Kann Hashtag-Aktivismus politisch etwas bewirken?

#GutesGewissen

Seit der Entführung Hunderter nigerianischer Schulmädchen beteiligen sich Millionen Menschen über den Hashtag #BringBackOurGirls auf Twitter an der Kampagne für ihre Befreiung. Kann diese Form von Aktivismus etwas bewirken?
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Irgendwann 2007 fingen die ersten Nutzer auf Twitter an, Hashtags zu verwenden – ein Stichwort, dem ein Raute-Zeichen vorangestellt wird, um alle Tweets zu einem bestimmten Thema auffindbar zu machen. Seitdem hat der Hashtag eine große Karriere gemacht. 2009 färbten zahllose Twitter-User ihre Profilbilder grün, als es nach den Wahlen im Iran zu Protesten der »Grünen Bewegung« kam, die unter dem Hashtag #TeheranElection weltweit bekannt wurden. 2011 wurden Hashtags im Zusammenhang mit der Occupy-Bewegung benutzt. 2012 wurde die Kampagne gegen den ugandischen Kriegsverbrecher Joseph Kony unter #Kony2012 bekannt und 2013 kam in Deutschland niemand um das Hashtag #Aufschrei herum, unter dem Frauen ihre Erfahrungen mit sexuellen Übergriffen twitterten.Mittlerweile kommt kaum eine Fernsehsendung ohne Twitter-Feedback aus.
Doch mit den Hashtags kam auch die Kritik. Hat es etwas mit politischem Aktivismus zu tun, wenn wir bequem an unseren Bildschirmen sitzen und gelegentlich mal auf »Gefällt mir« klicken? Interessiert uns der Aufreger der Woche wirklich, oder beteiligen wir uns nur mit einer Handvoll Tweets an einer Kampagne, um unser Gewissen zu entlasten und das wohlige Gefühl zu genießen, »etwas getan« zu haben? Verkommt nicht der Hashtag zur reinen Modeerscheinung, bei der es mehr darum geht, sich bei den eigenen Followers oder Facebook-Freunden zu profilieren?
Besonders #Kony2012 war vielen Menschen unangenehm. Die Kampagne samt zugehörigem Youtube-Video stammte von westlichen Aktivisten, die eigentlich nichts mit den Problemen der Menschen in Uganda zu tun hatten. Seit den neunziger Jahren hatte Joseph Kony zahlreiche Kriegsverbrechen begangen und Kindersoldaten rekrutiert, ohne dass sich die Welt bis dahin sonderlich dafür interessiert hätte. Als #Kony2012 aufkam und von Prominenten wie Stephen Fry und Rihanna verbreitet wurde, fingen viele Menschen an, über ein Land zu twittern, von dem sie so gut wie gar nichts wussten. Für den Feelgood-Aktivismus – so lautete damals die Kritik – wird eine beliebige Sau durchs Dorf getrieben, während in der Welt zahllose weitere Kriegsverbrecher weiterhin ungehindert ihr Unwesen treiben. Manche sahen sogar rassistische und kolonialistische Einmischung in der Kampagne. Das böse Wort vom »Gutmenschen« machte die Runde.
Die Kampagne #Kony2012 war der Grund für den bisher einzigen Eintrag über »hashtag activism« im Urban Dictionary, einem Online-Wörterbuch für Slang-Ausdrücke. Dort heißt es sarkastisch: »Eine Form von Aktivismus, bei der man etwas gegen ein Problem tut, indem man Tweets schreibt oder Links auf Facebook postet, ohne jemals die Absicht zu haben, konkret etwas zu unternehmen.«
Reine Anteilnahme – sagen viele Kritiker – helfe überhaupt niemanden, solange auf den Hashtag-Aktivismus nicht auch Taten folgen. Aber genau das ist erstaunlich oft der Fall.
Die 2,4 Millionen Tweets über Joseph Kony im März 2012 führten dazu, dass die Afrikanische Union 5 000 Soldaten nach Uganda schickte, um Kony zu stoppen – unterstützt von rund 100 Militärberatern, die von den USA entsendet worden waren. Es ist fraglich, ob das auch ohne die Aufregung in den sozialen Medien geschehen wäre.

