Die Strafverfolgung von Vergewaltigung

Zahlen und Mythen

Anzeigen wegen Vergewaltigung haben selten Erfolg. Kriminologen haben nun neue Zahlen vorgelegt, die Probleme bei der Strafverfolgung sind aber schon lange bekannt.

Eigentlich hat das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) nur ein neues Forschungsprojekt angekündigt: Die Strafverfolgung von Vergewaltigung soll näher untersucht werden. Vorab veröffentlichten die Forscher um den profilierten Kriminologen Christian Pfeiffer aber schon einige Zahlen – die in der Tat mehr Fragen aufwerfen, als sie beantworten.
Zunächst lässt sich festhalten: Die Verurteilungsquote bei Vergewaltigungen ist gesunken. Nach einer Anzeige kommt es bundesweit nur in 8,4 Prozent der Fälle zu einem Urteil – vor 20 Jahren lag die Verurteilungsquote noch bei 21,6 Prozent. Vor allem zeigen sich aber große Unterschiede zwischen den Bundesländern. Pfeiffers Institut hat sechs Ländergruppen miteinander verglichen und festgestellt, dass die Verurteilungsquoten zwischen 4,1 Prozent und 24,4 Prozent schwanken. Um welche Länder es sich jeweils handelt, wollen die Forscher nicht öffentlich machen – sie befürchten, dass Vergewaltigungsopfer in den Ländern mit niedrigen Verurteilungsquoten dann von Anzeigen absehen könnten.

Auffällig ist außerdem, dass in den Ländern mit einer niedrigen Verurteilungsquote im Vergleich zur Einwohnerzahl mehr als doppelt so viele Vergewaltigungen registriert wurden wie in den Ländern mit höheren Verurteilungsquoten. Gründe dafür können die Forscher vorerst nur vermuten. Vielleicht führt eine höhere Arbeitsbelastung bei Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichten dazu, dass weniger Täter verurteilt werden. Vielleicht schrecken höhere Verurteilungsquoten aber auch potentielle Täter ab, so dass hier weniger Vergewaltigungen registriert werden.
Ohnehin zeigen die Zahlen nur, dass die Verurteilungsquoten zurückgegangen sind, nicht aber warum. Das führt zu Spekulationen. So schrieb etwa Gisela Friedrichsen, die Gerichtsreporterin des Spiegel, es könne sein, dass die Justiz einfach gründlicher arbeite. Und der Jurist Mirko Laudon vermutet auf seinem Blog strafakte.de eine hohe Zahl von Falschbeschuldigungen. Es ist richtig, dass die Zahlen des KFN wenig erklären, allerdings erheben sie auch gar nicht den Anspruch, das zu tun. Dafür ist aus jahrzehntelanger Forschung bereits einiges zur Strafverfolgung von Vergewal­tigungen bekannt. Dass Falschbeschuldigungen entgegen allen Mythen ein sehr seltenes Phänomen darstellen, ist etwa hinreichend belegt. So hat ein Forscherteam der London Metropolitan University die Strafverfolgung von Vergewaltigung in elf europäischen Ländern ausgewertet, für Deutschland geht diese Studie von 2009 davon aus, dass es sich in etwa drei Prozent der Fälle um Falschbeschuldigungen handelt. Andere Studien kommen auf Zahlen von zwei bis 15 Prozent.

