Talmi

Zirkus Norm

Sie hat schon etwas Rührendes, die Reklame für den Zirkus. Selbst extrem harte Marken wie Kinderschokolade und Persil erlauben sich gelegentlich zarte Imagekorrekturen; die Plakate jedoch, die die großen Schaustellerbetriebe aushängen, sind wie in Stahl gegossen; seit Jahrhunderten setzen sie auf dieselben Reize: grelle Farben, große Lettern, biedere Exotik. Neuerdings erwächst Roncalli und Charles Knie schaurige Konkurrenz: der sogenannte »Horror-Zirkus«, der unter wechselnder Trägerschaft durch die deutschen Städte zieht, und, so stehts zu vermuten, unheimliche Clowns, schlimme Mutanten und pathologische Tiere bietet – also das, was es in jedem Zirkus zu sehen gibt, nur ohne Fröhlichkeit und Leichtigkeit, um den Grusel wieder aufzuheben. Der Zirkus war historisch immer auch Freakshow, sollte Grauen, Gelächter und Staunen zugleich auslösen. Seine einseitige Verdüsterung folgt dem Trend der Populärkultur insgesamt, sich die Wolle schwarz zu färben. War die unerbittliche Schwärze der frühen Gothic-Bewegung noch Negation der Gesellschaft als ganzer, so ist sie spätestens mit der Band Unheilig ganz im Schlager angekommen: die Tragödie der Existenz zum Mitschunkeln. Auf Amazon kann man eine »Tagesdecke mit Pentagramm« bestellen und schauerliche Halloween-Requisiten gehören zum Standarddekor der Jugendzimmer aller anständigen Mittvierziger. Weil der Schrecken Alltag geworden ist, taugt er auch zur Alltagsunterhaltung; alles Abjekte, Normverletzende wird ihm geraubt und selbst zur Norm erklärt. Mord, Wahnsinn und Chaos werden nicht vereinzelt hervorgeholt, damit man sich des urtümlichen Grauens erinnert und sie lachend wieder vergisst, sondern sie werden als Kräfte sozialer Realität gefeiert. Wer Unheilig hört, wählt auch CDU.