Ein ähnlicher Fall lässt sich gerade in Nigeria beobachten, wo mehr als 250 Schulmädchen von der islamistischen Boko Haram entführt wurden. Der Hashtag #BringBackOurGirls wurde hier nicht von westlichen Aktivisten, sondern von Menschen in Uganda ins Leben gerufen, er fand aber ein weltweites Echo – bis hin zu Michelle Obama. Derlei Einmischung wird durchaus kritisch gesehen. So twitterte der nigerianisch-amerikanische Schriftsteller Teju Cole am 8. Mai: »Denkt daran: #BringBackOurGirls, ein Meilenstein für die ni­gerianische Demokratie, ist nicht dasselbe wie #BringBackOurGirls, eine Welle globaler Sentimentalität.«
#BringBackOurGirls hatte bisher wenig Erfolg. Genauso folgenlos scheint Hashtag-Aktivismus im Fall Trayvon Martin zu sein. Der 17jährige afroamerikanischer Schüler wurde Anfang 2012 in Sanford, Florida, vom Nachbarschaftswachmann George Zimmerman erschossen, ganz einfach, weil dieser fand, dass Trayvon verdächtig aussah. Außerhalb von Florida erregte der Fall zunächst kaum Aufmerksamkeit, bis fast drei Millionen Tweets mit dem Hashtag #JusticeForTrayvon eine internationale Debatte über Rassismus, Waffengesetze und Floridas umstrittenes »Stand your ground«-Gesetz auslösten. Die öffentliche Aufmerksamkeit führte dazu, dass ein Polizeichef zurücktrat, ein Staatsanwalt abgelöst wurde und sogar Barack Obama sich in die Angelegenheit einschaltete. Schließlich wurde der Fall wieder aufgenommen und vor Gericht gebracht – allerdings aus Sicht der Aktivisten mit wenig Erfolg: George Zimmerman wurde 2013 in allen Punkten freigesprochen.

Hashtag-Aktivismus, Klicktivismus auf Facebook und Online-Petitionen stehen in der Nachfolge des als Slacktivism bekannten Phänomens, bei dem Menschen politische Inhalten auf sozialen Netzwerken teilen, ohne sich weiter damit zu beschäftigen, worum es dabei eigentlich geht. Etwas Gutes tun und Spaß dabei haben.
Hinter diesen Kampagnen stehen aber meistens Aktivisten, die sehr wohl mehr tun, als nur zu klicken. Für sie sind die sozialen Netzwerke oft die einzige Chance, überhaupt Aufmerksamkeit für ihr Anliegen zu erregen, besonders wenn es um die Stimmen von Minderheiten geht, die von den Massenmedien ausgeschlossen sind.
Zu unterscheiden sind zwei Sorten von Kampagnen: Solche, die ein bestimmtes Ziel verfolgen, wie die US-amerikanische Satire-Sendung »Colbert Report« abzusetzen oder Joseph Kony das Handwerk zu legen – und solche, die einfach nur eine öffentliche Debatte anstoßen wollen.
In Deutschland ist #Aufschrei das bekannteste Beispiel, als im Januar 2013 zahllose Frauen über ihre Erfahrungen mit sexuellen Übergriffen aller Art berichteten. Auch dieser Hashtag rief Kritiker auf den Plan: Viele der Begebenheiten, die im Rahmen von #Aufschrei veröffentlicht wurden, seien doch Kleinigkeiten und die Frauen sollten sich nicht so anstellen – vielmehr solle man sich um diejenigen Frauen kümmern, die wirklich Opfer von Gewalt und Vergewaltigung würden. Der Hash­tag #Aufschrei wollte eigentlich darüber hinaus den alltäglichen Sexismus sichtbar machen, mit dem Frauen sich in unserer Gesellschaft herumschlagen müssen. Das Ergebnis war jedoch nur, dass sich die Fronten verhärteten. Während die einen sich darin bestärkt sahen, dass unsere Gesellschaft durch und durch sexistisch sei, fanden viele andere, dass da aus vielen Mücken noch mehr Elefanten gemacht worden seien. Aber vielleicht hat #Aufschrei wenigstens diejenigen erreicht und nachdenklich gemacht, die dazu bisher keine Meinung hatten.