Demgegenüber hält sich offenbar auch bei Polizei und Staatsanwaltschaften die Auffassung, dass Falschbeschuldigungen ein großes Problem darstellen. In einer Studie des Bayerischen Staatsministeriums des Innern von 2005 nahmen polizeiliche Sachbearbeiter an, dass es sich bei 33,4 Prozent der Anzeigen von Vergewaltigung und sexueller Nötigung um das Vortäuschen einer Straftat oder eine falsche Verdächtigung handele. Ein Kommissariatsleiter wird sogar mit den Worten zitiert: »Alle Sachbearbeiter von Sexualdelikten sind sich einig, dass deutlich mehr als die Hälfte der angezeigten Sexualstraftaten vorgetäuscht werden.« Solche Falschbeschuldigungen sind strafbar und müssten von den Behörden entsprechend verfolgt werden, was allerdings selten geschieht. Der Kommissariatsleiter erklärt dazu, viele angezeigte Fälle ließen »zwar die Vermutung einer Vortäuschung beziehungsweise falschen Verdächtigung zu, berechtigen jedoch nicht zu einer entsprechenden Anzeige«. Das heißt, der gesetzlich vorgesehene ausreichende Anfangsverdacht liegt gerade nicht vor. Es handelt sich bei diesen Aussagen um bloße Schätzungen der Polizeibeamten. Das spricht weniger dafür, dass Falschbeschuldigungen tatsächlich ein größeres Problem darstellen, als dafür, dass empirische Daten zumindest bei den bayerischen Ermittlern nicht angekommen sind.
Pfeiffer hält es für realistisch, dass es in zehn bis 15 Prozent der Fälle um haltlose Beschuldigungen geht. Er betont jedoch: »Selbst wenn man das abzieht, bleibt es dabei, dass 90 Prozent der Frauen, die tatsächlich vergewaltigt wurden und eine Anzeige erstatten, erleben, dass das Verfahren eingestellt wird oder mit einem Freispruch endet. Für diese Frauen bedeutet das enormen Frust und Enttäuschung und Ärger.« Pfeiffer geht davon aus, dass eher Beweisschwierigkeiten zu den niedrigen Verurteilungsquoten geführt haben könnten.

Es werden mehr Vergewaltigungen im sozialen Nahbereich angezeigt, also Fälle, in denen etwa der Partner oder ein Verwandter Täter sind. Oft geben die Angeklagten zu, dass es zum Geschlechtsverkehr kam, behaupten aber, diese sei einvernehmlich erfolgt. Die meisten Übergriffe erfolgen in der Wohnung des Täters oder des Opfers, es gibt keine weiteren Zeugen. Pfeiffer empfiehlt den Opfern, sofort nach der Tat Beweise zu sichern: »Auch wenn es schwer fällt, nicht unter die Dusche, sondern ins Krankenhaus. Kleidung oder Bettwäsche einpacken. Der Arzt kann Spuren sichern und auch die psychische Verfassung aufnehmen.« Bei der Polizei sollten Opfer darum bitten, dass ein Tonband oder ein Video von der Vernehmung angefertigt wird – auch das erhöht die Chancen, dass ihrer Aussage geglaubt wird.
Lassen sich die niedrigen Verurteilungsquoten tatsächlich vor allem mit solchen Beweisschwierigkeiten erklären? Die Rechtswissenschaftlerin Ulrike Lembke glaubt das nicht. Natürlich spielten Beweisschwierigkeiten eine Rolle, erklärt sie, »dass aus diesen Schwierigkeiten echte Strafverfolgungshindernisse werden, liegt aber nicht selten an Vergewaltigungsmythen und opferbeschuldigenden Stereotypen bei Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichten.« Die Hamburger ­Juniorprofessorin befasst sich vor allem mit Legal Gender Studies und betont, bei den Behörden gebe es »noch immer völlig sachfremde Vorstellungen darüber, wie sich ein ›richtiges Opfer‹ zu verhalten habe, welche Reaktionen des – oft traumatisierten – Opfers nachvollziehbar seien, wie viel Gewalt der Täter aufwenden müsse, wie sexuelle Interaktionen ›normalerweise‹ ablaufen würden … « Dem Opfer werde seltener geglaubt, wenn es mit dem Täter eine intime Beziehung hatte, außerdem werde angenommen, dass es oft einfach zu »Missverständnissen« zwischen Männern und Frauen komme. »Das ist auch deshalb besonders ärgerlich, weil es sich bei zutreffenden Kenntnissen über diese Fragen nicht um Geheimwissen handelt, sondern um Erkenntnisse, die teils seit Jahrzehnten, aber auch aktuell immer wieder veröffentlicht werden.«
Die Probleme bei der Strafverfolgung von Vergewaltigung liegen demnach vor allem in der Praxis. Speziell ausgebildete Fachkräfte bei den Ermittlungsbehörden und Gerichten können helfen. Inzwischen seien gerade die Polizeibehörden schon auf gutem Wege, meint Lembke. »In der Justiz gehören Weiterbildungen zu Vergewaltigungsmythen und Stereotypen allerdings noch nicht zum professionellen Selbstverständnis.« Wo man auf die entsprechenden Fachleute trifft und wo nicht, kann den Opfern aber leider auch niemand sagen.