Die deutsche Debatte über den Ersten Weltkrieg

Das Unschuldslamm

»Schuldstolz« und immer wieder »Versailles«: Die deutsche Debatte über den Ersten Weltkrieg ist ein Kampf ums Geschichtsbild. Sie verfolgt ein einfaches Ziel: Weg mit der historischen Schuld, damit Deutschland in Europa seine Hegemonieansprüche ungehindert durchsetzen kann.

Der Focus-Redakteur Michael Klonovsky hat von seiner Visite beim Berliner Historiker Jörg Friedrich ein originelles Bonmot mitgebracht. Friedrich konfrontiere »neuerdings seine Bekannten mit der Frage, ob sie mit dem Ausgang des Ersten Weltkrieges eigentlich zufrieden seien, und amüsiere sich über die irritierten Antworten«, berichtet Klonovsky im April in seinem Internet-Tagebuch »Acta diurna«.
2014 fällt die Antwort prominenter deutscher Publizisten und Historiker auf Friedrichs Frage jedoch kaum irritiert, sondern bemerkenswert eindeutig aus. Sie sind, wie einige symptomatische Wortmeldungen im laufenden »Supergedenkjahr« zeigen, mehr als unzufrieden mit dem Resultat des Ersten Weltkriegs. Die außenpolitische Rolle Deutschlands, so der Tenor, sei immer noch die eines Parias unter den europäischen Nationen. Der »Zahlmeister Europas« aber solle seine nationalen Interessen endlich offensiv verteidigen – ohne dass ranghohe Politiker dabei ständig an die deutsche Schuld an zwei Weltkriegen erinnern.
Die gegenwärtige Debatte über Ursachen und Konsequenzen des Ersten Weltkriegs macht die hinsichtlich der heutigen weltpolitischen Position Deutschlands gehegten Wünsche kenntlich. Tatsächlich wird kein wissenschaftlicher Disput über mitunter bloß imaginierte »Alleinschuldthesen« geführt. Aufgeführt wird eine nationale Identitätsdebatte, die vor dem Hintergrund der Euro-Krise vor allem auf eine Revision des offiziellen deutschen Geschichtsbildes zielt.
Spätestens seit Anfang des Jahres mehren sich, begleitet von den Bucherfolgen von Christopher Clarks »Die Schlafwandler« und Herfried Münklers »Der große Krieg«, deshalb die Einwände gegen ein Geschichtsbild, das in Deutschlands »Griff nach der Weltmacht« (Fritz Fischer) die Hauptursache des Ersten Weltkriegs ausmacht. Die 1961 erschienene Studie des 1999 verstorbenen Hamburger Historikers über den deutschen Drang zum »Platz an der Sonne« galt lange als kritisches Standardwerk. Fischer ist auch heute noch eine Reizfigur. Im Interview mit der Süddeutschen Zeitung erledigt der Berliner Politologe Münkler die bahnbrechende Untersuchung im Duktus professoraler Blasiertheit: »Fritz Fischers Methodik würde heute in keinem Proseminar mehr akzeptiert.«
Bemerkenswert ist neben dem Wiederaufleben der »Fischer-Kontroverse« auch die Polemik gegen die Stilisierung der europäischen Integration Deutschlands zum Friedensgaranten. Der »Zusammenhang zwischen deutscher Schuld und deutscher Schuldenmacherei«, wie Michael Klonovsky im Focus den neuesten deutschen Opfermythos auf den Punkt bringt, bewegt die Gemüter konservativer und liberaler Intellektueller. Geändert werden soll das Gebaren des Hegemons Europas, der angeblich außenpolitisch eine militärische »Kultur der Zurückhaltung« pflegt und bei staatsoffiziellen Gedenkritualen nicht ohne ein Schuldbekenntnis auskommt.

