Berlin Beatet Bestes. Folge 242.

Zurück in die Zukunft

Berlin Beatet Bestes. Folge 242. Linkerton: Vertreter-Arie / Gruppe Vorwärts: Denk’ dran (1977).

In einem Kreuzberger Second-Hand-Plattenladen fiel mir vorige Woche diese Single in die Hände. Sie wirft einige Fragen auf, denn auf dem Cover und Label gibt es keine Informationen. Man findet lediglich den Namen der Bands, den Songtitel und die Parole: »30 Jahre FDJW – Gemeinsam für unsere Zukunft«. Da klingelt bei mir gar nichts. Der Sommelier analysiert zunächst die Farbe und den Geruch, bevor er den Wein schmeckt. Also nehme ich mir das Cover vor. Es kommt, typisch für linke Projekte dieser Zeit, fast ohne Gestaltung aus. Linke Graphik war damals total langweilig. Nie gab’s irgendwas zu sehen, außer Typo. Ich werfe die Platte auf den Plattenteller. Auf der A-Seite hört man Linkerton mit dem Song »Vertreter-Arie«. Es erklingt ein leises, jazzmäßiges Piano und ein Schlagzeugintro. »Herr Generaldirektor! Herr Abgeordneter! Ich weiß nicht ein und nicht aus./Oh, sie bestürmen mein Haus!/Ich fleh’ sie an, auf der Stell’,/schafft ein paar Lehrstellen, schnell!« Ein Zwiegespräch zwischen Kapitalist und Politiker. Ich hör mal weiter. Die Band setzt ein, im Bluestempo, mit Schlagzeug, Bass und verzerrter elektrischer Gitarre: »Ja, so glätten wir die Wogen,/stell’n Vertrauen wieder her./Wenn wir sie integrier’n,/wer’n sie uns akzep­tier’n./Könn’ wir weiter dirigieren, la, la, la!« Es klingt wie der Agitprop-Krautrock von Floh de Cologne oder Lokomotive Kreuzberg, nur viel schwächer. Gewerkschaftsrock.
Jetzt die B-Seite: Im etwas flotteren Tempo, nur begleitet von Klavier, Gitarre und Geige, prescht die Gruppe Vorwärts mit dem Titel »Denk’ dran« vor: »Gestern ging mir mal wieder alles auf’n Keks./Ich weiß nicht, wie mach’ ich das bloß?/Arbeiten, die ganze Woche,/doch sonst mach’ ich nicht viel los./Doch freitags da gibt’s Kohle./Natürlich zu wenig, ist ja klar./Heute abend wird auf den Putz gehauen,/in der Kneipe mit den duften Frau’n./In der Disko­thek (Chor: Baa-Papp-Be-Lu-Bap) Pingo-Pogo./Und dann zieh’n sie mir das Geld aus der Tasche./Ich sag’ mir, alles viel zu teuer!/Doch was soll ich mach’n?/Ist egal, ich bleib’ hier/und trink noch ein Bier./Nee! Keen Bier! (Kee-een Bier)/Sondern Brause. (Bra-au-se)/Und dann quatscht mich einer an:/Hey, hey, denk’ daran,/dass man nichts ändern kann,/wenn man nichts tut!« Grips-Theater! Der Text hat ge­nau den gleichen belehrenden Tenor wie viele Kindertheaterstücke der siebziger Jahre.
Meine Vermutung: Die Platte ist eine Privatpressung zweier linker Rock- und Popgruppen aus den siebziger Jahren. Doch was ist FDJW? Zum Glück gibt es Wikipedia. Die FDJW war die Freie Deutsche Jugend Westberlins, die Jugendorganisation der SEW, der sozialistischen Einheitpartei Westberlins. Oh Mann! Das waren die Westberliner DDR-Fans! Die Partei wurde jährlich mit über zehn Millionen Mark aus der DDR finan­ziert. Aber ­offenbar wurde nichts davon in diese wenig überzeugende Single ge­steckt. So konnte das ja nichts werden mit der Infiltration der deutschen Linken!
Mein Name ist Andreas Michalke. Ich zeichne den Comic »Bigbeatland« und sammle Platten aus allen Perioden der Pop- und Rockmusik. Auf meinem Blog Berlin Beatet Bestes (http://mischalke04.wordpress.com/) stelle ich Platten vor, die ich billig auf Flohmärkten gekauft habe.