Boko Haram und der Umgang des Westens mit dem Jihadismus

Muttertagsempörung

Am Terror von Boko Haram in Nigeria ­offenbart sich die Ambivalenz des Westens hinsichtlich der Rechte von Frauen und Homosexuellen.

Fast einen Monat hat es gedauert, bis die Entführung und mutmaßliche Versklavung von zunächst über 300 Schülerinnen im Norden Nigerias zu einer Angelegenheit internationaler Empörung geworden ist. Anfänglich sah es gar nicht so aus, als würde diesem Verbrechen größere Aufmerksamkeit zuteil werden. In der internationalen Öffentlichkeit wurde die Entführung erst nach dem Bekennervideo des Boko-Haram-Sprechers Abubakar Shekau registriert – sehr zum Unwillen der nigerianischen Regierung. Bereits eine Woche nach der Entführung gab es in Nigeria Proteste der Angehörigen, die der Regierung Untätigkeit vorwarfen. In mehreren großen Städten kam es zu Demonstrationen. Im Norden Nigerias sind die Schulen wegen der Terrorkampagne von Boko Haram seit zwei Jahren fast durchgehend geschlossen. Die Mädchenschule war nur kurzfristig geöffnet worden, um den Schülerinnen ihre Abschlussprüfungen zu ermöglichen. Erst im Februar hatten die Jihadisten eine Schule überfallen und 59 Schüler und Lehrer ermordet.
Goodluck Jonathan, der nigerianische Präsident, ein Christ, agierte bislang wenig erfolgreich gegen die Jihadisten, die seit 2011 ein Massaker nach dem anderen begehen. Eher werden Regierungskritiker eingeschüchtert oder eingesperrt, so auch in diesem Fall. Die Ehefrau des Präsidenten, Patience Jonathan, soll die Verhaftung der Anführerinnen der Proteste im Norden angeordnet haben. Sie hat keinerlei Befugnis dazu, aber offenbar die Macht. Von ihr stammt auch die Sprachregelung, der zufolge in den ersten Tagen nach der Entführung von einer »mutmaßlichen Geiselnahme« die Rede war. Patience Jonathan soll die Familien der Entführten beschuldigt haben, die Geschichte zu erfinden und selbst Boko Haram anzugehören. Das hört sich ziemlich verrückt an, ist aber in der nigerianischen Gesellschaft sehr wirksam: Die meisten Familien der entführten Schülerinnen gehen nicht an die Öffentlichkeit, weil sie die Stigmatisierung ihrer Töchter fürchten, sollten diese zurückkehren. Gerade im Norden, wo die Sharia das nigerianische Strafrecht bereits überwiegend ersetzt hat, gelten vergewaltigte Frauen nicht als Opfer, sondern als Täterinnen.