Die Stichwortgeber kommen zur rechten Zeit. Jörg Friedrichs »14/18. Der Weg nach Versailles« wird von der Verlagswerbung als der »kontroverse Beitrag zum 100. Jahrestag des Ersten Weltkriegs« beworben. Der auf medienwirksame Skandale abonnierte Historiker hat sich bereits 2002 in »Der Brand« als Meister im Spiel mit fragwürdigen historischen Analogien erwiesen. In seinem Buch über den alliierten Bombenkrieg gegen das nationalsozialistische Deutschland wurden die Keller brennender deutscher Häuser kurzerhand zu »Krematorien«: Dresden hie, Auschwitz da. 2014 werden in der Retrospektive auf den Ersten Weltkrieg den getöteten belgischen Zivilisten die deutschen Opfer der britischen Hungerblockade gegenübergestellt. Friedrich findet für seine Relativierung auch in diesem Gedenkjahr reichhaltiges Material.
Überraschend ist nicht, dass nach den Erfolgen von Clark und Münkler etablierte Geschichtsbilder einer erneuten Prüfung unterzogen werden. Die Revision alter Auffassungen gehört zur wissenschaftlichen Praxis. Bezeichnend ist dagegen, wie fortschrittliche Standards in der Geschichtswissenschaft entsorgt werden sollen. Pathetisch wird nicht nur von der Publizistin Cora Stephan ein »Paradigmenwechsel« ausgerufen. Dabei dokumentiert die Diskussion vor allem den Gebrauch der Geschichte zu handfesten politischen Zwecken. Besonders deutlich wird dies bei den Historikern Dominik Geppert, Sönke Neitzel und Thomas Weber, die Anfang des Jahres unter der Ägide von Cora Stephan in der Welt ein Manifest mit dem Titel »Der Beginn vieler Schrecken« veröffentlicht haben. Pointiert formuliert lautet die These: Die vorherrschende Anschauung, dass die europäische Integration und die Überwindung des Nationalstaats Garanten des Friedens seien, beruhe auf dem Schreckbild eines kriegslüsternen Deutschland.
Die drei Historiker und die Publizistin, die Ende Dezember 2013 in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) bereits einen ähnlich ausgerichteten Beitrag veröffentlicht hat, kennen den Hauptverursacher: »Erst der britische Kriegseintritt aber machte aus dem Ursprungskonflikt ein globales Desaster.« Die deutsche Führung sei vor Kriegsausbruch hingegen »getrieben von Abstiegsängsten und Einkreisungssorgen« und habe »das defensive Ziel« der »begrenzten Hegemonie auf dem europäischen Kontinent« verfolgt. Es sind Geschichtslegenden wie diese, gegen die Fritz Fischer und seine Mitstreiter jahrzehntelang angeschrieben haben. Auch damals war die vor allem in Zeit und Spiegel geführte Debatte kein rein wissenschaftlicher Streit, sondern ein politischer Kampf ums Geschichtsbild. In den Reihen konservativer Historiker, die sich bis heute noch als erhabene Zunft verstehen, galt die Kritik an den ideologischen Kontinuitäten der deutschen Eliten als zersetzend.
Die derzeitige Revision der Thesen von Fritz Fischer ist ein Rückfall auf den Stand der späten fünfziger Jahre. Auffällig ist die Ignoranz gegenüber den expansionistischen Denkschriften etwa des Alldeutschen Verbandes oder dem in der deutschen Gesellschaft jener Jahre tief verankerten Militarismus. Die Forschungen zum »deutschen Sonderweg« werden kaum beachtet. Im nationalen Debattentheater werden in der laufenden Saison zwei Stücke gleichzeitig aufgeführt: Während die von Fischer aufgeworfene Frage nach der deutschen Hauptverantwortung für den Ersten Weltkrieg endgültig als geradezu metaphysische Verirrung erledigt werden soll, richtet sich die Polemik von Stephan und anderen auch gegen den behaupteten »Schuldstolz« der Deutschen. Unterstützt durch die Selbstgeißelung führender Politiker, sei Deutschland aufgrund seiner Austeritätspolitik in der EU-Krise wieder auf die Anklagebank geraten. »Die erneute Isolation Deutschlands als des ewigen Schurken ist fatal«, schreibt Stephan in der NZZ. »Schuldstolz« ist inzwischen eine zentrale Kampfvokabel der Neuen Rechten, was Stephan, die den Begriff auch im Interview mit dem Deutschlandfunk verteidigt, nicht weiter stört. Auch die Klage über »Versailles« will sie nicht den Rechten überlassen: »Wenn der Euro als Fortsetzung von Versailles mit anderen Mitteln betrachtet wird, muss er scheitern.« Der Euro ist jedoch kein taugliches Symbol für die gefühlte deutsche Unterjochung. »Deutschland boomt in lahmender Eurozone«, lautete Mitte Mai eine Schlagzeile in der Süddeutschen Zeitung. Dass Deutschland sich auf Kosten der restlichen Eurozone saniert, soll man offenkundig noch nicht einmal denken dürfen.

