zu geringen Preisen von mitunter einem Fünftel des Nennwerts gekauft. Das Geschäftsmodell der in Argentinien schlicht »Aasgeierfonds« genannten Unternehmen ist recht simpel: Es besteht vor allem darin, im Zuge von Staatsbankrotten Anleihen extrem vergünstigt zu erwerben und für diese dann später ein Vielfaches des Kaufpreises zurückzufordern. Es sind genau diese Fonds, die verhindern, dass der letzte Teil des Schuldenschnitts Argentiniens vollzogen werden kann. Seit Jahren urteilen Gerichte über die Rechtmäßigkeit der Forderungen, der Konflikt trägt bisweilen bizarre Früchte: 2011 wurde das Schulschiff der argentinischen Marine auf Betreiben des Hedgefonds NML Capital in einem ghanaischen Hafen als Pfand festgesetzt. Zeitweilig reiste Fernández de Kirchner ausschließlich mit Charter-Flugzeugen auf Staatsbesuche außerhalb Lateinamerikas, um zu vermeiden, dass die argentinische Präsidentenmaschine ein ähnliches Schicksalereilt.
Würde Argentinien den Forderungen der »Aasgeierfonds« nachgeben, wäre ein erneuter Staatsbankrott unausweichlich, weil andere bereits ausbezahlte Schuldner ebenfalls Forderungen geltend machen könnten. Um die Dollarreserven, die sich durch die Schuldenrückzahlung und kontinuierlich steigenden Importe stetig verringern, nicht zusätzlich zu belasten, hat die Regierung seit 2011 eine strikte Devisenkontrolle eingeführt. Die Kapitalflucht konnte dadurch zwar eingedämmt werden, gleichzeitig entstand aber ein Dollar-Schwarzmarkt, der zeitweilig zu einer Differenz von 40 Prozent zwischen offiziellem und inoffiziellem Dollarkurs geführt hat. Erst die Lockerung der Devisenkontrolle Anfang des Jahres hat das Gefälle verringert.
Außerdem wurde als Reaktion auf den Kursverfall des argentinischen Peso – allein im Januar hatte die Währung 17 Prozent gegenüber dem US-Dollar verloren – Ende Januar eine Abwertung des Peso um 20 Prozent verfügt. Seitdem wird der Kurs mit Hilfe von Interventionen der Zentralbank weitgehend stabil gehalten. Dennoch sind weitere spekulative Angriffe auf die argentinische Währung zu erwarten. So kritisierte Wirtschaftsminister Axel Kicillof, dass der Ölkonzern Shell durch die massenhafte Nachfrage von überteuerten US-Dollars in Argentinien für einen Kurssprung um 80 Centavos gesorgt hätte, wenn die Zentralbank nicht schnell interveniert hätte.

Der linksperonistische Kirchnerismus der Präsidentin und ihres Vorgängers und verstorbenen Ehemannes, Néstor Kirchner, verfolgte in den vergangenen Jahren vor allem zwei Ziele: eine ökonomische Verbesserung der Lage der Armen und die Erhöhung der Konsumfähigkeit des Rests der Gesellschaft. Beides wurde nicht zuletzt durch eine ständige Erhöhung des Staatsdefizits erreicht. Die Mehrausgaben versuchte die Regierung durch die Ausweitung des Sojaanbaus für den Export zu kompensieren. Eine Politik, die der Präsidentin auch nach dem Tod ihres Ehemannes einen breiten gesellschaftlichen Rückhalt gesichert hat, wie zuletzt bei den Präsidentschaftswahlen 2011 deutlich wurde, als sie mit 54 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang gewann.
Doch von diesem Rückhalt ist heute nicht mehr viel übrig. Bei den Parlamentswahlen im vergangenen Oktober musste das Parteienbündnis Fernández de Kirchners herbe Verluste hinnehmen. Seither ist die Präsidentin weniger präsent als zuvor. Das liegt auch an verschiedenen Erkrankungen, die sie vorübergehend zur Niederlegung ihrer Amtsgeschäfte zwangen. Es scheint sich bei ihr eine gewisse Amtsmüdigkeit eingestellt zu haben und es wirkt so, als wolle sie gar keinen Nachfolger aufbauen. Die Präsidentin kann nach zwei Amtszeiten verfassungsgemäß nicht mehr wiedergewählt werden. Der regierungskritische Intellektuelle Aldo Casas, Herausgeber der marxistischen Zeitschrift Herramienta, spricht vor diesem Hintergrund von einer »Logik des Verwaltens«.
Offen ist, welche Bündnisse sich bis zur kommenden Präsidentschaftswahl in der zweiten Jahreshälfte 2015 bilden werden. Verschiedene Möglichkeiten sind denkbar, sicher ist wohl nur eines: Ob neoliberal, konservativ, linksliberal oder grün, der nächste Präsident oder die nächste Präsidentin wird wie eh und je peronistisch sein. Es sei denn, die für die meisten Argentinierinnen und Argentinier alltägliche Krise spitzt sich zu und führt zum neuerlichen Crash. Dann würden die Karten ganz neu gemischt.