Norwegens vergessene Menschenrechtsverletzungen

Krieg um die Hütten

Die norwegische Verfassung wird 200 Jahre alt. Zwei Künstler wollen zu den Feierlichkeiten auch Menschenrechtsverletzungen in Norwegen thematisieren.

Vorkämpfer für Menschenrechte, Hort der Gleichheit und Freiheit – so sieht Norwegen sich gern selbst. Zwei Künstler aus Norwegen und Schweden wollen die offiziellen Feierlichkeiten zum 200. Geburtstag der norwegischen Verfassung von 1814 allerdings damit konterkarieren, dass sie das sogenannte Kongodorf wieder ­aufbauen und die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen thematisieren, die vor allem in den vergangenen 100 Jahren dort begangen wurden.
1914 wurde in Oslo die Weltausstellung ausgerichtet. Zu den damaligen Attraktionen zählte ein im Frogner-Park eigens errichtetes Dorf, das Kongolandsbyen, in dem wie in einem Zoo fünf Monate lang Menschen ausgestellt wurden. Anderthalb Millionen zahlende Besucherinnen und Besucher begafften in dieser Zeit 80 als Kongolesen vorgestellte Menschen aus dem Senegal, die zu diesem Zweck nach Norwegen geschafft worden waren.

»Wir hörten von diesem Kongodorf zum ersten Mal vor vier Jahren und waren eigentlich davon ausgegangen, dass seine Existenz den Norwegern allgemein bekannt sei«, sagten die Künstler Mohamed Ali Fadlabi und Lars Cuzner zur Jungle World. Dann sei man aber auf etwas gestoßen, das sich am besten als »nationale Amnesie« beschreiben lasse: »Die Ausstellung ist wie aus dem kollektiven Gedächtnis ausradiert, über die Gründe können wir nur spekulieren.«
Kritik an der Ausstellung habe es damals nicht gegeben, berichten Fadlabi und Cuzner, »im Gegenteil, in vielen Zeitungen wurde darüber berichtet, wie lustig sie sei«. Nun wollen sie ein neues Kongodorf errichten, in dem Freiwillige aus aller Welt wohnen sollen, »unabhängig von ihrer Hautfarbe, Religion, Herkunft«. Die Künstler warnen allerdings, dass die Dorfbewohner des Jahres 2014 mit viel Kritik rechnen müssten. »Sowohl Antirassisten als auch Nazis haben bereits angekündigt, dass Dorf niederbrennen zu wollen«, sagt Fadlabi. »Natürlich aus unterschiedlichen Gründen, aber die Drohungen ähneln sich erstaunlich.«
Fadlabi, der aus dem Sudan, wo er Kunst und Politik studierte, nach Norwegen gekommen ist, und Cuzner, der ursprünglich aus Schweden kommt, wollen nicht nur dem norwegischen, sondern auch dem skandinavischen Selbstbild etwas entgegensetzen: »Noch vor 100 Jahren war Skandinavien durch Eugenik und wissenschaft­lichen Rassismus ganz oben auf der Rassisten-Pyramide, nun hat sich diese Überlegenheit zu einer in Moralfragen gewandelt – in Skandinavien herrscht, wie man nicht müde wird zu betonen, absolute Gleichheit, was die Skandinavier also zu den gleichsten Menschen der Welt macht. Und wie kann man diesen gleichsten Menschen gleichgestellt sein?«
Die beiden Künstler versuchen derzeit immer noch, mehr über die Einwohner des Kongodorfs zu erfahren. »Wir sind extra in den Senegal gereist, seither wissen wir den Namen des Mittelsmanns, der die Reise der anderen organisierte. Jean Thiam, so hieß er, kam etwas früher nach Oslo, um sich davon zu überzeugen, dass das Dorf den Erwartungen entsprach, und wohnte dann mit seiner Familie fünf Monate lang in der größten Hütte.«

Menschen auszustellen passt sicher nicht ins Selbstbild der norwegischen Nation, die ihre vor 200 Jahren beschlossene Verfassung gern für das liberalste jener Zeit hält und dabei vergisst, dass gleich im zweiten Paragraphen des am 4. Mai 1814 beschlossenen Grunnloven festgelegt wurde, dass »Juden, Jesuiten und Mönchen« die Einwanderung nach Norwegen verboten sei. Zu den gängigen Erklärungen gehörte bislang, dass unwissende Bauern an der Ausarbeitung der Verfassung beteiligt gewesen seien und auf diesen Paragraphen bestanden hätten. »Die Mehrzahl der Männer war sehr gut über die großen Debatten in Europa orientiert«, sagt hingegen der Historiker Håkon Harket, dessen Buch »Paragrafen« in den nächsten Tagen erscheinen wird. »Es ist deswegen ausgeschlossen, dass sie nicht genau über die Situation der Juden in anderen Ländern Bescheid wussten.« Zumal Dänemark den Juden im März 1814 einen formellen Freibrief ausgestellt hatte. Erst im Jahr 1851 hob das norwegische Parlament das Einreiseverbot für Juden auf, Mönchen wurde der Zuzug erst 1897 erlaubt, ­Jesuiten mussten bis 1965 warten.
Fadlabi und Cuzner wollen mit ihrem Kongodorf aber auch thematisieren, was die Behörden Sinti und Roma nach dem Krieg in Norwegen antaten. Vielen Familien wurden nicht nur die Kinder weggenommen, die man in staatliche Heime brachte, auch Zwangssterilisationen waren üblich. Letztere betrafen auch andere Gruppen: Zwischen 1934 und 1977 wurden insgesamt mindestens 44 000 Personen, die meisten gegen ­ihren Willen, unfruchtbar gemacht, weil ihre Lebenskonzepte nicht in die norwegischen Vorstellungen passten. Dazu gehörten auch Angehörige der samischen Minderheit sowie als »schwer erziehbar« eingestufte Mädchen, die sich oft nur gegen ihre spießige Umwelt gewehrt hatten.
Das am 15. Mai beginnende Kongolandsbyen soll eine Ergänzung der Ausstellung im Akershus Kunstsenter mit dem Titel »1814 revisited – the past is still present« sein, wo den offiziellen Feiern der »norwegischen Gutheit« ebenfalls die Menschenrechtsverletzungen der letzten 100 Jahre gegenüber gestellt werden. Eines der Themen wird die staatliche Überwachung von Kommunisten – und wen man in Norwegen dafür hielt – während des Kalten Kriegs sein. Aber auch die Behandlung der sogenannten tyskertøssene, der »Deutschenhuren«, die sich im Zweiten Weltkrieg mit den deutschen Besatzern einließen, soll erörtert werden.