Die erst im Januar verschärfte Gesetzgebung gegen Homosexualität ist zudem ein Hinweis darauf, dass Sharia und säkulares Strafrecht sich in Nigeria einander annähern. Der politische Zweck ist klar: Auf diese Weise soll ein Konsens zwischen den ethnischen und religiösen Gruppen im reichsten Land Afrikas auf Kosten der sexuellen Minderheiten und der Frauen und der herrschenden Eliten aufrechterhalten werden. Die Dynamik der Anpassung an die jeweils reaktionärsten Strömungen der Gesellschaft trägt nicht unwesentlich dazu bei, dass Boko Haram immer spektakulärer und grausamer vorgeht, um sich Gehör zu verschaffen. Das ist das auch aus Europa bekannte Gesetz des Appeasements: Wenn man dem Aggressor nachgibt, wird der nicht friedlicher, sondern aggressiver.
Wie brüchig aber dieser Konsens ist, zeigen nun die Proteste derer, die Schutz vom Staat vor dem jihadistischen Terror fordern. Verzweiflung bringt diese Protestierenden dazu, aus dem sozialen Zwangskonsens auszuscheren und sich ganz partikular für ihre eigenen Interessen einzusetzen. Dies aber ist im fragilen Machtgefüge des nigerianischen Staatsapparats nicht vorgesehen. Boko Haram selbst ist ein der Kontrolle muslimischer Teile der politischen Klasse im doppelten Wortsinn entsprungenes Ungeheuer.
Bei Boko Haram handelt es sich, dank der Förderung durch Fraktionen der herrschenden Klasse, nicht mehr um eine abseitige Sekte, sondern um eine hochgerüstete Armee. Keineswegs vertritt diese Gruppierung einen besonders radikalen Islam, der, wie man jüngst lesen konnte, selbst al-Qaida zu durchgeknallt sei. Auch wenn einige islamische Kleriker die Verbrechen von Boko Haram verurteilen, richten sich diese Verurteilungen nur gegen einzelne Taten. »Diese Aktion hat nichts zu tun mit den noblen Lehren des Islam«, hieß es etwa in einer in der vergangenen Woche veröffentlichten Erklärung von al-Azhar aus Kairo, einer der ältesten und wichtigsten Institutionen des sunnitischen Islam.
Die Behauptung, dass es sich bei den nigerianischen Jihadisten um besonders radikale Islamisten handle, die keinerlei Verbindung mehr zum eigentlichen Islam – was immer das sein soll – hätten, ist allerdings im Westen die Voraussetzung für die Empörung über die Entführung der Schülerinnen. Ayaan Hirsi Ali machte darauf jüngst im Wall Street Journal aufmerksam: Auf arabisch nenne sich Boko Haram »Vereinigung für die Sunna und den Jihad«, ein Name, der zwar nicht so einprägsam sei, aber doch sehr viel deutlicher auf deren Ziele verweise.
Die Entführung der Schülerinnen verweise auf einen zentralen Aspekt des Islamismus: »Boko Haram glauben wirklich, dass die Schülerinnen versklavt besser dran wären als gebildet.« Aber wie solle man das linken Westlern erklären, die eher Kritikerinnen als »islamophob« bezeichneten, als für die Grundrechte von Frauen einzutreten? Hirsi Ali sollte vor einigen Wochen die Ehrendoktorwürde der Brandeis-Universität in Boston verliehen werden. Das wurde von linken Gruppen verhindert, die ihre Islam-Kritik als rassistisch denunzierten. Jetzt fragt sie: »Wo sind die muslimischen Studentenorganisationen, die Boko Haram verurteilen? Wo ist die Empörung bei den Freitagsgebeten? Diese Mädchen verdienen mehr als einen Twitter-Hashtag-Protest.« Auch für die westliche Linke sei es an der Zeit, aufzuwachen: »Wenn sie sich entscheiden, Boko Haram als Abirrung zu betrachten, tun sie das auf eigenes Risiko. Die Entführung der Schülerinnen ist keine isolierte Tragödie; ihr Los spiegelt eine neue Welle des Jihadismus wider, die weit über Nigeria hinausweist und eine tödliche Bedrohung für Frauen und Mädchen darstellt.« Hirsi Ali beendet ihren Kommentar mit der Bemerkung: »Sollte mein Hervorheben dieser Tatsachen einige Leute mehr verletzen als die abscheulichen Taten der Boko Haram, dann soll es so sein.«

Auch Michelle Obama kritisierte bei ihrer Muttertagsansprache nur im Allgemeinen, der Vorfall in Nigeria sei etwas, das man jeden Tag sehe, wenn Mädchen in aller Welt ihr Leben riskierten, um ihre Ambitionen zu verfolgen. Die Wahrheit über den Jihad wird damit geleugnet. Die weltweite Solidaritätskampagne #bringbackourgirls, der sich auch Michelle Obama angeschlossen hat, ist das Gegenteil des Eintretens für die Grundrechte von Frauen und Mädchen, es ist vielmehr die Herstellung eines Konsenses auf der Grundlage von Muttersein. Die politische Existenz von Goodluck und Patience Jonathan hingegen ist dank der falschen Empörung fürs Erste gesichert. Währenddessen werden immer mehr Mädchen in die Sklaverei verkauft, Homosexu­elle zu Tode gehetzt und Hunderttausende ihres ohnehin schon jämmerlichen Auskommens beraubt. Nach dem jüngsten Massaker von Boko Haram in Gamburo Ngala mit Hunderten von Toten sind mehr als 300 000 Menschen auf der Flucht.