Der obsessive Rekurs auf Versailles zeigt zudem, welches Geschichtsbild in Deutschland revidiert und wie die politische Rolle als Hegemonialmacht nun definiert werden soll. Der Exportvizeweltmeister Deutschland, der mit einer aggressiven Niedriglohnpolitik die europäischen Konkurrenten übervorteilt, wird aus dieser Sicht immer noch am Nasenring durch die Arena der Weltpolitik gezogen. Mag die international als »Madame Non« kritisierte Bundeskanzlerin Angela Merkel auch europaweit ihr Politikmodell brachial durchsetzen – Deutschlands larmoyante Intellektuelle wittern überall Nationalmasochismus. In den Worten Stephans: »Nur die Deutschen trennen sich ungern von der Rolle des schuldigen Schurken.«
Dabei war der Rekurs auf die deutsche Schuld schon 1999 im Krieg gegen Jugoslawien keineswegs Ausdruck einer deutschen »Kultur der Zurückhaltung«. Der ehemalige grüne Außenminister Joschka Fischer münzte die klassische Losung »Nie wieder Auschwitz!« in eine Rechtfertigung des Krieges um und konstruierte einen Gegensatz zwischen Antifaschismus und Antimilitarismus. Dass die besondere Verantwortung für die deutsche Geschichte geradezu zum Kriegseintritt mahne, war ein Grundmotiv rot-grüner Außenpolitik. Doch die Motive der Reden verändern sich je nach Anlass. Beispielsweise folgt, wenn an den Volkstrauertagen der Toten der beiden Weltkriege gedacht wird, das deutsche Rollenspiel einem anderen Drehbuch. Hier wird traditionell vor allem der deutschen Opfer gedacht. Für einen »Schuldkult« finden sich im Rahmen solcher Zeremonien nur wenige Indizien. Angesprochen ist dann die deutsche, nicht die internationale Öffentlichkeit. Die Verwechselung von Realität und Rhetorik ist deshalb nicht nur bei Stephan bemerkenswert.

Die Rede von der »historischen Schuld« soll ohnehin überwunden werden. Münkler macht dies im Interview mit der Süddeutschen Zeitung deutlich: »Es lässt sich kaum eine verantwortliche Politik in Europa betreiben, wenn man die Vorstellung hat: Wir sind an allem schuld gewesen.« Münkler karikiert die Mentalität der deutschen Außenpolitik: »Weil wir historisch schuldig sind, müssen, ja dürfen wir außenpolitisch nirgendwo mitmachen; also kaufen wir uns lieber frei, wenn es darum geht, Europa an den Krisenrändern zu stabilisieren.« Münkler betreibt hier mit dem Gestus des Geschichtswissenschaftlers schnöde Politikberatung.
Bereits unter Ex-Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) wurde die deutsche »Scheckbuchdiplomatie« gegeißelt. Politische Ressentiments dieser Art prägen die Diskussion über die Bestseller zum Ersten Weltkrieg. Dabei ist der Erfolg von Clarks »Die Schlafwandler« freilich auch seiner stilistischen Finesse geschuldet. Das Buch bietet keine akademische Fußnotenprosa, die das breite Publikum über beinahe 900 Seiten in den Schlaf wiegen würde. Clark ist ein Geschichtschronist, der seine Leser nicht mit dem Staub der Archive bedeckt. Übermächtig aber scheint bei einem Teil der deutschen Öffentlichkeit zugleich der Wunsch nach einem Geschichtenerzähler, der 100 Jahre danach endlich die Belege für den Freispruch Deutschlands bieten soll.
Auch der Kampf gegen das »Versailler Diktat« wütet noch im öffentlichen Bewusstsein. Michael Klonovsky erinnert deshalb im Focus daran, dass Le Figaro im Jahre 1992 den Maastricht-Vertrag als »Versailles ohne Krieg« bezeichnete. »Dieses ›Versailles‹ wurde noch überboten durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM«, heißt es nun bei Klonovsky. Wenn aber die »Schuld an La Grande Guerre nachträglich in Europa gerechter« verteilt würde, »nähme auch die moralische Erpressbarkeit Deutschlands ab und die Möglichkeit rationaler Interessenpolitik zu«. Zumindest geschichtspolitisch soll also eine europäische Lastenverteilung eingeführt werden – als moralpolitische Variante der Eurobonds.
Die bisherige Debatte hat eine fast tragikomische Pointe: Deutschland führt Europa zwar als »widerwilliger Hegemon« – so der Economist im Juni 2013 – an. Und dennoch herrscht im Land der »verfolgenden Unschuld« (Karl Kraus) mitunter ein Bewusstsein, als stünde die Nation wie Griechenland unter dem Protektorat der sogenannten Troika.
Was vorgeblich als Debatte über die Ursachen des Ersten Weltkriegs begann, mündet in die apologetische Ausrufung Deutschlands zum willigen Hegemon. Die Truppen für die künftige moralische Aufrüstung stehen schon bereit. Vorerst aber arbeiten deutsche Intellektuelle daran, die Geschichte des Ersten Weltkriegs in der beliebten Serie »Als der Weltkrieg Deutschland überfallen hat« (Hermann L. Gremliza) zur allgemeinen deutschen Zufriedenheit umzudeuten.